Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Transatlantische Kooperation und die Krise in der Ukraine

Im Wortlaut: Berliner Rede des Stellvertretenden US-Außenministers Antony J. Blinken


Im Folgenden dokumentieren wir die Rede des Stellvertretenden US-Außenministers Antony J. Blinken, die er bei seinem Besuch an der Hertie School of Governance am 5. März 2015 in Berlin gehalten hat. Die Übersetzung besorgte das Amerika-Institut.

Antony J. Blinken

Guten Tag. Vielen herzlichen Dank, Associate Dean Enderlein. Vielen Dank für diese wundervollen Einleitungsworte, auch wenn Sie etwas übertrieben haben. Vielen Dank. Wolfgang [1], ich freue mich sehr über diese Gelegenheit, Sie wiederzutreffen. Wir kennen uns aus den Neunzigerjahren. Ich habe damals für die Regierung Clinton gearbeitet und Wolfgang hat für sein Land und die gesamte internationale Gemeinschaft wahrhaft heroische Dienste geleistet, auf dem Balkan und andernorts. Ich erinnere mich noch sehr gut daran. Tatsächlich erinnere ich mich an ein Abendessen vor einigen Jahren bei Ihnen zu Hause mit einem meiner Vorgänger in diesem Amt, Strobe Talbot. Seitdem hatten wir oft gute Gelegenheiten, auch in anderen Bereichen zusammenzuarbeiten, beispielsweise bei der Wehrkunde-Konferenz [Münchner Sicherheitskonferenz]. Ich freue mich also sehr, dass Sie hier sind.

Associate Dean, Sie haben das berühmte Foto erwähnt, das einige von uns während der Erstürmung des Verstecks von Bin Laden im Situation Room des Weißen Hauses zeigt und auf dem man den Präsidenten, den Vizepräsidenten, Außenministerin Clinton und andere sieht. Ich bin im Hintergrund des Fotos zu sehen. Bei uns gibt es eine Fernsehsendung, die, glaube ich, ab und zu auch in Deutschland ausgestrahlt wird, die David Letterman Show. Einige Tage nachdem das Foto aufgenommen und veröffentlicht wurde, hatte David Letterman den damaligen Vorsitzenden der Vereinigten Stabschefs, Michael McMullen, in seiner Show zu Gast. Er zeigte ihm das Foto, deutete auf mich im Hintergrund und fragte McMullen: „Wer ist denn das? Der gehört offensichtlich nicht ins Foto. Kam er gerade zufällig von einer Führung im Weißen Haus hereinspaziert?“ Admiral McMullen, ein guter Freund von mir, lachte nur und sagte gar nichts dazu. Ich erinnere mich ganz gerne daran, wie mir gezeigt wurde, wo ich hingehöre.

Ich freue mich ebenso über die Anwesenheit einiger Kollegen aus Washington wie des Stellvertretenden Abteilungsleiters für europäische Angelegenheiten im US-Außenministerium und auch einiger Mitarbeiter der Botschaft, darunter der Gesandte der Botschaft, Jim Melville, der großartige Arbeit leistet. Botschafter Emerson ist zurzeit in den Vereinigten Staaten, sonst wäre er heute auch hier. Ich bin dankbar, dass Jim und sein Team hier sind.

Eine sehr produktive, einwöchige Reise neigt sich hier nun dem Ende zu.

Europa-Reise: "Das Hauptaugenmerk lag auf der Ukraine"

Wenn sie sich meine Reiseroute anschauen, werden Sie verstehen, warum Amerikanern manchmal vorgeworfen wird, dass sie Europa oder die Geografie Europas nicht verstehen. Meine Reise hat in Paris begonnen, führte mich nach Moldawien, dann nach London, dann nach Berlin und morgen nach Kiew. Das ergibt nicht viel Sinn, aber irgendwie haben wir es geschafft. Es war eine sehr interessante Reise. Das Hauptaugenmerk lag auf der Ukraine, und darüber möchte ich auch heute sprechen, aber auch alle anderen Themen wurden angesprochen. Hier in Deutschland erschient es mir besonders bemerkenswert – wenn ich an unsere sehr produktive Arbeit in den Neunzigerjahren zurückdenke –, dass die Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und Deutschland zu keiner Zeit meiner beruflichen Laufbahn weltweit mehr Themen berührten und wir diese Themen zu keiner Zeit mit größerer Tiefe und auf kooperativere Weise behandelt haben als heute. Das ist wahrlich außergewöhnlich, und ich muss ihnen sagen, die Vereinigten Staaten sind sehr dankbar für diese Partnerschaft. Präsident Obama ist besonders für die Partnerschaft mit Bundeskanzlerin Merkel dankbar. Ich weiß, dass dies auch auf den US-Außenminister und seine Partnerschaft mit dem Auswärtigen Amt zutrifft.

Es ist mir eine große Ehre, hier an der Hertie School zu sein. Sie hat sich in kürzester Zeit zu einer führenden Institution der Analyse europäischer Politik entwickelt. Der Associate Dean und ich haben bereits darüber gesprochen. Die Hertie School wird langsam, wie wir sagen würden, zur Kennedy School Deutschlands, und das ist eine außerordentliche Entwicklung.

In vielerlei Hinsicht hat die große Vielfalt Ihres Engagements Ihre Schule meines Erachtens praktisch zu einem Symbol einer erfolgreichen transatlantischen Gemeinschaft macht. Diese Gemeinschaft zeichnet sich nicht durch eine gemeinsame Sprache, Kultur, Religion oder Abstammung aus, sondern durch das gemeinsame Engagement für unsere grundlegenden Werte: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und die Würde jedes Menschen. Das sind die Werte, denen wir gerecht zu werden versuchen. Das gelingt uns nicht immer, aber wir versuchen es unablässig. Und diese Werte werden zurzeit durch die Vereinnahmung der Ostukraine durch Russlands Aggression auf die Probe gestellt, was die Hoffnung auf ein geeintes, freies und in Frieden lebendes Europa gefährdet.

Ukraine-Krise bedroht die Leitprinzipien der internationalen Ordnung

Diese heutige Krise in der Ukraine gefährdet nicht nur das große europäische Projekt. Nach meiner Einschätzung – und deshalb bereitet uns das so große Sorge – bedroht diese Krise auch die Leitprinzipien der internationalen Ordnung, an deren Verteidigung wir alle ein Interesse haben.

Vor 14 Monaten gingen die Menschen in Kiew und in anderen Teilen der Ukraine auf die Straße, um eine Ende der Korruption zu fordern und darauf zu bestehen, dass ihre führenden Politiker das Versprechen erfüllen, das sie eben gebrochen hatten: der Ukraine eine europäische Zukunft zu geben. Das ist auf dem Maidan geschehen. Das waren keine Anarchisten, es waren keine Faschisten, sondern normale Bürger, Studierende, Geschäftsleute, Veteranen, Großmütter. Die Regierung reagierte darauf mit Gewalt, Prügeln und Scharfschützen, sodass mehr als 100 Menschen ums Leben kamen. Die Vereinigten Staaten haben mit Deutschland, Frankreich und Großbritannien zusammengearbeitet, um in Gesprächen zwischen Präsident Janukowitsch und der Opposition, aber auch mit Russland zu vermitteln. Das führte zu einer Abmachung, die zu einem Ende der Gewalt geführt und es Janukowitsch ermöglicht hätte, bis zu Neuwahlen im Amt zu bleiben. Aber Janukowitsch floh, da er seine Legitimität und den Rückhalt in der eigenen Partei verloren hatte. Westlich orientierte Reformer füllten das Vakuum und versuchten, gemäß der Verfassung und mit der überwältigenden Unterstützung der Partei Janukowitschs, das Versprechen des Maidan zu erfüllen.

Präsident Putin sah die Ukraine damit dem russischen Einfluss entgleiten. Auf der Krim und in der Ostukraine fabrizierte er einen umgekehrten Maidan und erfand die Separatisten. Daran war fast nichts spontan, und es ging kaum von der Bevölkerung dort aus. Während die Ukraine also begann, auf 93 Prozent ihres Staatsgebietes eine friedliche, demokratische und unabhängige Nation aufzubauen, litten die Krim und Teile der Ostukraine unter einer Herrschaft der Aggression und Gewalt. Auch heute ist die Krim illegal besetzt, und für viele Risikogruppen dort sind Menschenrechtsverletzungen die Regel, nicht die Ausnahme: für die Krimtataren, für Ukrainer, die ihre Pässe nicht abgeben wollen, für LGBTI und andere.

Und natürlich stimmt es, dass die Menschen in der Ostukraine mehr direkte Kontrolle über ihr tägliches Leben gewinnen und die russischen Kultur und Sprache respektiert sehen wollten. Aber Sie sollten sich vor Augen führen, dass es vor der Krise keine Gewalt in der Ostukraine gab. Der Staat verletzte die Grundrechte seiner Bürger nicht. Tatsächlich genossen die ethnischen Russen im Donbass mehr Rechte und Freiheiten als die meisten ethnischen Russen in Russland. Moskau und selbsternannte Separatistenführer, die russische Nationalisten sind, haben eine Krise heraufbeschworen, den Frieden gebrochen und sehr bald schon eine Terrorherrschaft aufgebaut: Regierungsgebäude wurden besetzt, die Bevölkerung vor Ort wurde eingeschüchtert, es wurde auf Polizisten geschossen, die nicht zurückschießen konnten, die Zivilmaschine MH-17 wurde abgeschossen, es wurden Scheinwahlen abgehalten, die Grenze zwischen Russland und der Ukraine wurde besetzt. Tausende schwere Waffen und Soldaten gelangten aus Russland in den Donbass, was den Konflikt weiter anfachte. Waffenruhen, die unilateral von der Ukraine erklärt worden waren, wurden wiederholt gebrochen und ukrainische Soldaten wurden getötet. Der Flughafen von Donezk wurde dem Erdboden gleichgemacht. Hunderte Geiseln wurden gefangen genommen, darunter Nadija Sawtschenko, eine ukrainische Pilotin, die in der Ukraine entführt wurde und nach 84 Tagen im Hungerstreik in einem Moskauer Gefängnis immer schwächer wird. Sie haben ihr Territorium um mehr als 1.000 Quadratkilometer über die Kontrolllinie hinaus erweitert, die im Protokoll von Minsk vom vergangenen September festgelegt wurde. Und lediglich sechs Tage nach der Einigung auf den Plan zur Umsetzung des Minsker Abkommens haben sie Debaltsewe eingenommen, einen Knotenpunkt des Schienenverkehrs jenseits der Waffenstillstandslinien. Bei diesem brutalen Angriff kamen nach Angaben der Vereinten Nationen 500 Menschen ums Leben.

Wie reagierten Kiew und die USA?

Das sind im Allgemeinen die Ereignisse des letzten Jahres auf der einen Seite. Wie sah die Reaktion Kiews aus?

Nun, die Regierung hat trotz des Konflikts viel dafür getan, eine neue und bessere Zukunft zu schaffen. Sie unterzeichnete ein Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union. Sie hielt nicht nur einmal, sondern zweimal während eines Belagerungszustands freie und faire Wahlen ab und ist trotz ihrer Mängel wahrscheinlich die beste Regierung der Ukraine seit der Unabhängigkeit. Sie hat auf weitreichende und umfassende Reformen hingearbeitet. Dazu gehören Gesetze, die die Transparenz im öffentlichen Beschaffungswesen erhöhen, Ineffizienz und Korruption in der Regierung verringern, den Energiesektor der Ukraine sanieren, das Bankensystem transparenter gestalten sowie Maßnahmen, die das Geschäftsklima verbessern und ausländische Investoren anziehen sollen. Es soll eine neue Antikorruptionsbehörde geschaffen und die Generalstaatsanwaltschaft soll gestärkt werden. Und gerade jetzt bringt die Rada die politische Dezentralisierung voran, um den Regionen der Ukraine schon vor den Kommunalwahlen mehr Autonomie einzuräumen, die dem Plan zur Umsetzung des Minsker Abkommens zufolge im Oktober stattfinden werden. Die Ukrainer lassen also trotz der unglaublich schwierigen Situation nichts unversucht.

Wie sah unsere Reaktion aus, die Reaktion der Vereinigten Staaten, Deutschlands und unserer europäischen Partner? Wir haben versucht, vier Dinge zu tun: Wir haben versucht, die Ukraine mit wirtschaftlicher, sicherheitspolitischer und anderer Hilfe zu unterstützen. Wir haben versucht, unsere NATO-Bündnispartner zu beruhigen, die über Russlands Vorgehen in der Ukraine sehr besorgt sind. Wir waren bestrebt, von Russland für das Vorgehen in der Ukraine einen Preis zu verlangen. Und wir haben an einer diplomatischen Lösung gearbeitet, die der einzige nachhaltige Weg aus diesem Konflikt in der Ostukraine ist.

Was die Unterstützung der Ukraine angeht, gibt es, wie Sie wissen, IWF-Pakete in Höhe von mehr als 20 Milliarden US-Dollar, damit die entscheidenden Reformen fortgesetzt werden können: Schutz der Grenzen, Aufrechterhaltung des Energiesektors und der Wirtschaft. Die Vereinigten Staaten selbst haben erst kürzlich eine Kreditgarantie über eine Milliarde US-Dollar bereitgestellt, und eine weitere Milliarde ist in Aussicht, wenn die Reformen weiter umgesetzt werden. Wir, die Vereinigten Staaten, haben der Ukraine geholfen sich selbst zu verteidigen, indem wir Sicherheitsausrüstung im Wert von mehr als 120 Millionen US-Dollar zur Verfügung gestellt haben: Schutzwesten, Nachtsichtgeräte, Artillerieaufklärungsradare, explosive Kampfstoffe, Gerät und Roboter für die Kampfmittelräumung und so weiter.

Unser Ziel: "Russland dazu zu bringen, seine Aggression in der Ukraine zu beenden"

Zur Unterstützung der NATO-Partner arbeiten wir eng mit wichtigen Partnern zusammen. Wir investieren Geld, arbeiten aber auch daran, eine nahezu vollständige Präsenz zu Wasser, zu Land und in der Luft in den Staaten herzustellen, die die Ostgrenze der NATO bilden. Wir haben von Russland einen Preis verlangt – darauf komme ich später zurück –, um Präsident Putin davon zu überzeugen, seinen Kurs zu ändern. Ich möchte das ganz deutlich sagen, denn es ist sehr wichtig. Das Ziel unserer Reaktion bestand nicht darin, Russland zu schwächen. Es bestand nicht darin, eine Farbenrevolution anzuzetteln. Es bestand nicht darin, Wladimir Putin zu stürzen, sondern ganz einfach darin, Russland dazu zu bringen, seine Aggression in der Ukraine zu beenden.

Wie Sie alle sehr wohl wissen, gibt es zwischen Russland, den Vereinigten Staaten, Europa und dem Westen unterschiedliche Ansichten über die Ereignisse der letzten 15 oder 20 Jahre und darüber, welches unsere Absichten sind und welches nicht. Russland ist eindeutig der Meinung, dass wir versuchen, es zu schwächen, einzukreisen, zu isolieren und, wie ich bereits gesagt habe, sogar eine Farbenrevolution anzuzetteln. Und aus russischer Perspektive verstehe ich, dass in den letzten 20 Jahren Dinge geschehen sind, die diese Ansicht stützen könnten. Die Erweiterung der NATO könnte dazu beigetragen haben. Ich würde sagen, dass es anders interpretiert werden sollte, aber ich verstehe, warum die Russen es so sehen könnten. Der Rückzug aus dem ABM-Vertrag. Ich verstehe, dass das in Russland einen solchen Eindruck erwecken könnte. Aber Fakt ist, dass wir, die Vereinigten Staaten und Europa, in den letzten 20 Jahren genau das Gegenteil zu erreichen versucht haben. Wir haben versucht, Russland einzubinden. Wir haben versucht, Russland in das internationale System zu integrieren. Wir haben Russland eingeladen, der Partnerschaft für den Frieden beizutreten (1994), dem Europarat (1996), der NATO-Russland Grundakte (1999), der Europäischen Sicherheitscharta der OSZE (1999) und kürzlich der Welthandelsorganisation (2012), wofür sich besonders die Regierung Obama eingesetzt hatte. Die Vereinigten Staaten allein haben seit 1991 mehr als 20 Milliarden US-Dollar für die Unterstützung Russlands, die Nichtverbreitung von Atomwaffen, für die Unterstützung der russischen Wirtschaft und der freien Medien und anderes ausgegeben.

Es stimmt, wir haben diese verschiedenen Ansichten, die einander widersprechen, aber aus unserer Sicht haben wir wirklich intensiv nach einem Weg gesucht, Russland zu integrieren. Wolfgang erinnert sich sicher gut daran. 2009 nahm Vizepräsident Biden als erster Vertreter unserer Regierung an der Münchner Sicherheitskonferenz teil. Bei dieser Konferenz im Februar 2009 hielt er die praktisch erste außenpolitische Rede der Regierung Obama und beschrieb eine Politik des Neuanfangs mit Russland. Er machte überaus deutlich, dass wir unsere Grundlage unserer Zusammenarbeit mit Russland stärken wollten, die in den Jahren zuvor ausgehöhlt worden war. Genau das haben wir dann auch getan, und es gab einige konkrete, wichtige Ergebnisse. Dazu gehören die Arbeit am neuen START-Vertrag, gemeinsame Bemühungen in Afghanistan und ein gemeinsames Projekt, das noch heute besteht: echte Zusammenarbeit mit dem Ziel, Iran davon zu überzeugen, auf Atomwaffen zu verzichten. Ich denke, wir hatten die Hoffnung, die Beziehungen konkret voranzubringen, zur Förderung unserer, Russlands und Europas Interessen.

Aber es ist interessant, dass aus der Rede gerade der Neustart in die Schlagzeilen kam. Viele haben nicht bemerkt, dass Vizepräsident Biden in dieser Rede sehr deutlich sagte, dass wir, obwohl wir einen Neuanfang mit Russland anstreben, dennoch Grundprinzipien vertreten, die wir nicht aufgeben werden. Wir akzeptieren es nicht, dass Einflusssphären im 21. Jahrhundert als relevantes Mittel im Umgang miteinander angesehen werden, und wir vertreten nachdrücklich die Haltung, dass ein demokratisches Land das Recht darauf hat, selbst über seine Zukunft zu bestimmen und sich seine Partner selbst auszusuchen. Dabei gehen wir keine Kompromisse ein.

Es ist interessant: Wenn man auf alles zurückblickt, was geschehen ist, bemerkt man, dass dieser Teil der Rede leider vielleicht sogar zukunftsweisender war als der Teil über den Neustart.

Schließlich haben wir, wie gesagt, hinsichtlich dieses Problems alles dafür getan, die Diplomatie nachhaltig zu unterstützen, weil wir glauben, dass es keine militärische Lösung für diesen Konflikt geben kann. Wir haben wiederholt versucht, Putin einen anderen Ausweg anzubieten. Leider hat er diese Angebote stets links liegen gelassen.

Was bedeutet das also heute für uns? Ich denke, die Anstrengungen, die wir gemeinsam unternommen haben, waren teilweise erfolgreich. Sie haben uns Zeit und Raum für die beiden erwähnten Wahlen verschafft und es der Ukraine ermöglicht, ein Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterzeichnen, was ursprünglich einer der Auslöser der Krise war.

Ich persönlich bewerte die bisherigen Geschehnisse als großen strategischen Verlust für Russland, der mit der Zeit immer deutlicher werden wird. Warum sage ich das?

Positiv: "Russland und Putin haben 93 Prozent der Ukraine verloren"

Erstens haben Russland und Putin 93 Prozent der Ukraine verloren. Das Land ist jetzt geeinter und stärker westlich orientiert als je zuvor. Und leider wird es lange dauern, bis die Wut und ja, der Hass auf Russland überwunden werden können.

Russlands Vorgehen in der Ukraine hat der NATO mehr Energie verliehen als wir seit vielen Jahren erlebt haben. Auch die Bestrebungen Europas, seine Energieversorgung zu diversifizieren und die Abhängigkeit von Russland zu beenden, wurden damit vorangetrieben. Am bezeichnendsten ist vielleicht, dass sich die russische Wirtschaft aufgrund der Sanktionen, der dramatisch sinkenden Ölpreise und der Misswirtschaft, die schon vor der Krise herrschte, im freien Fall befindet. Im vergangenen Jahr wurde die Kapitalflucht auf die Rekordsumme von 151 Milliarden US-Dollar beziffert. Die ausländischen Direktinvestitionen sind fast vollständig versiegt. Der Rubel ist trotz der 100 Milliarden US-Dollar, die an Reserven ausgegeben wurden, um ihn zu stützen, auf einem historischen Tiefstand angelangt. Russlands Kreditwürdigkeit ist auf das so genannte Ramsch-Niveau gesunken. Die Wirtschaft, die zuletzt um etwas mehr als zwei Prozent wuchs, wird dieses Jahr voraussichtlich in eine Rezession rutschen. Unsere Sanktionen, insbesondere bezüglich der Energietechnologien, werden Russland den Zugang zu hochentwickelten Technologien versagen, die zur künftigen Nutzung schwer erreichbarer Energieressourcen notwendig sind. Die Inflation beträgt landesweit 15 Prozent und mehr, die Lebensmittelpreise sind um 40 Prozent gestiegen. Leider wirkt sich das vor allem auf den russischen Normalbürger aus.

Unser Bündnis, die Vereinigten Staaten und Europa, blieb bei alledem stets geeint, obwohl Putin alles daran setzt, uns zu spalten. Das war vielleicht unsere größte Stärke. Das ist die positive Bilanz.

Negativ: Der Konflikt dauert an

Auf der negativen Seite steht die Tatsache, dass der Konflikt andauert. Anstatt darauf hinzuarbeiten, dass er endet, facht Russland ihn bisher leider weiter an.

Ich denke, das ist zum Teil auf Folgendes zurückzuführen: Gerade weil Putin die wirtschaftliche Karte nicht spielen kann, da er wirtschaftlich nichts vorzuweisen hat, bleibt ihm nur die nationalistische Karte. Das funktioniert kurzfristig, denn es lenkt die Menschen ab. Das sieht man an seinen Beliebtheits- und Zustimmungswerten. Das Problem mit der nationalistischen Karte besteht darin, dass man sie immer weiter ausspielen muss, denn, sobald man damit aufhört, sehen die Menschen sich um und bemerken, wie schlecht die Dinge wirklich stehen. Das ist eine sehr gefährliche Dynamik, nicht nur für Russland und Putin, sondern für uns alle. Wie kommt man aus diesem Kreislauf wieder heraus? Wie schafft man Anreize für Russland und für Präsident Putin, die Spirale der Provokationen, die er für die Unterstützung im eigenen Land braucht, zu durchbrechen? Mit diesen Fragen setzen wir uns gerade auseinander.

Der zweite negative Aspekt sind die schrecklichen Auswirkungen des Konflikts auf die Ukraine selbst. Die Zahl der Opfer ist beträchtlich. 1,7 Millionen Ukrainer waren gezwungen zu fliehen, und mehr als 6.000 haben ihr Leben verloren. Die Wirtschaft steht am Abgrund: Die Ukraine gibt Geld für Verteidigung aus, das sie nicht hat. Sie hat mit dem Donbass die treibende Kraft ihrer Wirtschaft verloren, der, wie Sie wissen, das Fertigungs- und Exportzentrum ist. Das fehlt jetzt. Wenn ein Konflikt besteht, wird das Land außerdem unattraktiv für Auslandsinvestitionen, weil es zu unsicher ist.

Also waren wir, die Vereinigten Staaten und Deutschland, Europa, die internationalen Finanzinstitutionen dazu gezwungen, alles in unseren Kräften Stehende zu tun, die Ukraine wirtschaftlich zu unterstützen, und das kostet uns etwas.

"Wie geht es nun weiter?"

Wie geht es nun weiter? Es ist absolut unerlässlich, dass wir alles tun, um den Konflikt im Donbass zu beenden und die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine wiederherzustellen. Deshalb sind die Bemühungen der Bundeskanzlerin und des französischen Präsidenten Hollande, die am 12. Februar in Minsk noch einmal versucht haben, die Kämpfe im Osten der Ukraine zu beenden, so entscheidend, und deshalb unterstützen wir diese nachdrücklich.

Das Minsker Maßnahmenpaket vom 5. September und vom 19. September des vergangenen Jahres und das Abkommen zur Umsetzung des Minsker Maßnahmenpakets vom 12. Februar bieten zwar die Aussicht, aber keine Gewissheit auf Frieden, Abrüstung, politische Normalisierung, Dezentralisierung im Osten der Ukraine und auf die Souveränität und die Kontrolle des ukrainischen Staates über seine Grenzen und alle seine Gebiete.

Wenn dieses Paket umgesetzt wird, ist es ein faires Abkommen, das alle Seiten ausgehandelt und dem alle Seiten zugestimmt haben. Russland hat zugestimmt, die Ukraine hat zugestimmt, die Separatisten haben zugestimmt, die internationale Gemeinschaft steht dahinter. Es muss umgesetzt werden. Zu den entscheidenden Elementen dieser Umsetzung gehört eine vollständige Waffenruhe in allen Teilen der Ostukraine. Das ist noch nicht geschehen. Dazu gehört auch der uneingeschränkte Zugang der OSZE und ihrer Beobachter zum gesamten Konfliktgebiet, also auch zu den von Separatisten besetzten Gebieten. Dazu muss auch der vollständige Abzug schwerer Waffen gehören, sowohl die der Ukrainer, als auch die der Russen und der Separatisten, und dieser Abzug muss von der OSZE überwacht und überprüft werden. Geiseln müssen freigelassen werden. Alle ausländischen Truppen und Waffen müssen aus der Ukraine abgezogen werden. Entscheidend ist letztlich, dass die internationale Grenze der Ukraine wiederhergestellt wird. Wenn dies nicht geschieht und solange dies nicht geschieht, wird Russland, wird Putin immer die Möglichkeit haben, zu einem beliebigen Zeitpunkt Waffen, Soldaten und Material in die Ukraine bringen zu lassen und den Konflikt wieder anzufachen. Der entscheidende und letzte Teil des Maßnahmenpakets ist es also, die Kontrolle über die Grenze wiederzuerlangen und der Ukraine die Souveränität über die Grenze zu Russland wiederzugeben.

Wenn sich Russland und die Separatisten an diese und andere Abmachungen halten, können und werden wir die Sanktionen aufheben, die wir ihnen auferlegt haben. Wenn sie sich aber weiter aggressiv verhalten, werden wir die bestehenden Sanktionen verschärfen und den Druck erhöhen. Die Entscheidung ist eindeutig, und sie liegt bei Präsident Putin.

Lassen Sie mich mit Folgendem zum Schluss kommen. Warum ist das alles wichtig? Warum ist uns das so wichtig? Warum sollte es Ihnen wichtig sein? Erstens ist das Anliegen der Vereinigten Staaten bezüglich der Ukraine, einem europäischen Staat dabei behilflich zu sein, seine demokratischen Bestrebungen zu erfüllen und dazu beizutragen, ein Europa zu schaffen, das geeinter, freier und friedlicher ist. Wenn die Ukraine nicht geeint ist, wenn nicht alle Ukrainer in Freiheit und in Frieden leben, dann ist Europa das in gewisser Hinsicht auch nicht. Aber insbesondere geht es uns darum, das globale, auf Regeln basierende System, an dessen Aufbau wir gemeinsam arbeiten, zu verteidigen. Wir haben alle ein Interesse daran, diese Regeln einzuhalten, daran, dass die territoriale Integrität eines demokratischen Staates bewahrt wird und Grenzen nicht gewaltsam verschoben werden. Wenn diese Regeln missachtet werden, könnten andere Länder auf der ganzen Welt annehmen, dass auch ihre Interessen gewaltsam oder durch Gewaltandrohung durchgesetzt werden können.

Ein weiteres Prinzip, das auf dem Spiel steht, ist die Tatsache, dass es das inhärente Recht der Bürger eines demokratischen Staates ist, Entscheidungen für ihr Land zu treffen und seine Zukunft zu bestimmen. Es ist nicht das Recht einer anderen Macht oder eines anderen Landes, weder der Vereinigten Staaten noch Europas oder Russlands. Wenn dieses Prinzip verletzt wird, wenn wir es nicht verteidigen, geben wir großen Ländern einen Freibrief, ihre Nachbarn durch Einschüchterung fügsam zu machen.

Wir sollten auch nicht zulassen, dass das Prinzip des linguistischen Nationalismus, nach welchem jeder, der Russisch spricht auch russischer Staatsbürger ist, wieder Gültigkeit erhält. Das würde Tür und Tor öffnen für Aggression, Konflikte und Chaos.

Verantwortungsvolle Staaten müssen ihren internationalen Verpflichtungen nachkommen. Und das zeigt sich besonders und auf interessante Weise in der Ukraine-Krise.

Atomwaffen

Wie einige von Ihnen sich vielleicht noch erinnern, und wie Wolfgang und ich aus persönlicher Erfahrung wissen, hinterließ die Sowjetunion nach ihrer Auflösung einige Nachfolgestaaten mit Atomwaffen: Kasachstan, Weißrussland und die Ukraine. Wir haben in dieser Zeit sehr eng zusammengearbeitet, um diese Nachfolgestaaten davon zu überzeugen, die „geerbten“ Atomwaffen aufzugeben. Die Ukrainer haben dem zugestimmt, wollten dafür aber eine Garantie ihrer territorialen Integrität und Souveränität, und drei Länder gaben ihnen diese Garantie: das Vereinigte Königreich, die Vereinigten Staaten und Russland. Russland hat dieses feierlich gegebene Versprechen nun gebrochen, und zwar zu einer Zeit, in der wir versuchen, Nordkorea davon zu überzeugen, auf Atomwaffen zu verzichten und in dem Augenblick, da wir gemeinsam daran arbeiten, Iran zu überzeugen, seine Atomwaffen aufzugeben. [Im Original: „... and at this very moment working to convince Iran to forswear nuclear weapons”.] Welches Signal ist das für Nordkorea und Iran? Was sollen andere Länder davon halten, die wir davon abhalten wollen, Atomwaffen zu erlangen oder die wir davon überzeugen wollen, Atomwaffen aufzugeben? Was sollen Länder davon halten, die eine grundlegende Zusicherung von uns wollen? Was sollen sie davon halten, wenn sich wie im Fall der Ukraine einer der Staaten, die die Zusicherung erteilt haben, also Russland, diese Zusicherung eklatant missachtet und sie mit Füßen tritt? Das ist ein schrecklicher Präzedenzfall für alles, was wir erreichen wollen.

Ich denke, dass hier einerseits das europäische Projekt auf dem Spiel steht und all das, was dafür getan wurde, aber andererseits weitaus mehr: die Regeln, die im internationalen System für Frieden, Sicherheit, Wohlstand und Freiheit unerlässlich sind. Wir haben meines Erachtens die kollektive Verantwortung, diese Regeln aufrechtzuerhalten, und das versuchen wir im Fall der Ukraine.

Diese Krise führt uns meiner Meinung nach nicht nur vor Augen, warum unser transatlantisches Bündnis so wichtig ist, sondern auch warum es so stark ist. Im Lauf der Jahrzehnte wurde seine Widerstandsfähigkeit in Kriegen auf die Probe gestellt, in Friedenszeiten weiter vertieft, und es wurde durch die Ideen und das Talent neuer Generationen von Transatlantikern bereichert, von denen ich viele hier in diesem Raum vermute.

Wenn Sie Ihr Studium beenden und sich fragen, was Sie als nächstes tun sollten, hoffe ich, dass Sie Ihr Engagement für diese Themen vertiefen und die Arbeit fortsetzen, die viele von uns begonnen haben: eine Grundlage für Frieden, Freiheit, Sicherheit und Wohlstand zu schaffen, von der wir hoffen, dass sie unsere gemeinsame Zukunft prägen wird.

Vielen herzlichen Dank.

Originaltext: Remarks on Transatlantic Cooperation and the Crisis in Ukraine
Herausgeber:US-Botschaft Berlin, Abteilung für öffentliche Angelegenheiten;
http://blogs.usembassy.gov/amerikadienst/


[1] Gemeint ist Wolfgang Ischinger, der zur Zeit Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz ist.


Zurück zur USA-Seite

Zur USA-Seite (Beiträge vor 2014)

Zur Ukraine-Seite

Zur Ukraine-Seite (Beiträge vor 2014)

Zur Russland-Seite

Zur Russland-Seite (Beiträge vor 2014)

Zurück zur Homepage