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"Change" war heiße Luft

Jahresrückblick 2013. Heute: USA. Der »amerikanische Traum« ist für die meisten ausgeträumt. Entgegen den offiziellen Statistiken verschlechtern sich die Lebensbedingungen

Von Rainer Rupp *

Der Kern des »amerikanischen Traums« bestand in der Durchlässigkeit der US-Gesellschaft. Jeder, und sei er auch von noch so bescheidener Herkunft, sollte am Ende mit harter Arbeit reich werden können. Es sei dieser Traum gewesen, der die amerikanischen Bürger in all den Jahrzehnten davon abgehalten hat, sich gegen die korrupten Konzerne und Politiker aufzulehnen, meinte der US-Filmemacher Michael Moore vor genau zehn Jahren. »Bitte den reichen Mann nicht angreifen, denn eines Tages könnte ich das sein« war das Motto.

Es gilt nicht mehr. Noch nie in der Geschichte der USA ist der »gemeine« Amerikaner derart von den Konzernen und den von ihnen bezahlten und kontrollierten Politikern geschröpft worden wie in den letzten Jahren. Und noch nie sah die Zukunft für die große Masse der Amerikaner so trostlos aus wie heute. Laut verschiedener Studien sind die Strukturen in der US-­Gesellschaft nahezu undurchlässig geworden. Selbst ein guter Universitätsabschluß bedeutet längst kein gutes Einkommen mehr. Nicht einmal mehr ein materiell abgesichertes Dasein, im Gegenteil. In den meisten Fällen ist ein Studium für jemand aus den unteren Schichten heute gleichbedeutend mit Schulden, je nach Fachrichtung bis zu 100000 Dollar wie beim Medizinstudium, die zur Finanzierung aufgenommen werden müssen. Weitere Untersuchungen haben gezeigt, daß viele dieser Akademiker ihre Schulden Jahrzehnte und manche bis zu ihrem Lebensende mit sich herumschleppen.

Zugleich belegen die in diesem Jahr veröffentlichten Ergebnisse des jüngsten Zensus eine erschütternde Schieflage in der Einkommens- und Vermögensverteilung im Land der »unbegrenzten Möglichkeiten«: Die unteren 50 Prozent der US-Bevölkerung, also über 180 Millionen Menschen müssen sich ganze 1,1 Prozent des US-amerikanischen Vermögens teilen. Die nächste Gruppe von 50 bis 90 Prozent der US-Bevölkerung, d.h. die zunehmend verarmende US-Mittelschicht von 144 Millionen Menschen, verfügt nur noch über 24,3 Prozent des »Kuchens«. Die dritte Gruppe von 90 bis 99 Prozent der Bevölkerung umfaßt die 32 Millionen Besserverdiener, die 40 Prozent des Volksvermögens ihr Eigentum nennen und die 3,6 Millionen der superreichen US-Amerikaner, die das oberste eine Prozent ausmachen, sitzen auf über 34,5 Prozent des US-Vermögens.

Die Einkommensverteilung in den USA ist heute ungerechter als aktuell in Ägypten, in Tunesien oder Jemen. Kein Wunder, daß in einer Umfrage Anfang Dezember 64 Prozent der US-Amerikaner den »amerikanischen Traum« für tot erklärt haben. Wenn aber der Traum von einem besseren Leben für zwei Drittel der US-Bürger gestorben ist, bedeutet das auch, daß sie in Zukunft eher bereit sind, sich gegen die korrupten Konzerne und deren Politiker aufzulehnen? Die Entstehung zweier, gegen die etablierte Politik und die Großbanken gerichteten Graswurzelbewegungen in der US-Bevölkerung, sowohl die sogenannte Tea-Party auf konservativer Seite als auch die sozialdemokratisch-liberale »Occupy Wallstreet« bzw. »Die 99 Prozent gegen 1 Prozent«-Bewegung, deutet darauf hin, daß es an der Basis zu rumoren angefangen hat.

Zugleich bestätigten Umfragen, daß die US-Politiker und die politischen Institutionen bei der Masse der Bevölkerung rapide an Glaubwürdigkeit und Vertrauen verloren haben. Derzeit glauben nur noch zwei von zehn Amerikanern an den US-Kongreß. Laut einem Los-Angeles-Times-Bericht vom 8. Oktober dieses Jahres hätten 53 Prozent der Amerikaner sogar lieber Hämorrhoiden als den US-Kongreß einen Tag länger zu erdulden. Nur 41 Prozent der Befragten zogen die sogenannten Volksvertreter der schmerzhaften Krankheit vor.

Tief verunsichert

Die Unfähigkeit rechtskonservativer Politiker im Kongreß einerseits und der Obama-Administration andererseits, das Haushaltsproblem in den Griff zu bekommen, was schließlich im Herbst dieses Jahres zu einer fast dreiwöchigen Schließung der meisten Bundesbehörden führte, hatte eine weitere tiefe Verunsicherung vieler Menschen über die Zukunft der US-Wirtschaft und Gesellschaft zur Folge.

Folgt man den offiziellen Statistiken und den begleitenden blumigen Erklärungen, dann geht es der US-Wirtschaft gut, die Arbeitslosenzahlen sinken, die Einkommen wachsen und die Inflation ist so gut wie nicht vorhanden. Tatsächlich aber erfährt der Großteil der US-Bürger die Realität gerade umgekehrt: die Löhne und Gehälter sinken, weil immer mehr gut bezahlte Ganztagsjobs verschwinden. Zugleich verfälschen die höheren Zahlen neuer aber schlecht bezahlter Halbtagsbeschäftigungen die Arbeitsstatistiken. Auch die Inflation ist niedrig, wenn man die Verbilligung von einst teurer Konsumelektronik mit einberechnet. Bei Mieten, Lebensmittel und Energie sind dagegen die Preise stark gestiegen. Für Letzteres aber geben die unteren 60 Prozent der US-Bevökerung fast ihr gesamtes Haushaltsgeld aus, das in vielen Fällen durch Lohnkürzungen zusätzlich geschrumpft ist. Umso mehr ist in diesen Bevölkerungsschichten der Groll auf Banken und andere Geldhäuser gewachsen, deren gigantische Betrugsmanöver bis heute so gut wie nicht geahndet wurden und die weiterhin fast kostenloses Geld von der US-Notenbank in unbegrenztem Ausmaß bekommen.

Verraten und verkauft

Selbst die meisten eingefleischten Demokraten fühlen sich inzwischen von »ihrem« Präsidenten Barack Obama verraten und verkauft. Seine viel propagierten Veränderungen (»Change«) haben sich inzwischen als heiße Luft erwiesen. Die einzige Veränderung in Washington war er selbst als erster farbiger US-Präsident. Allerdings haben ihm viele bis zuletzt noch zugute gehalten, daß er die erste allgemeine Krankenversicherung (inzwischen als »Obamacare« bekannt) durchgesetzt hat. Dadurch sollten angeblich bis zu 50 Millionen Amerikaner versichert werden, die sich das bisher nicht leisten konnten.

Allerdings hat sich der Anfang Oktober 2013 als Medienspektakel inszenierte Startschuß für Obamacare als gigantischer Flop erwiesen. Hauptverantwortlich dafür ist eine für die USA typische Form der Korruption. Die offensichtlich hoffnungslos überforderten Firmen, die mit dem Aufbau der Strukturen von Obamacare und deren reibungslosem Funktionieren betraut waren, konnten alle die gleiche, alles übertreffende Kompetenz vorweisen: Sie hatten sich als großzügige Wahlkampfspender für Obama hervorgetan. Inzwischen ist Obamacare ganz ohne Zutun der Republikaner hoffnungslos desavouiert, und das sozialpolitische Jahrhundertprojekt droht zu ersticken, bevor es noch den Kinderschuhen entwachsen ist.

Mit einiger Verzögerung macht Präsident Obama nun auch der bereits im Sommer durch den »Wistleblower« Edward Snowden ans Licht gekommene Skandal um die illegalen NSA-Abhörpraktiken zu schaffen. Die Reaktion der US-Öffentlichkeit war zunächst verhalten, ging sie doch davon aus, daß nur Ausländer das Ziel waren. Auch als bekannt wurde, daß die NSA systematisch und massenhaft die Kommunikationsdaten so gut wie aller US-Bürger sammelt, gelang es Obama mit Hilfe des Schreckgespenstes »Terrorismusgefahr« die Wogen zu glätten.

Inzwischen aber prasselt nicht nur aus dem Ausland massive Kritik auf die NSA und Obama ein, sondern auch aus dem Inland, von US-Menschenrechtsorganisationen, von namhaften US-Kongreßmitgliedern, von einem US-Bundesrichter mit einem bahnbrechenden Urteil, das die Obama-Administration des Verfassungsbruchs beschuldigt, und nicht zuletzt von den einst fleißigen Helfern der NSA, nämlich von den großen US-IT-Konzernen wie Google, Cisco, IMB, und so weiter.

Mit Hilfe von Hintertüren in ihrer Software hatten diese Konzerne der NSA weltweit Zugang zu all jenen Computern verschafft, die ihre Programme benutzten. Nach Bekanntwerden des Skandals ist der Absatz dieser Firmen im Ausland massiv eingebrochen. In China z.B. büßten einige dieser Firmen allein im dritten Quartal 2013 bis zu einem Drittel ihres Umsatzes ein. Nun machen die Konzernchefs Druck auf Obama, die NSA an die Leine zu legen, in der wahrscheinlich vergeblichen Hoffnung, das verlorene Vertrauen des Auslands wieder zu gewinnen.

* Aus: junge Welt, Freitag, 27. Dezember 2013


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