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Etwa jedes vierte Kind lebt in prekären Verhältnissen - mehr als im Krisenjahr 2008

Von John Dyer, Boston *

Die Wirtschaft der USA brummt. Dennoch leben jetzt mehr Kinder in Armut als noch im Krisenjahr 2008. Besonders betroffen sind Kinder in afroamerikanischen und Latino-Familien.

Ashley Mostaghimi ist eine junge Lehrerin. Vor sieben Jahren kam sie aus North Carolina ins ländliche Mississippi und war erst einmal erschrocken. »Hier gibt es Kinder, die kommen zum Kindergarten oder in die Schule und haben noch niemals ein Buch in der Hand gehabt.« Nicht etwa aus Desinteresse. »Die Eltern sind zu arm, um eines zu kaufen. Und auf dem Land gibt es keine Bücherei«, sagte Ashley.

Die Zahl der aus Armut bücherlosen Kleinen ist in den vergangenen Jahren gestiegen - und mit ihnen die in Armut lebenden Kinder generell. 22 Prozent der US-amerikanischen Kinder lebten 2013 unter der Armutsgrenze. 2008, als die Wirtschaftskrise begann, waren es nur 18 Prozent. 2013 ist das letzte zur Gänze statistisch erfasste Jahr im jüngsten Armutsbericht der Annie E. Casey Stiftung, die sich seit 1948 um benachteiligte Kinder kümmert. Der Bericht wurde am Dienstag veröffentlicht.

Danach leben 18,7 Millionen Kinder in den USA in Armut, also etwa jedes vierte Kind. Ein Drittel der Kinder lebt in Familien, in denen keines der Elternteile Vollzeit arbeitet. In den USA gilt als Armutsgrenze das Einkommen einer vierköpfigen Familie von 23 624 Dollar (21 750 Euro) pro Jahr, gibt das US-Gesundheitsministerium an.

»Obwohl wir das Ende der Rezession schon vor einigen Jahren gesehen haben, so konnten doch Millionen Familien bisher nicht vom Wirtschaftsaufschwung profitieren«, sagt Patrick McCarthy, Vorsitzender der Stiftung. »Obwohl viele neue Arbeitsplätze in den vergangenen Jahren entstanden sind, so sind viele dieser Jobs unterbezahlt und reichen nicht für die Grundversorgung einer Familie aus.«

In dem Bericht liegt Mississippi auf Platz 50 der Liste mit den besten Lebensbedingungen für Kinder. Minnesota liegt auf Platz eins. Den Kindern in den Neuenglandstaaten im Nordosten der USA und anderen Bundesstaaten im Norden geht es weitaus besser als denen im Süden und im Südwesten wie in Arizona, New Mexico oder Nevada.

In Mississippi leben 34 Prozent der Kinder in Armut. In New Hampshire sind es nur zehn Prozent. In North Dakota sind 20 Prozent der Eltern arbeitslos, in Mississippi 39 Prozent. Und dort gehen zwölf Prozent der Jugendlichen lieber arbeiten als zur Schule, um etwas für die Familie dazu zu verdienen. In Nebraska sind das nur drei Prozent.

Die Autoren des Berichts räumen ein, dass sich seit 2013 der Arbeitsmarkt positiv entwickelt habe. 2013 lag die Arbeitslosenrate bei 7,5 Prozent, heute sind es 5,3 Prozent. Da aber gerade die Afroamerikaner und andere Minderheiten an diesem Aufschwung kaum teilgenommen haben, zeige auch das Statistikbild von 2013 ein Bild der heutigen Lage, meint die stellvertretende Stiftungsdirektorin Laura Speer. Statistiken könnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass »besonders Afroamerikaner, Latinos und Indianer am Abgrund der Armut leben«, so Speer.

Afroamerikanische Kinder haben eine doppelt so hohe Wahrscheinlichkeit, in einer verarmten Umgebung mit nur einem Elternteil aufzuwachsen, heißt es in dem Report. Indianerkinder haben eine doppelt so hohe »Chance«, ohne Krankenversicherung zu leben wie weiße Kinder. Bei den Latino-Kindern ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie in einem Haushalt aufwachsen, in dem keines der Eltern einen Schulabschluss hat.

Der Bericht empfiehlt Hilfsprogramme, staatliche wie private, um die Armutsprobleme zu lindern, von Krankenversorgung über Lebensmittelhilfe bis zu flexiblen Arbeitszeiten.

Ashley Mostaghimi ist mit ihrem Mann, auch Lehrer, zur Hilfe bereit. Im Herbst gehen sie nach Harvard, um ein konkretes Mississippi-Hilfsprojekt für Bildung zu erarbeiten.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 23. Juli 2015


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