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Ein-Prozent-Diktatur

Wissenschaftliche Studie: USA sind eine Oligarchie. US-Senator Sanders wollte von Fed-Chefin dazu eine Erklärung, bekam sie aber nicht

Von Rainer Rupp *

Die Frage hatte es in sich: »Sind die Vereinigten Staaten eine Oligarchie?«, wollte US-Senator Bernie Sanders von der neuen Chefin der US-Notenbank (Fed), Janet Yellen, im Joint Economic Committee des US-Kongresses am Mittwoch dieser Woche wissen. Yellen zeigte sich zwar »sehr besorgt«, daß die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich »die Fähigkeit der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen gleichberechtigt am demokratischen Prozeß teilzunehmen, beeinträchtigen« könnte, was »gravierende Auswirkungen auf die soziale Stabilität« hätte, aber das Wort Oligarchie nahm die Fed-Chefin nicht in den Mund.

Sanders bezog sich auf eine jüngst veröffentlichte, systematische Studie der Professoren Martin Gilens und Benjamin Page (von den Universitäten Princeton und Northwestern). Die waren zu diesem Schluß gekommen. Die Studie belege, »wie eine kleine Zahl von extrem reichen Leuten unsere Demokratie übernimmt«, so der Senator. Er folgerte daraus, daß Amerikas Selbstdarstellung als demokratische Gesellschaft nicht länger aufrechtzuerhalten sei, wenn die Politik von mächtigen Wirtschaftsorganisationen und einigen Superreichen bestimmt wird.

Im reichsten Land der Erde, fuhr der Senator aus dem Staat Vermont fort, sei in den letzten Jahren fast der gesamte Zuwachs an Vermögen und Einkommen an das oberste eine Prozent gegangen. Das habe das Land im Vergleich zu allen anderen wichtigen Staaten an die Spitze der Ungleichheit der Verteilung von Vermögen und Einkommen katapultiert. Inzwischen sei die US-Mittelschicht am Verschwinden, und heute lebten »mehr Amerikaner in Armut als zu irgendeinem Zeitpunkt in der Geschichte unserer Nation«.

Hier sei auf die aktuelle Studie von »Feeding America« verwiesen, eine gemeinnützige Organisation mit dem größten Netzwerk von Suppenküchen und Tafeln in den USA. Demnach sind 49 Millionen US-Bürger, davon 16 Millionen Kinder, so arm, »daß ihr täglicher Bedarf an Lebensmitteln nicht gesichert ist«. Immer mehr Familien aus der Mittelschicht sind von diesem Los betroffen. »Es ist eine stille Epidemie des Hungers, von der die Menschen in den wohlhabenden Regionen des Landes nicht viel mitbekommen. Aber es ist die Realität«, so Feeding America.

Vor diesem Hintergrund sind die von Senator Sanders genannten Zahlen zur Konzentration des Reichtums in nur wenigen Händen geradezu obszön: Die reichsten 400 US-Amerikaner besitzen heute mehr Vermögen als die Hälfte der Bevölkerung – mehr als 150 Millionen Menschen. Ein Prozent der Bevölkerung verfügt über etwa 38 Prozent der gesamten Geldvermögen des Landes. Fast zwei Drittel der Bevölkerung besitzen nur 2,3 Prozent. Heute ist die Walton-Familie (Eigentümer von Wal-Mart und die reichste Sippe in den USA) – 148 Milliarden Dollar schwer und damit reicher als 40 Prozent aller US-Bürger zusammen. In den vergangenen zwölf Monaten stieg der Reichtum der Brüder Charles und David Koch um zwölf Milliarden Dollar auf derzeit 80 Milliarden an.

Im Zeitraum 2009 bis 2012 gingen 95 Prozent des zusätzlich geschaffenen Einkommens an das oberste eine Prozent. Derweil verdiente die typische Familie der Mittelschicht 2013 weniger als vor 25 Jahren – im Jahr 1989. Zugleich haben die USA die höchste Rate von Kinderarmut unter allen entwickelten Ländern der Erde. Knapp über ein Fünftel der Jüngsten sind betroffen.

Gilens und Page konnten empirisch nachweisen, was längst zum Repertoire eines jeden Linken gehört: »Wenn die Mehrheit der Bürger mit der wirtschaftlichen Elite und/oder deren organisierten Interessen (Lobbies) nicht einverstanden ist, ist sie in der Regel der Verlierer«, schrieben die Professoren in ihrer Zusammenfassung und ergänzten: »Auch wenn ziemlich große Mehrheiten der Amerikaner einen Politikwechsel wollen, bekommen sie ihn in der Regel nicht«. Letzteres ist eine Erfahrung, die auch weite Teile der deutschen Bevölkerung immer wieder machen, was auf ähnliche Strukturen wie in den USA hindeutet.

Auch die weiteren Ergebnisse der Studie lassen sich auf Deutschland anwenden: »Unsere Analysen zeigen, daß Amerikaner zwar viele Aspekte einer zentralen, demokratischen Regierungsform genießen, wie z.B. regelmäßige Wahlen, Meinungsfreiheit und Vereinigungsfreiheit, aber auf die Politik der Regierung haben sie so kaum Einfluß.« Die wird bestimmt von mächtigen Konzernen und »einer kleinen Zahl sehr reicher Leute«. Damit das so bleibt, hat der Obersten Gerichtshof der USA im Rahmen des »Citizens United«-Gesetzes jüngst erlaubt, daß die reichsten Leute und größten Unternehmen in Zukunft Politikern Geld in unbegrenzter Höhe »spenden« dürfen, um den politischen Prozeß zu beeinflussen. Der britische Autor Greg Palast hatte dies vor Jahren auf den Nenner gebracht: »Amerika, die beste Demokratie, die man für Geld kaufen kann.«

* Aus: junge Welt, Samstag, 10. Mai 2014

Zur Studie:

Testing Theories of American Politics: Elites, Interest Groups, and Average Citizens [externer Link]
Martin Gilens, Princeton University / Benjamin I. Page, Northwestern University




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