Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Die Welt auf den Kopf gestellt

Obamas Rede zur Lage der Nation hat jede Menge Versprechen für die bröckelnde Mittelschicht. Globaler Führungsanspruch unterstrichen

Von Rainer Rupp *

In salbungsvollen Reden ist der US-Präsident Barack Obama unübertroffen. Davon zeugt auch seine jüngste zur Lage der Nation am Dienstag abend. Zugleich hat er eine große Portion Chuzpe, ähnlich der eines Elternmörders, der um Milde bittet, weil er selbst Vollwaise ist. Mit ähnlich unverfrorener Dreistigkeit verlief Obamas Politshow vor den beiden Häusern des US-Kongresses. Beide Parlamentskammern werden für den Rest seiner Amtszeit von den oppositionellen Republikanern dominiert. Sie werden im Vorfeld der anstehenden Präsidentschaftswahl 2016 die von Obama angekündigten und von den Demokraten freudig applaudierten Wahlgeschenke mit Sicherheit zu verhindern wissen.

In Politikermanier versprach Obama der verschwindenden US-Mittelschicht »das Blaue« vom Himmel – wohl wissend, dass seine Versprechen wie Steuererleichterungen, Zuschüsse für die Kinderbetreuung oder kostenlose Studiensemester keine Chance auf Verwirklichung haben. Konkret stellte er eine stärkere Besteuerung von Reichen von 24 auf 28 Prozent ihres Einkommens in Aussicht. Mit den Einnahmen sollen Familien aus der Mittelschicht – dem bröckelnden Pfeiler der US-Oligarchie – stärker entlastet werden. Zunehmend stürzen Mittelschichtler ins Prekariat ab: Beispielhaft dafür ist die immer größer werdende Zahl an Hochschulabsolventen, die lediglich den Mindestlohn verdienen. Zugleich haben sie durchschnittlich über 25.000 US-Dollar Schulden aus Studienkrediten – ohne Chance, jemals wieder aus der Schuldenfalle herauszukommen.

Der angeblich »boomenden« US-Wirtschaft und den Nöten der Mittelschicht – die große Mehrheit der Bevölkerung, die Unterschicht, ist offenbar bereits abgeschrieben – widmete Obama mehr als die Hälfte seiner einstündigen Rede. Darin versprach der »Potus« – eine pejorative Abkürzung von Obama-Kritikern für »President of the United States« – Amerika eine großartige Zukunft und blühende Landschaften. »Die Schatten der Krise liegen hinter uns. Der Zustand der Nation ist stark«, betonte Obama. Amerika stehe vor einem Neuanfang, die immer neuen Rekordhöhen der Aktienkurse zeugten davon. Dass diese nur durch die immense Geldschöpfung der US-Zentralbank und nicht durch realwirtschaftliche Erfolge zustande gekommen sind, fällt dezent unter den Tisch.

Zugleich rühmte sich Obama, in seiner Amtszeit seien im privaten Sektor mehr als elf Millionen Arbeitsplätze geschaffen worden. Dass damit lediglich die Verluste durch die Krise ausgeglichen wurden, ohne dass die Millionen einen Job erhielten, die in den vergangenen sechs Jahren auf den Arbeitsmarkt kamen, erwähnte Potus nicht. Sie werden auch nicht in der Arbeitslosenstatistik aufgeführt – im Gegensatz zu registrierten Minijobs, die selbst dann mitgezählt werden, wenn es sich nur um eine Stunde pro Woche handelt. In diesem Stil ging es weiter, einschließlich der Behauptung, dass die Abhängigkeit der USA von Öl- und Gasimporten so gut wie vorbei sei. Und das zu einem Zeitpunkt, wo die mit Fracking gewonnene Produktion – etwa die Hälfte der gesamten US-Förderung – wegen des niedrigen Erdölpreises vorm Zusammenbrechen steht.

Zugleich bekräftigte Potus den globalen Führungsanspruch der USA. Allerdings müsse diese Rolle »klüger« werden und »militärische Macht mit starker Diplomatie verbinden«. Das sei im vergangenen Jahr der Schlüssel zum Erfolg gewesen, um den Vormarsch der Miliz des »Islamischen Staates« zu stoppen und im US-Alleingang in Afrika die Ebola-Epidemie unter Kontrolle zu bringen.

In Asien will Obama verhindern, dass in Zukunft China dort die Regeln für den internationalen Handel aufstellt. Das müsse die Aufgabe der USA bleiben. Nicht zuletzt habe Amerika auch in Europa seine »Prinzipien hochgehalten, dass starke Nationen keine kleineren herumschubsen dürfen. Wir haben uns der Aggression Russlands entgegen gestellt, die Demokratie in der Ukraine gestützt und unsere NATO-Verbündeten bestärkt. Wir sind einig mit unseren Verbündeten, während Russland mit seiner Wirtschaft in Scherben liegt und isoliert ist. So führt Amerika – nicht mit Getöse, aber mit anhaltender, stetiger Entschlossenheit.« Potus hat die Welt auf den Kopf gestellt.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 22. Januar 2015

Weitere Pressestimmen:

Die FRANKFURTER RUNDSCHAU zieht eine Bilanz der "Rede an die Nation" des US-Präsidenten:
"Barack Obama ist zurück. Das Land, vor sechs Jahren am Rand des wirtschaftlichen Absturzes, boomt wieder. Wenn Obama nun der Mittelschicht etwas zukommen lassen will, dann kann er mit Beifall in der Gesellschaft rechnen. Es ist der richtige Zeitpunkt, um die Steuersätze für die Reichen ein bisschen zu erhöhen und den Zugang zu Bildung für die weniger Wohlhabenden ein bisschen zu verbilligen. Es geht nur darum, den Wohlstand in Amerika ein klein wenig gerechter zu verteilen ..."

Obama sei zu seinen "Herzensanliegen" zurückgekehrt, heißt es in der AUGSBURGER ALLGEMEINEN:
"Eine sozialdemokratische Denkweise, wie sie in Europa gang und gäbe ist. Die Republikaner, die beide Häuser des US-Kongresses beherrschen, werden indes nicht mitmachen: Steuererhöhungen sind für sie tabu. Da geht es ums Prinzip."

Die Zeitung DIE WELT kommentiert ebenfalls die Erfolgsaussichten für Obamas Vorhaben:
"Inhaltlich war das Programm alles andere als ein Friedensangebot an die Republikaner. Die Projekte des Präsidenten summierten sich zu einer langen linken Wunschliste, die von europäischen Sozialdemokraten hätte geschrieben sein können. Die Liste der Themen, bei denen Kompromisse mit den Republikanern machbar erscheinen, ist nach dieser linkspopulistischen Rede des Präsidenten weiter geschrumpft und ein Andauern der politischen Blockade wahrscheinlicher geworden."

Die MITTELBAYERISCHE ZEITUNG aus Regensburg kommt zu dem Schluss:
Obama ging es weniger darum, eine praktische Regierungsagenda vorzustellen, als für das Rennen um seine Nachfolge im Weißen Haus 2016 die Themen zu setzen. Dazu tragen auch die Exekutiv-Befehle zur Einwanderung, Kuba und Klimapolitik bei. Das bringt den Kongress in die Defensive, lässt den Präsidenten gut aussehen und gibt der mutmaßlichen Bannerträgerin der Demokraten Hillary Clinton Schützenhilfe."

"Mit Obamas Ankündigung höherer Steuern für Reiche und bezahlter Krankentage hat der Wahlkampf praktisch begonnen", meint auch die WETZLARER NEUE ZEITUNG:
"Allerdings ist nicht ausgemacht, dass es den Demokraten am Ende gelingt, die Republikaner auflaufen zu lassen. Denn Obama hat in seiner Rede ein Thema nur gestreift, für das er sich gleichwohl zuständig erklärt: die internationalen Krisen und den weltweiten Terrorismus. Die Außenpolitik ist es, die dem Friedensnobelpreisträger bereits die bisherige Amtszeit ziemlich verhagelt hat. Und ein plötzlicher Erfolg ist hier nicht abzusehen."

"In der Außenpolitik könnte Obama tatsächlich noch etwas bewegen", räumt die RHEINISCHE POST aus Düsseldorf ein:
"Ob der Atomdialog mit dem Iran zum historischen Ausgleich führt, will er in der verbleibenden Zeit gründlich ausloten, ohne dass ihm konservative Hardliner vorab einen Strich durch die Rechnung machen. Gelänge ihm das Kunststück, wäre es ein Erfolg für die Geschichtsbücher."

** www.deutschlandfunk.de/presseschau-aus-deutschen-zeitungen.433.de




Zurück zur USA-Seite

Zur USA-Seite (Beiträge vor 2014)

Zurück zur Homepage