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Ukrainischer Antisemitismus im Aufwind

Immer mehr Übergriffe auf Juden. Geschichtspolitik der Staatsführung fördert Ressentiments

Von Tomasz Konicz *

Die ukrainischen Juden sehen sich in letzter Zeit mit einem erstarkenden Antisemitismus konfrontiert. Bei einer Reihe von faschistischen Übergriffen und Propagan­dadelikten wurden mehrere Personen verletzt und erhebliche Sachschäden verursacht. So griffen am 29. Juli mehrere Antisemiten die Büros der jüdischen Organisation »Stars« im westukrainischen Lviv (Lwow) an, die jugendliche Juden zum Thora-Studium animieren will. Zwei anwesende Thora-Lehrer wurden mit Metallstangen zusammengeschlagen, die Einrichtungen verwüstet. Ebenfalls im vergangenen Monat wurden die Holocaust-Gedenkstätten in Lviv und im zentralukrainischen Poltawa geschändet. Laut letzter Vokszählung bekannten sich etwa 100000 ukrainische Bürger zum jüdischen Glauben, doch jüdische Organisationen gehen davon aus, daß zirka 300000 Juden in der Ukraine leben.

Aleksandr Feldman, der Vorsitzende des Komitees der ukrainischen Juden, beklagte in einer Stellungnahme Ende Juli das Fehlen jeglicher Statistiken bezüglich der rassistischen Gewalt in dem osteuropäischen Land. Amnesty International spricht von 30 gewalttätigen Übergriffen 2008 in der Ukraine, die Union der jüdischen Räte in der ehemaligen Sowjetunion (UCSJ) kommt auf 70 Übergriffe im vergangenen Jahr. Die UCSJ warnt in ihrem jüngsten Bericht, daß die Zahl antisemitischer Übergriffe in der Ukraine inzwischen höher sei als in Rußland. Medien, Staatsanwaltschaften und lokale Behörden ignorierten das Problem.

Das könnte damit zusammenhängen, daß sich auch ehemalige Weggefährten der »orangen Revolutionäre« rund um Präsident Viktor Juschtschenko und Regierungschefin Julia Timoschenko an der antijüdischen Hetze beteiligen. So beschwerte sich die Zeitschrift der von der Regierung finanzierten und von Juschtschenko ob ihrer »patriotischen Verdienste« ausgezeichneten Pfadfinderorganisation Plast unlängst darüber, daß auch Juden bei einem »Festival der Ukrainischen Musik« ihre »satanischen Riten« vollführen durften. Bis 2004 war Oleg Tjagnjbok -- ehemals Vorsitzender der National-Sozialistischen Partei der Ukraine -- ein führendes Mitglied der Präsidentenpartei »Unsere Ukraine«, die ihre Mitgliedschaft auch innerhalb der extremen ukrainischen Rechten rekrutierte. Nun fordert Tjagnjbok gern zu »gnadenlosen Säuberungsaktionen« gegen Juden auf oder bezeichnet bei Fernsehauftritten Russen und Juden als »Besatzer« der Ukraine.

Besonders gefährlich für die jüdische Minderheit in der Ukraine könnte sich die Neuausrichtung der Geschichtspolitik des gen Westen strebenden Landes erweisen, mit der ein Bruch mit Rußland legitimiert und der ukrainische Nationalismus gerechtfertigt werden soll. So warf die Föderation der Russischen Gemeinden beispielsweise am 28. Juli Präsident Juschtschenko vor, einen »Kult« um die faschistischen Kollaborateure der Naziwehrmacht zu fördern, die nun als ukrainische »Freiheitshelden« gefeiert würden. An jenem Tag weihte Juschtschenko ein Pantheon der Nationalhelden der Ukraine ein, in dem auch ein Porträt von Roman Schukchewich zu finden ist. Dieser war im Sommer 1941 an der Spitze des von der Wehrmacht aufgestellten ukrainischen Bataillons »Nachtigall« im damaligen Lwow einmarschiert, um unverzüglich die Ermordung Tausender Juden zu organisieren.

Diese jüngsten geschichtspolitischen Verrenkungen in der Ukraine hinterlassen ihre Spuren im Massenbewußtsein der Bevölkerung. Bei Meinungsumfragen gaben 29 Prozent der Befragten offen an, Aversionen gegenüber Juden zu empfinden. Besonders verheerend waren die Befragungsergebnisse innerhalb der Gruppe der 18- bis 20jährigen, von denen 45 Prozent sich eine »Ukraine ohne Juden« wünschten.

* Aus: junge Welt, 8. August 2008


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