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Enttäuschte Hoffnungen

Jahresrückblick 2014 USA: Nach den jüngsten Morden weißer Polizisten an Schwarzen wird deutlich, dass Präsident Obama keine Strategie gegen Rassismus hat

Von Jürgen Heiser

Als sich 2014 die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen in den USA mehr und mehr um rassistische Polizeigewalt mit jährlich Hunderten Toten drehten, geriet auch der erste afroamerikanische Präsident in der Geschichte des Landes in den Fokus. Selbst hiesige Konzernmedien reagierten verwundert, dass Barack Obama erst mehrere Monate nach den tödlichen Schüssen eines weißen Polizisten auf den unbewaffneten schwarzen Teenager Michael Brown aus Ferguson, Missouri, und dem durch Polizisten verursachten Erstickungstod des Familienvaters Eric Garner in New York eine klare Position bezog.

Zur besten Sendezeit strahlte Black Entertainment Television (BET), der Kanal, der in 80 Prozent aller afroamerikanischen Haushalte empfangen wird, am 8. Dezember ein Interview aus, in dem sich Obama erstmals und ausschließlich zu der Thematik befragen ließ. Die halbstündige Sendung zielte auf Obamas größte Wählergruppe, in der vor allem das Widerstandspotential der jungen Generation seit Browns Ermordung kontinuierlich gewachsen war.

Mit seiner Aussage, der Rassismus sei »tief verwurzelt in unserer Gesellschaft, tief verwurzelt in unserer Geschichte«, erzählte Obama jungen Schwarzen nichts Neues. Er ließ aber als schwarzer Präsident im sechsten Jahr seiner Amtszeit endlich erkennen, dass er ihre Alltagserfahrung wahrnahm. Sogleich mahnte er sein Publikum jedoch wieder zur Duldsamkeit. »Dieses Problem lässt sich nicht über Nacht lösen«, meinte der angeblich »mächtigste Mann der Welt«.

Keine Veränderungen

Obamas schwarze Wählerschaft wartete schon lange darauf, dass sich unter seiner Präsidentschaft endlich etwas zum Besseren ändern würde. Hatte er doch in seiner Antrittsrede der ersten Amtszeit angesprochen, was es bis dato in der US-Geschichte noch nie gegeben hatte: einen schwarzen Präsidenten, »dessen Vater vor weniger als 60 Jahren noch nicht einmal in einem örtlichen Restaurant bedient worden wäre«.

Zwar hatte er in dieser Rede das Problem des »Rassismus« nicht weiter benannt. Aber die Mehrheit der afroamerikanischen Bevölkerung, die ihn gewählt hatte, verband damals mit Obamas Sieg die unbändige Hoffnung, dass sich nun ihre von rassistischer Ungleichheit und Unterdrückung geprägte Lage Schritt für Schritt ändern ließe. So jedenfalls hatten sie den Wahlkampfslogan »Yes, we can!« verstanden.

Der Rassismus war kein Phänomen der Vergangenheit, daran änderte auch die Existenz der kleinen schwarzen Mittelschicht nichts, der Obama entstammte. Keine zwei Wochen nach seinem Wahlsieg vermeldete AFP ein »Anwachsen rassistischer Vorfälle«. Springers Welt zitierte dazu entschuldigend die Meinung von »Experten«, wonach die Weißen »in einer Identitätskrise« steckten. Für einige sei Obama sogar der Leibhaftige, »der Antichrist«. Weiße Schüler in einem Schulbus in Idaho und Anhänger in einer Veranstaltung der republikanischen Vizekandidatin Sarah Palin skandierten unverhohlen »Tötet Obama!« In Kalifornien schmierten Rassisten Hakenkreuze und »Geht zurück nach Afrika« auf Hauswände in schwarzen Stadtvierteln.

Doch für den frisch gewählten Obama war dieser seit der Sklaverei in unterschiedlichen Erscheinungsformen virulente Rassismus lange Zeit kein Thema. Viele seiner schwarzen Wähler wünschten sich über alle Enttäuschungen hinweg, er möge als »ihr« Präsident quasi die Reinkarnation des allseits verehrten Martin Luther King sein. Zu hoffen, der schwarze Chef im Weißen Haus werde irgendwann in ihrem Sinne handeln, half indes nichts.

Militarisierung im Inneren

Der Mann, der sich in seiner Rolle als Weltenordner gefiel, hatte ganz andere Baustellen. Er ließ Drohnen auf vorgebliche »Terroristen« in fernen Ländern abfeuern und dabei ungezählte Zivilisten töten. Wie konnte jemand annehmen, Obama würde vor seiner Haustür einem Polizeiapparat Einhalt gebieten, dessen verselbständigte und mit Militärwaffen ausgerüstete Soldateska im Grunde nichts anderes tat, als ungestraft Krieg gegen die Zivilbevölkerung zu führen – nur eben gegen die im eigenen Land? Für die, die noch an Obama glaubten und ihm zur zweiten Amtsperiode verhalfen, wartete er seit seinem erneuten Wahlsieg mit der Heilsbotschaft auf: »Egal, ob du schwarz oder weiß bist, Latino oder Asiat oder Indianer, jung oder alt, reich oder arm, gesund oder behindert, schwul oder hetero: Du kannst es hier in Amerika schaffen, wenn du nur willens bist, es zu versuchen.« Für viele seiner jüngeren schwarzen Landsleute war und ist es indes bis heute schon allein ein Wagnis zu versuchen, einfach nur den Alltag zu bewältigen und sich im eigenen Stadtviertel »normal« zu Fuß oder im Auto zu bewegen. Jederzeit müssen sie mit überfallartigen Polizeikontrollen rechnen, in denen sie herabgewürdigt, in aller Öffentlichkeit wie Schwerverbrecher gefilzt und immer wieder verprügelt werden. Und viele werden erschossen – weil sie schwarz sind. Zu all diesen Vorfällen kommt jedoch weder von Obama noch von seinem afroamerikanischen Justizminister Eric Holder ein mahnendes Wort. Noch viel weniger haben sie eine Strategie, wie dieser unhaltbare Zustand zu beenden wäre.

In diesem August schlug die schon zu lange erlittene Unterdrückung und Entwürdigung in eine rasch um sich greifende Wut um. Jedoch erst als Michael Brown von sechs Schüssen aus der Dienstwaffe eines weißen Polizisten ermordet und dadurch auch bekannt wurde, dass Eric Garner kurze Zeit zuvor im brutalen Würgegriff eines Polizisten erstickt war. Der Staat reagierte darauf mit der Entsendung schwerbewaffneter Sondereinheiten. Sie sollten die Proteste niederhalten.

Linke Traditionen

Viele empörte und verzweifelte Bürger der betroffenen Orte wandten sich daraufhin um Unterstützung nachsuchend an die Regierung. Aber Obama hielt sich weiter bedeckt. Als die großen Mobilisierungen zu landesweiten Aktionstagen im Herbst Hunderttausende auf die Straßen brachten, bemühte sich Obama schließlich um Schadensbegrenzung durch Gespräche mit etablierten Bürgerrechtlern, Priestern und Polizisten. Die Demonstranten waren nicht mehr nur empört, sondern organisierten sich und ließen erkennen, dass sie es mit ihrer Parole »Keine Gerechtigkeit – kein Friede!« ernst meinen.

Mitte Dezember führte Stuart Jeffries vom Guardian ein längeres Gespräch mit Angela Davis über diese Entwicklung. Die Kommunistin war selbst wegen ihres politischen Engagements Anfang der 1970er Jahre in Kalifornien als junge linke Professorin vom damaligen Gouverneur Ronald Reagan mit Berufsverbot belegt und schließlich ins Gefängnis geworfen worden. Davis sagte, sie sei in bezug auf die heutigen jungen Leute voller Hoffnung, da sie »hart im Nehmen« seien »und sich nicht von staatlichem Terror einschüchtern lassen«.

In Ferguson sei deutlich der Einfluss der Occupy-Bewegung zu erkennen, weil dort »nicht nur die Bestrafung des einen Polizisten gefordert, sondern die Verbindung zwischen rassistischer Gewalt und der kapitalistischen Profitmaschine« gesehen werde. »Genau dagegen kämpfen wir schließlich.«

Ob sie angesichts des strukturellen Rassismus in den USA und der staatlichen Gewaltakte gegen Afroamerikaner nicht enttäuscht sei vom Scheitern des ersten schwarzen Präsidenten der USA, hakte Jeffries nach. Davis antwortete, viele Leute machten Obama als Individuum persönlich für den Wahnsinn verantwortlich, der jetzt passiert. Natürlich hätte Obama als Person Dinge besser machen können, zum Beispiel das US-Militärgefängnis Guantánamo schließen. Aber, sagte Davis, es sei doch eher zu fragen, warum »wir nicht mehr Druck auf Obama ausgeübt und seine Regierung gezwungen haben, diese Themen anzugehen«. Leute, die bezüglich des Kampfs um eine bessere Zukunft ihre Hoffnung auf ihn gesetzt hätten, seien von vornherein auf dem Holzweg gewesen, »denn die Veränderung der Welt ist immer ein kollektiver Prozess«.

* Aus: junge Welt, Samstag, 17. Dezember 2014


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