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Die Wut trifft jetzt Obama

Bei den heutigen Kongresswahlen in den USA wird auch über den Präsidenten abgestimmt / ND-Gespräch mit dem renommierten Marxisten Richard D. Wolff


Der 68-jährige marxistische Wirtschaftswissenschaftler und Publizist Richard D. Wolff lehrt seit zwei Jahren als Gastprofessor an der New School University in New York. Er ist Mitarbeiter der linken US-amerikanischen Zeitschrift »Monthly Review« und Autor des Buches »New Departures in Marxian Theory« (Neue Ansätze der marxistischen Theorie). Mit ihm sprach für das "Neue Deutschland" (ND) in New York Max Böhnel.

ND: Die Wirtschaftskrise wird Präsident Obama und den Demokraten angelastet, weshalb wohl die Republikaner bei den Wahlen besser abschneiden werden. Warum ist das so?

Wolff: Die Wirtschaftskrise ist seit 2008 das politische Grundproblem in den USA. Sie scheuchte schon Bush und die Republikaner aus dem Amt und verhalf Obama und den Demokraten zur Macht. Aber Obama war nicht in der Lage, ihrer Herr zu werden. Die Wut, die vor zwei Jahren den Republikanern entgegenschlug, trifft jetzt ihn und seine Demokraten. Nur, dass diese Wut jetzt noch größer und zwei Jahre älter ist. Das Zweiparteiensystem der USA lässt ihre Kanalisierung auf eine Partei nur in der Wahl der anderen zu.

Sie kennen etliche Wirtschaftsberater der Regierung persönlich. Wissen diese Leute um das Ausmaß der Krise?

Sie wissen Bescheid, natürlich auf der Grundlage der herrschenden Ideologie in den Wirtschaftswissenschaften. Leute wie Larry Summers oder Timothy Geithner sind ja selbst ein Produkt davon, entweder weil sie an den einschlägigen Instituten studiert haben oder informell durch die Lektüre von Mainstream-Medien. Sie wissen auch, dass die Krise tiefgreifend ist, lange anhalten und nicht innerhalb der nächsten Jahre zu beenden sein wird.

Das wird der Bevölkerung und den Wählern so aber überhaupt nicht vermittelt.

Das Problem der Demokraten ist ein altes. Sie haben zwei Grundpfeiler: Da ist zum einen die alte »New Deal«-Koalition, bestehend aus Gewerkschaften, ethnischen Minderheiten wie Latinos und Afroamerikanern sowie den Intellektuellen. Der zweite Grundpfeiler besteht aus den Millionensummen, die Firmen und Reiche spenden. Um Wahlen zu gewinnen, müssen die Demokraten sowohl ihre traditionelle Finanzbasis wie ihre traditionelle Wählerbasis maximal mobilisieren. Darüber hinaus muss eine Mehrheit der 10 bis 15 Prozent der Unentschlossenen, der Wechselwähler und der Parteilosen an den Wahlurnen auf die Seite der Partei gezogen werden. Das lässt sich aber nur mit viel Geld bewerkstelligen, das in Fernseh- und Radiowerbung und alle möglichen Formen von bezahlter politischer Arbeit gesteckt wird.

Und die Partei zu einem Spagat zwingt.

Um die Bedürfnisse der reichen Wahlkampfspender, die bei den letzten Wahlen vorwiegend auf Seiten Obamas und der Demokraten standen, halbwegs zu erfüllen, konnte man den Interessen der Normalwähler, deren Probleme Arbeitslosigkeit und Zwangsenteignungen sind, nicht nachkommen. Den Interessen etwa der Banker wurde Vorrang eingeräumt – in der Hoffnung, man würde wieder viel Geld bekommen, um den kommenden Wahlkampf bezahlen und erfolgreich bestehen zu können. Die Ironie der Geschichte ist: Etliche Firmen, Reiche und Superreiche haben verärgert über Obamas Rhetorik die Seiten gewechselt und spenden jetzt mehr Geld an die Republikaner – momentan also keine gute Ausgangslage für ihn und die Demokraten. Obamas politische Massenbasis zeigt wenig oder kein Interesse, und er hat zu wenig Geld eingenommen.

Es sind doch aber auch die Gewerkschaften, die massiv Geld an die Demokraten spenden. Wie passen sie in dieses Bild?

Einst versorgten die Gewerkschaften die Demokraten mit viel Geld und, noch wichtiger, organisierten Wahlhelfer im ganzen Land. Aber früher waren auch bis zu 35 Prozent der Lohnabhängigen Mitglieder, heute bewegt sich die Zahl bei mageren acht bis neun Prozent. Im Privatsektor sind es sogar nur fünf bis sechs Prozent. Die Gewerkschaften können heute nicht mehr das leisten, worauf die Demokraten früher zählen konnten. Da gingen Gewerkschafter von Haus zu Haus und machten Werbung für die Partei. Heute muss das aufgrund ihrer Mitgliederschwäche über Fernsehen, Radio und Internet erfolgen, mittels teuer bezahlter Werbung. Letztlich schrumpft die Bedeutung der Gewerkschaften für die Demokraten von Wahljahr zu Wahljahr, sowohl als Finanziers als auch als Wählerpotenzial. Die Gewerkschaften unterstützten Präsident Obama sehr enthusiastisch – und sie hatten eine große Forderung an ihn, ein Gesetz zur Organisationsfreiheit. Doch die ist bis heute nicht erfüllt. Das zeigt, wie unabhängig ein Demokrat heute von den Gewerkschaften agieren kann.

Wie sehen Sie die nächsten Jahre in den USA?

Mein Verdacht ist, dass die Obama-Strategen einen Wahlsieg der Republikaner heute wahrscheinlich für gar nicht so schlimm halten. Denn jetzt wird den Demokraten die Wirtschaftskrise angekreidet, weil sie an der Macht sind und sich auf sie die Hoffnungen konzentrierten. Es ist schon absurd, dass wir in den USA alles der Regierung anlasten, selbst wenn es noch so offensichtlich ist, dass die Leute ein Problem mit den Konzernen haben, etwa was die Arbeitslosigkeit angeht. Aber das muss man hierzulande leider immer wieder erklären. Instinktiv geht die Öffentlichkeit auf Politiker los, wenn die Arbeitslosenzahl ansteigt. Für die Kapitalisten ist das natürlich ein wunderbares Ablenkungsmanöver. Kurzum: Obama wird nach den Wahlen, wenn die oppositionellen Republikaner Sitze dazugewonnen haben, sogar besser positioniert sein. Er wird bei den Präsidentschaftswahlen in zwei Jahren für eine zweite Amtszeit kandidieren und behaupten können, dass seine wundervollen Programme, die die Wirtschaftskrise hätten beenden können, von den am 2. November gewählten Republikanern torpediert wurden. Damit werden die Demokraten und Obama in den kommenden beiden Jahren besser Wahlkampf machen können und besser abschneiden als dieses Jahr.

* Aus: Neues Deutschland, 2. November 2010


Kontrolle und Macht auf dem Kapitol

Nie war ein Kongress-Wahlkampf so teuer

Von Olaf Standke **


Am heutigen Dienstag (2. Nov.) werden in den USA große Teile des Kongresses und in 37 der 50 Bundesstaaten die Gouverneure neu bestimmt. Quer durch das Land müssen die Wähler zudem über die Zusammensetzung von Regionalparlamenten sowie Bezirks- und Stadtversammlungen, über die Verteilung von öffentlichen Ämtern wie Bürgermeister, Richter, Staatsanwälte und in Volksabstimmungen über eine Vielzahl von Initiativen entscheiden – von der Marihuana-Zulassung über Limonadesteuern bis hin zu Etateinsparungen.

In einem Punkt hat das heutige Votum schon Geschichte geschrieben: Es war der teuerste Kongress-Wahlkampf in der USA-Geschichte. Zwei Milliarden Dollar (1,4 Mrd. Euro) werden die Kandidaten für das Abgeordnetenhaus und den Senat in diesem Jahr für ihre Kampagnen ausgegeben haben, rechnete die »Washington Post« vor. Das sind vier Millionen Dollar für jeden zur Wahl stehenden Sitz im Parlament und fast so viel, wie der Demokrat Barack Obama und der Republikaner John McCain 2008 zusammen für den teuersten Präsidentschaftswahlkampf aller Zeiten ausgegeben haben.

Die meisten Spenden flossen dieses Mal in die Kassen der Republikaner. Zusätzlich pumpten auch Interessengruppen Riesenmengen an Geld in den Wahlkampf, wie die »Washington Post« schrieb – überwiegend zugunsten der Konservativen. Die Zeitung geht von über 400 Millionen Dollar aus. Aber schließlich gehe es ja auch um die Kontrolle in beiden Kammern – also um Machtfragen.

Heute stehen alle 435 Sitze im Repräsentantenhaus und 37 der 100 Sitze im Senat zur Wahl. Alle zwei Jahre wird etwa ein Drittel der auf sechs Jahre gewählten Senatoren neu bestimmt. Jeder der 50 Bundesstaaten stellt zwei, damit auch kleinere Staaten ein gleichrangiges Gewicht in Washington besitzen. Im Repräsentantenhaus sind alle Bundesstaaten gemäß ihrer Bevölkerungszahl vertreten. So verfügt Kalifornien als bevölkerungsreichster Staat über 53 Sitze, eine Reihe von Staaten wie Delaware, Montana oder Wyoming hingegen nur über einen Sitz.

Gegenwärtig gehören 57 Senatoren der Demokratischen Partei von Präsident Obama an, 41 sind oppositionelle Republikaner, zwei weitere Unabhängige, die in der Regel mit den Demokraten stimmen. Im Repräsentantenhaus gewannen die Demokraten bei der letzten Wahl 256 Sitze, die Republikaner kamen auf 179 Abgeordnete. Inzwischen sind zwei Sitze vakant.

Der Kongress mit Sitz auf dem Kapitol in Washington ist gemäß Artikel I der US-amerikanischen Verfassung zuständig für die Gesetzgebung, den Haushalt sowie die Kontrolle von Präsident und Regierung. Gesetzesvorlagen werden in den Ausschüssen beider Kammern beraten und bedürfen der Zustimmung in beiden Häusern. Bei gegensätzlichen Auffassungen muss ein Kompromiss im gemeinsamen Vermittlungsausschuss gefunden werden. Im Repräsentantenhaus reicht eine einfache Mehrheit zur Verabschiedung von Gesetzen. Im Senat sind in der Regel 60 von 100 Stimmen nötig. Mit einer Sperrminorität von 41 Sitzen kann eine Minderheit ein Gesetz also blockieren – dies brachte mehrere von Obamas Initiativen zu Fall, etwa die Vorlage für ein Klimaschutzgesetz.

Bundesbehörden werden daraufhin überprüft, wie sie die Gesetze umsetzen. Jeder Kongressausschuss kann als Untersuchungsausschuss eingesetzt werden. Der Senat muss zudem bei der Besetzung von Regierungs- und anderen Bundesämtern die vom Präsidenten vorgeschlagenen Kandidaten genehmigen. Die starke Machtstellung des Präsidenten im US-amerikanischen System kann der Kongress durch sein Recht der Haushaltsberatung und -beschlussfassung einschränken. Nach der Verfassung kann auch nur das Parlament einen Krieg erklären, obwohl der Präsident Oberbefehlshaber der Streitkräfte ist. Der Präsident seinerseits kann Gesetzesvorhaben des Kongresses mit einem Veto aufhalten – dieses Machtinstrument dürfte wichtig werden, sollten die Republikaner die Mehrheit im Kongress gewinnen.

Vergleichbar mit dem Ministerpräsidenten eines deutschen Bundeslandes sind schließlich die Gouverneure in den 37 Bundesstaaten, die heute gewählt werden. Derzeit werden 26 Staaten von Demokraten regiert und 23 von Republikanern, in Florida führt ein parteiunabhängiger Exrepublikaner die Geschäfte. In den Bundesstaaten und Gebieten wie Puerto Rico oder Guam werden die Gouverneure in der Regel für vier Jahre gewählt, Ausnahmen sind New Hampshire und Vermont, die nur eine zweijährige Amtsperiode kennen.

Aktiv wahlberechtigt sind heute US-Amerikaner, die mindestens 18 Jahre alt sein müssen und sich zuvor in Wählerlisten eintragen ließen.

Letzte Umfragen

Bei den Kongresswahlen droht der Demokratischen Partei von Präsident Barack Obama letzten Umfragen zufolge eine historische Niederlage. Demnach planen 55 Prozent der Wähler, für die Republikaner zu stimmen, teilte das Meinungsforschungsinstitut Gallup am Sonntagabend (Ortszeit) mit. Die Demokraten kämen bei den Wahlen nur auf 40 Prozent der Stimmen. Damit lägen die Konservativen 15 Punkte vor der Obama-Partei. Einen ähnlich großen Vorsprung habe es zuletzt vor 36 Jahren gegeben, als die Republikaner im Zuge des Watergate-Skandals um den damaligen Präsidenten Richard Nixon abgestraft worden waren, schreibt »USA Today«.

Auch andere Befragungen sehen die Republikaner vorn, allerdings etwas knapper. So rechnet das Pew Research Center mit einem Vorteil von 48 zu 42 Prozent für die Konservativen. Den Zahlen zufolge kann die Oppositionspartei vor allem im Abgeordnetenhaus auf einen Erdrutschsieg hoffen. Den Gallup-Forschern zufolge könnten sie dort sogar 60 oder mehr Sitze hinzugewinnen.

Umkämpfter ist der Senat, in dem die Demokraten eine knappe Mehrheit behalten könnten. Von 51 dafür benötigten Sitzen scheinen ihnen bereits 48 sicher. (dpa/ND)



** Aus: Neues Deutschland, 2. November 2010


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