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Wandelnde Unvernunft

Hintergrund. Die Austeritätspolitik der USA läßt klare klassenpolitische Motive erkennen – der Streit um die Schuldenobergrenze nicht. Hier handeln die Tea-Party-Republikaner irrational wider ihre Interessen

Von Ingar Solty *

Eigentlich hätten die Medien dieser Tage wieder mit Seite-eins-Nachrichten und bangen Kommentaren zum US-Schuldenstreit und zur Sorge über eine Krisenvertiefung aufmachen müssen. Aber ein Kompromiß im US-amerikanischen Kongreß zwischen Republikanern und Demokraten, der weitere Sozialkürzungen vorsieht, verhinderte vorläufig eine Wiederholung des Staatspleite-Showdowns von 2011 und 2013. Vom Tisch ist die Auseinandersetzung damit aber nicht.

Die US-Staatsschuldendebatte ist Teil der austeritätspolitischen Wende in den entwickelten kapitalistischen Ländern. Diese erfolgte in etwa um die Zeit des Torontoer G-20-Gipfels vom Frühjahr 2010. Ungefähr zeitgleich begann die Troika, bestehend aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und dem Internationalen Währungsfonds, die »Memorandums of Understanding« mit Griechenland, Portugal und Irland auszuhandeln, was den Beginn der »EU-Staatsschuldenkrise« markierte. Der Übergang zur Austeritätspolitik ist die zweite Krisenphase. Die erste war durch eine Ausweitung des Staatsinterventionismus (Bankenrettung, Teilverstaatlichungen, Konjunkturprogramme) gekennzeichnet.

Die vorherrschende Behauptung zur Ursache der Krise lautet, daß die Staaten über ihre Verhältnisse gelebt hätten. In den USA nehmen Neoliberale die Verschuldung zum Anlaß, die Lage in Griechenland als US-Zukunft an die Wand zu malen, sollten die Vereinigten Staaten nicht schleunigst ihre Schulden abbauen. Denn wenn sie sich nicht mehr an den internationalen Finanzmärkten refinanzieren könnten, wo sollte dann so etwas wie der ESM-»Schutzschirm« für die USA herkommen? Mit einem Abbau der Staatsschulden sei das Vertrauen der internationalen Finanzinvestoren, die US-Staatsanleihen kaufen, wiederherzustellen.

Doch wie plausibel ist diese Erzählung? Und steht den USA tatsächlich ein Griechenland-Szenario bevor? Für Europa entpuppt sich diese These schnell als neoliberale Ideologie. Tatsächlich sank oder stagnierte nämlich in den mit der Bezeichnung »PIGS«- bzw. »PIIGS«-Staaten an den Pranger gestellten Ländern Portugal, Italien, Irland, Griechenland und Spanien die Staatsverschuldung gemessen in Prozent des Bruttoinlandsprodukts von Mitte der 1990er Jahre bis zum Vorabend der Krise. Umgekehrt hatte gerade die BRD, deren Regierung für sich reklamiert, sie habe in den frühen 2000er Jahren »ihre Hausaufgaben gemacht« (ein zynischer Euphemismus für Sozial­abbau und Armut per Gesetz qua Hartz IV), in Wirklichkeit in dieser Zeit eine steigende Kreditaufnahme zu verzeichnen.

In den USA lag die Verschuldung 1944/45, also in der Zeit ihrer umfassendsten Beteiligung am Zweiten Weltkrieg, noch höher als in allen »PIIGS«-Ländern am Vorabend der Krise: bei 110 Prozent. Die Konjunktur des Nachkriegsfordismus ließ sie kontinuierlich zwischen 1945 und Mitte der 1970er Jahre auf etwa 25 Prozent sinken. Infolge der Krise des Fordismus um die Mitte der 1970er Jahre stagnierte die US-Staatsverschuldung auf diesem niedrigen Niveau. Mit dem Übergang zum Reagan-Bush-Neoliberalismus nach 1980 verdoppelte sie sich auf knapp 50 Prozent. Unter Clinton, der kurzzeitig, nämlich während des »New-Economy-Booms«, einen ausgeglichenen Staatshaushalt vorlegte, sank sie wieder auf 35 Prozent. Am Vorabend der Krise lagen die US-Verbindlichkeiten schließlich bei 41 Prozent. Erst hiernach ist ein rapider Anstieg über 61 im Jahr 2010 auf 73 Prozent Mitte Dezember 2013 festzustellen.

Diese Schuldenexplosion in kürzester Zeit ist bemerkenswert. Sie kann in allen entwickelten kapitalistischen Ländern festgestellt werden. Vom Vorabend der Krise 2007 stieg die Staatsverschuldung laut der offiziellen EU-Statistikbehörde Eurostat im Euro-Zonen-Durchschnitt von 66,4 auf 90,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts 2012. Der plötzliche und rapide Anstieg ist also nicht Ursache, sondern Folge der Krise und ihrer Bearbeitung.

Klassenkampf von oben

In den USA ist die Steigerung der Staatsverschuldung das Ergebnis einer doppelten Ausplünderung der Arbeiterklasse durch die Kapitalisten: erst in der Sphäre der Produktion und dann in der Sphäre der Distribution. Das hat zu einer starken Erholung der Profitraten des Kapitals bis unmittelbar vor Krisenbeginn geführt und vor diesem Hintergrund auch zu einer enormen sozialen Ungleichheit in der Einkommens- und Vermögensverteilung, die nicht zufällig zuletzt am Vorabend der Great Depression in den 30er Jahren so dramatisch war. So besaß 2007 das oberste »eine Prozent« 34,6 Prozent des US-Gesamtvermögens, das oberste Fünftel verfügte über 85 Prozent. In der Krise erhöhte sich der Anteil weiter auf 37,1 bzw. auf 87,7 Prozent.

Für die steigende Staatsverschuldung in der neoliberalen Ära sind vor allem fünf Ursachen zu nennen: 1. die Schwächung der Gewerkschaften und die drastische Ausweitung des Niedriglohnsektors und damit das zunehmende Verschwinden sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse; 2. »Corporate Welfare«, d.h. die Konkurrenz verschiedener Staatsebenen – national, regional, lokal – um Investitionen von Kapital, das mit einer Mischung aus öffentlichen Subventionen und Steuersenkungen angelockt wird; 3. die von Obama im Schuldenstreit noch einmal bestätigten Steuersenkungen für die Reichen, die George W. Bush bereits 2001 und 2003 vorgenommen hatte, und deren Kosten sich auf 1,36 Billionen US-Dollar belaufen; 4. der »Workfare-Staat« und seine Praxis der »Kombi«- und Aufstockerlöhne, die es den Unternehmen erlaubt, das Lohnniveau unter das »moral-ökonomische« Existenzminimum zu drücken sowie 5. der westliche »Krieg gegen den Terror«, d. h. die zunehmende gewaltförmige Durchsetzung der Globalisierung des Kapitalismus, dessen Kosten für die USA heute auf 4,6 Billionen US-Dollar beziffert werden.

Das weitere Ausufern der Verschuldung infolge der Krise resultiert nun aus einer Mixtur aus drei weiteren, spezifisch krisenbedingten Prozessen. Dazu gehört, daß zunächst mit dem hohen Anstieg der Massenarbeitslosigkeit starke Steuerausfälle ins Kontor schlugen. Des weiteren wurden mit der staatlichen Rettung der »systemrelevanten« Banken deren Schulden dem Steuerzahler aufgebürdet. Und schließlich hat sich die allgemeine neoliberale Entwicklung in der Krise verschärft: Da sind zum einen die Zugeständnisse zu nennen, die die kriselnden Gewerkschaften im autoritären Krisenkorporatismus sowohl im Privat- als auch im öffentlichen Sektor gemacht haben. In der Automobilindustrie wurden beispielsweise die Löhne Neueingestellter halbiert. Zum anderen ist der rasche Schwund von Arbeitsplätzen im Hoch- und Mittellohnsektor und die Zunahme von prekären Niedriglohnjobs zu konstatieren. So sind laut Wall Street Journal 58 Prozent aller in der Krise neu geschaffenen Jobs in letzterem angesiedelt. Kurzum, ebenso wie in Europa ist die Staatsverschuldung nicht auf »gierige Gewerkschafter« zurückzuführen, sondern auf den fast 30jährigen Klassenkampf von oben.

Nun bleibt die Frage, ob Staaten nicht theoretisch so haushalten könnten wie die von Angela Merkel mehrfach bemühte »schwäbische Hausfrau«. Hier ist nicht der Platz, um auszuführen, warum Staaten grundsätzlich auf Schuldenfinanzierung angewiesen sind und nicht wie Privathaushalte funktionieren. Wichtiger ist die Frage, in wessen Interesse erfolgt das überhaupt? Grundsätzlich gilt: Wo ein Schuldner, da auch ein Gläubiger. (Staats-)Schulden sind ein soziales Verhältnis. Davon profitieren freilich die globalen Vermögensbesitzer zu Lasten der Allgemeinbevölkerung, denn ein substantieller Teil der Steuergelder wird nicht für die Schuldentilgung, sondern für Zinszahlungen verwendet. Es handelt sich hierbei also um eine Umverteilung von den steuerzahlenden Lohnabhängigen hin zu den Vermögensbesitzern, deren Anlagepapiere juridische Anspruchstitel auf zukünftig von Arbeitern zu schaffenden (Mehr-)Wert sind. Zugleich braucht das Kapital die Schuldenfinanzierung, um den Staat in die Lage zu versetzen, notfalls mit militärischen Mitteln die Bedingungen für seine reibungslose Internationalisierung (Marktzugang, Ressourcensicherung, Einhaltung von Handelsverträgen, Investitionssicherheit) zu gewährleisten. Tatsächlich ist ein ausgeglichener Etat nicht im Interesse der kapitalistischen Klasse, da die Akkumulation von Kapital ohne Staatsverschuldung eigentlich undenkbar ist. Wenigstens bedingen private und öffentliche Kreditaufnahme einander so, daß für die Konjunktur entweder die eine oder die andere ausgeweitet werden muß. Tatsächlich führte ein ausgeglichener Staatshaushalt unter dem damaligen US-Präsident William Clinton in den 90er Jahren sogleich zu Krisenwarnungen, weshalb auch der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble vor Jahren einmal auf die naive Frage, wann der Etat denn endlich ausgeglichen werde, antworten konnte: Er hoffe, daß das nie passieren werde.

Verschuldung unausweichlich

Aber warum gibt es dann überhaupt eine Schuldenobergrenze? Die Schuldenobergrenze ist Teil einer fundamentalen Entdemokratisierung, die den Staat gegenüber parlamentarischer Willensbildung und gegenüber Forderungen nach sozialpolitischen Zugeständnissen sowie öffentlicher Industrie- und Beschäftigungspolitik immunisieren soll. Die Austeritätspolitik dient vor allem als Disziplinierungsinstrument gegenüber der Arbeiterklasse. Sie ist erstens ein Angriff auf die wohlfahrtsstaatlichen Errungenschaften der Arbeiterbewegung und soll zweitens bisher nicht der Kapitalverwertung unterworfene Gesellschaftsbereiche, wie in den USA etwa die nichtkapitalgedeckten Renten und die öffentliche Rentner-Krankenversicherung, für das nach Anlagemöglichkeiten suchende private Kapital öffnen.

Doch während die Austeritätspolitik sich damit als klare Klassenpolitik erweist, ist der Streit um die Schuldenobergrenze ein Rätsel. Seit der Krise des Fordismus beruht die Hegemonie der Vereinigten Staaten in der globalen politischen Ökonomie nicht mehr auf ihrer dominanten Stellung als Wirtschafts-, sondern als Finanzmacht. Der US-Dollar ist weiterhin ziemlich unumstritten die Leitwährung und die Wallstreet sicherster Anlageplatz der Welt. Dadurch finanzieren die USA ihr enormes Leistungsbilanzdefizit. Mit dem Euro-Dollar-Markt in den 60ern, der mit zum Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems beitrug, gibt es einen wachsenden Anteil an Dollars und Anleihen, die vom Ausland gehalten werden. Letztere haben einen Umfang von etwa fünf Billionen US-Dollar, d.h. 29 Prozent der Gesamtverpflichtungen. Indem Washington die Schuldenobergrenze nicht erhöht, was ein schlichter formaler Akt wäre, und damit immer wieder an den Rand der Staatspleite schlittert, gefährdet es die Grundlage seiner Hegemonie: das Vertrauen in die Anleihen als (rendite-)sichere Anlagen für die globalen Vermögen.

Die Frage ist: Wenn die Staatsverschuldung nicht nur unausweichlich, sondern auch im Interesse der herrschenden Klasse sein muß, warum gibt es dann überhaupt diesen Streit? In wessen (Klassen-)Interesse könnte eine (Nicht-)Erhöhung der Schuldenobergrenze sein? Die Lage scheint, da sich der Streit im Kongreß auf der Grundlage des US-Mehrheitswahlrechts abspielt, übersichtlich. Im Gegensatz zu Deutschland mit seinen sieben bis neun Parteien mit Chancen auf den Bundestagseinzug gibt es in den beiden Kammern des US-Parlaments lediglich zwei Parteien: Demokraten und Republikaner. Welchen Bezug zu sozialen Klassen und politischen Milieus haben sie?

Fest steht, daß sich die USA entgegen gängiger Klischees auch in der neoliberalen Periode durch ein ausgeprägtes Klassenwahlverhalten auszeichnen. Die Demokraten übernahmen – in Ermangelung relevanter sozialdemokratischer oder kommunistischer Arbeiterparteien – zwischen 1912, dem Jahr des langsamen Niedergangs der Sozialistischen Partei, und 1979, dem Ende der New-Deal-Koalition, die Rolle einer Quasi­sozialdemokratie. Trotzdem sind beide Parteien in den Vereinigten Staaten durch und durch bürgerlich. Das Prinzip der Demokraten war – unter den Bedingungen nationaler keynesianischer Regulation – das des »Corporate liberalism«, d.h., sie spielten die Rolle einer bürgerlichen Staatspartei des kompromißorientierten Flügels der Bourgeoisie. Mit dem Neoliberalismus ist dieses Prinzip untergegangen, die entsprechende Entwicklung der Demokraten das Ergebnis.

Die Republikaner wiederum waren historisch – von der Zeit des Bürgerkriegs, wo sie im Interesse der Nordstaaten-Industriellen und des Handelskapitals den Krieg gegen die Südstaaten mit ihrer rivalisierenden vorkapitalistischen Produktionsweise führten, bis zur danach einsetzenden Hochindustrialisierung und der »Progressive Era« – die natürliche Partei der Bourgeoisie und blieben dies in der Weltwirtschaftskrise. Kapitaleliten sind aber Minderheiten und brauchen Hegemonie. Die Republikaner waren deshalb stets ein Bündnis unterschiedlichster Kräfte, wobei das Großbürgertum die kleinbürgerliche und proletarische Basis dominierte.

Wütende Mittelschichten

Die treibende Kraft hinter der Weigerung, die Schuldenobergrenze zu erhöhen, ist die Tea-Party-Bewegung. Die Tea Party ist keine eigenständige Partei, sondern eine marktradikal-autoritäre Republikaner-Strömung, die sich im Kongreß eine Art eigene Fraktion (»Caucus«) geschaffen hat. Sie steht in der Tradition des US-Rechtspopulismus, der sich in den 60er Jahren als ein Gemisch aus Marktradikalismus und rechtem Autoritarismus (innen- wie außenpolitisch) in Gestalt der »New Right« in Kalifornien entwickelte und in den 70er Jahren als »Christliche Rechte« zu einer gewichtigen politischen Kraft wurde. In den 80er Jahren gelangte das Bündnis aus Graswurzel-Rechtspopulismus und transnational orientiertem Big Business unter Reagan an die politische Macht und führte die neoliberale Wende durch.

Aber welche Klassen und Interessen stehen hinter der Tea Party? Wie erklärt sich deren Position und Politik im US-Schuldenstreit? Die Tea Party entpuppte sich rasch als eine sehr spezifische soziale Gruppe. Der durchschnittliche Anhänger gehört zur Alterskohorte der 45-bis 60jährigen, hat einen höheren Bildungsabschluß, ist wohlhabend und mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit weißer Hautfarbe. Dies ist also keine Revolte der Arbeiter und Armen, sondern der Mittelklassen, die sich in der Krise nach rechts radikalisiert haben. Die Tea-Party-Mittelklassen fürchten, in der Krise zwischen Kapital (»Big business«) und Arbeit (»Big labor«, d.h. die Gewerkschaften) sowie partikularen Interessen (die Armen und ihre »Lobby«, aber auch Frauen, Homosexuelle etc.) zerdrückt zu werden. Hier zeigen sich Parallelen zu den Bewußtseinslagen des abstiegsbedrohten Kleinbürgertums im histo­rischen Faschismus

Ihre Wut richtet sich nach oben wie nach unten. Nach oben gegen die großen Banken-, Versicherungs- und Industriekonzerne, die nicht für ihre falschen (Markt-)Entscheidungen bestraft werden, weil sie als »systemrelevant« gelten, während ihnen selbst niemand in ihrer Not und Abstiegsangst hilft. Dies gilt besonders für die kleinen Unternehmen, die alsbald unter der Kreditklemme dramatisch litten, da die Geschäftsbanken trotz der Niedrigzinsen der Notenbank das Geld nicht zu günstigen Konditionen an ihre Privat- und Industriekunden weiterverliehen.

Das Weltbild eines sozialdarwinistischen Marktradikalismus ist der Grund ihrer Verachtung für weiter unten Stehende. Dieser Sichtweise zufolge hat der Staat im Interesse der »verantwortungslosen« Armen die Immobilienblase gefördert. Besonders echauffiert dies die radikalisierten Mittelklassen deshalb, weil sich die Armen gemäß der Marktgesetze scheinbar nonkonformistisch verhalten: Sie haben sich nicht als »Arbeitskraftunternehmer« (mit College-Abschluß, Schlüsselqualifikationen, Prestigepraktika und auch körperlich im Fitneßstudio) selbst optimiert. Im rassistisch-klassistischen Klischee sind sie fette, schwarze, kleinkriminelle Schulabbrecher. Und diesen, die sich scheinbar nicht den Marktgesetzen und der kapitalistischen Konkurrenz unterworfen haben, hilft nun, so die Überzeugung, der Staat.

Dabei gehören zu den Tea-Party-Rechtspopulisten durchaus auch jene Lohnabhängigen, die sich angesichts der weitverbreiteten Aussichtslosigkeit, durch kollektives Handeln die eigene Situation zu verbessern (in den Südstaaten gibt es trotz starker Industrialisierung im Privatsektor so gut wie keine Gewerkschaften), eine positive Entwicklung nur auf dem Wege von Steuersenkungen vorstellen können. Der Rechtspopulismus kann stets Rassismus mobilisieren, denn die Armen, denen der Staat das Gesundheitsfürsorgeprogramm Medicaid finanziert, sind überdurchschnittlich Schwarze und Latinos.

Dies erklärt nun vielleicht die Steuer- und Sozialstaatsfeindlichkeit der Tea-Party-Anhänger. Es erklärt jedoch nicht, warum die Bewegung der Erhöhung der Schuldenobergrenze nicht zustimmt, womit sie nachweislich die US-Finanzmacht und zugleich die Auszahlung von Leistungen wie der öffentlichen und bundesstaatlichen Krankenversicherung Medicare, von denen viele Tea-Party-Anhänger tatsächlich abhängen, hinauszögert. Entscheidend ist, daß deren Klassenzusammensetzung an der Basis nicht der im Parlament entspricht. Zwischen Anhängern, Aktivisten, Financiers und Abgeordneten der Tea Party muß unterschieden werden.Tatsächlich repräsentieren deren Parlamentarier im Kern diejenigen mittelständischen Unternehmen, die durch die Gesundheitsreform höhere Kosten befürchten müssen und die mithilfe der rechtspopulistischen Ideologie regionale Hegemonie ausüben. Doch auch im Interesse dieser subordinierten Kapitalfraktionen kann die Gefährdung der Zahlungsfähigkeit nicht liegen.

Irrationales Interregnum

Woher rührt also der Irrationalismus der Tea-Party-Rechtspopulisten, die nicht erkennen, daß die Verweigerung einer Erhöhung der Schulden­obergrenze ihren Interessen weit mehr schadet als nützt? Und warum gelang es den Republikaner- und Kapitaleliten 2011 und 2013 nicht, die Hinterbänkler Mores zu lehren und zu disziplinieren? Der Hintergrund liegt in der Spezifik der Tea Party selbst begründet. Diese ist formell Teil der Republikaner, faktisch aber eine Partei für sich. Der Rechtspopulismus ist schließlich gerade Ausdruck des grundlegenden Mißtrauens gegenüber den Herrschenden. Bei der Tea Party zeigte sich dies z.B. in den republikanischen Vorwahlen, als deren Basis noch jeden anderen »subalternen« Kandidaten dem Bourgeois-RINO (»Republican in name only«) Mitt Romney vorzog.

Dieses Verhalten ist Bestandteil dessen, was Gramsci mit dem Begriff des »Interregnum« beschrieb: »Wenn die herrschende Klasse den Konsens verloren hat, das heißt nicht mehr ›führend‹, sondern einzig ›herrschend‹ ist, Inhaberin der reinen Zwangsgewalt, bedeutet das gerade, dass die großen Massen sich von den traditionellen Ideologien entfernt haben, nicht mehr an das glauben, woran sie zuvor glaubten.« Nicos Poulantzas hat in seiner Analyse des Faschismus der 30er Jahre darauf hingewiesen, daß die ökonomische zu einer politischen Krise führt, die jene wiederum verstärkt, da im »Interregnum« die bürgerlichen Parteien fragmentiert werden und die von diesen bis hierhin geführten Mittelklassen sich nun eigenständig (z.B. als Tea Party) organisieren. Im Hinblick auf die Irrationalitätsfrage ist entscheidend, daß die Mittelklassen politische Subjekte jüngeren Datums sind. In hegemonialen Phasen der kapitalistischen Herrschaft existieren sie in mehr oder weniger vollständiger ideologischer, kultureller, politischer Abhängigkeit von der Bourgeoisieelite. Sie interessieren sich für Politik erst dann, wenn sie die Krise und das Interregnum dazu zwingen, weil die divergierenden Interessen zwischen (staatlich gerettetem, transnational orientiertem) Großbürgertum und dem (staatlich ignorierten, national orientierten) alten und neuen Kleinbürgertum offen zutage treten.

Der typische Repräsentant der radikalisierten Mittelklassen ist – wie der »Intellektuelle« Glenn Beck – ein äußerst widerwilliges Zoon politikon. Ihr eigentliches Interesse war es bislang, ihr Privatleben in Ruhe und Ordnung zu leben, in ihrer Welt aus Arbeit und Freizeitkonsum nicht behelligt zu werden. Sie sind die idealen Subjekte der Marktzivilisation. Infolge der Krise erwachsen jedoch ökonomische Abstiegsängste und gesellschaftliche Verteilungskämpfe. Sie zwingt sie, sich binnen kürzester Zeit elementare politische Kenntnisse und eine Krisendeutung zuzulegen. Becks Bildung (und die vieler seiner Kollegen unter den rechtspopulistischen »Intellektuellen«) reduziert sich faktisch auf Zusammengelesenes aus Wikipedia. Dieses wird natürlich vor dem Hintergrund der kleinbürgerlichen Klassenherkunft der großen Mehrzahl der rechtspopulistischen Führer mit ihrer starken Konkurrenz- und Leistungsorientierung, Marktabhängigkeit und sozioökonomischer Ohnmacht interpretiert, d.h. vom bürgerlich-marktzivilisatorischen Standpunkt. Es liegt nahe, daß sie als lebenslang subordinierte, ökonomisch und politisch abhängige Klasse nun kein Gesellschaftsdenken und keine politischen Führungskapazitäten entwickeln, sondern gerade im Kontext ihrer ökonomischen Ohnmacht und Angst dem Irrationalismus nahestehen. Sie sind im Grunde die Irrationalität und der wandelnde intellektuelle Widerspruch schlechthin, wenn z.B. einer ihrer Führer wie Ron Paul zugleich Befürworter des Freihandels und Gegner seiner imperialen Durchsetzung oder ein anderer, Michael Savage, Freihandelsgegner und doch rabiater Radauimperialist ist.

Die Tatsache, daß die Rechtspopulisten notwendig reaktionär sind und zugleich intellektuell auf die vor ihnen stehenden Aufgaben völlig unvorbereitet treffen, impliziert, daß sie in ihrer ohnmächtigen Abstiegsangst und Wut nach den Sündenböcken der Krise suchen. Die durch letztere bedingte Fragmentierung der herrschenden Klasse erschwert die politische Steuerungsfähigkeit und »rationale« Bearbeitung entsprechender Probleme wie die drastisch gewachsene Staatsverschuldung. Die Tea Party scheint so Symptom und Ursache der von unzähligen bürgerlichen Intellektuellen beweinten Reformunfähigkeit des US-Kapitalismus zugleich zu sein und könnte den Niedergang von dessen Hegemonie beschleunigen. Denn die transnationalisierte US-Elite hatte den Rechtspopulismus, mit dem sie sich im Austeritätskampf verbündete, offenbar nicht mehr unter Kontrolle. Ob der im Dezember ausgehandelte (Sozialkürzungs-)Kompromiß mit den Demokraten nun eine Kehrtwende diesbezüglich bedeutet und die Demokraten vielleicht in die Rolle des natürlichen, da im Vergleich zu den republikanischen Kantonisten nach innen und außen verläßlicheren Bündnispartners der Bourgeoisie schlüpfen, wird sich erst noch zeigen müssen.

* Ingar Solty ist Mitarbeiter des Forschungsprojekts »Europe in an Era of Political and Economic Crises« an der York University in Toronto. Er schrieb am 23.12.2013 auf diesen Seiten über die Gründung der US-Notenbank vor 100 Jahren.

Aus: junge Welt, Samstag, 18. Januar 2014



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