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Freiheit und Bandera

Zum Fall Timoschenko äußerten sich viele. Zur Verehrung für einen faschistischen Kollaborateur in der West-Ukraine war nichts zu hören

Von Arnold Schölzel *

An diesem Sonnabend startet die deutsche Fußballnationalmannschaft mit einem Spiel gegen Portugal in die Europameisterschaft. Austragungsort ist die westukrainische Stadt Lwiw. Die Stadt nennt seit 2007 ein monumentales Denkmal ihr eigen. Was es damit auf sich hat, schilderte Zeit online am 30. Mai so: »Es ist nicht leicht, in der EM-Stadt Lemberg die politischen und gesellschaftlichen Grundströmungen auszumachen. Als Orientierungsmarke kann das monumentale Stepan-Bandera-Denkmal unweit des Hauptbahnhofs dienen. Die Skulptur des Freiheitskämpfers steht vor einem 30 Meter hohen Triumphbogen. ›Bandera ist unser Held. Wir sind Bandera-Stadt‹, sagt der 24jährige Kolja, ein Geschichtsstudent, der an dem 2007 errichteten Mahnmal vorbeischlendert. Eine überwältigende Mehrheit der fast 750000 Bürger von Lemberg würde diese Sätze vermutlich unterschreiben.«

Das Internetportal gab dem Text den Titel »Junger Nationalismus in der EM-Stadt Lemberg«. Wer unter »jung« rund 80jährige versteht, kann dem folgen. 1929 wurde nämlich in Wien die »Organisation Ukrainischer Nationalisten« gegründet, die beste Kontakte zu Reichswehr und faschistischer Wehrmacht unterhielt und gemeinsam mit jener Juden, Polen und Kommunisten massakrierte. Der Chef der Mordbande war seit den 30er Jahren Stepan Bandera (1909–1959; siehe unten) – in Lwiw gilt er als Patriot und Freiheitskämpfer.

Mittlerweile gibt es in der Region 30 Denkmäler für ihn, sagte der Berliner Historiker und Autor einer Disserta­tion zu Bandera, Grzegorz Rossolinki-Liebe, im März im jW-Interview. Eine neofaschistische Partei, die unter dem Namen »Freiheit« (»Svoboda«) antritt, erhält in der Westukraine bis zu 30 Prozent der Stimmen und hat in nicht wenigen Kommunalparlamenten die Mehrheit. Im Herbst letzten Jahres beschloß der Stadtrat von Lwiw, den Namen Stepan Bandera für den neuen Flughafen der Stadt zu empfehlen. Eine Kleinstadt in der Umgebung erhielt fast gleichzeitig eine Straße zu Ehren des Bataillons »Nachtigall«. Das bestand aus Ukrainern im Dienste der Wehrmacht, die in Lwiw kurz nach dem Überfall auf die Sowjetunion ein Massaker unter Juden und Polen anrichtete. Es wurde als Rache für jene Toten deklariert, die der sowjetische Geheimdienst bei der Niederschlagung eines Aufstandes der Faschistenfreunde in Lwiw unmittelbar nach dem 22. Juni hinterlassen hatte. Das Pogrom der »Nachtigall«-Leute – unter ihnen der spätere Bundesminister Theodor Oberländer (1905–1998) – kostete schätzungsweise 4000 Juden das Leben. Anfang Juli 1941 stellten einheimische Kollaborateure eine Liste mit den Namen von etwa 45 Professoren polnischer Abstammung zusammen, die zusammen mit ihren Familienangehörigen und allen in ihren Wohnungen befindlichen Personen in der Nacht vom 3. zum 4. Juli 1941 erschossen wurden. Insgesamt ermordeten die Nazis und ihre Helfer im Verlauf des Zweiten Weltkrieges allein Lwiw zwischen 110000 und 120000 Juden.

Der »Held« der »orangen Revolu­tion« von 2004 in der Ukraine und spätere Präsident Wiktor Juschtschenko ernannte Bandera am 22. Januar 2010 zum »Helden der Ukraine«. Fünf Tage zuvor hatte er bei den Präsidentschaftswahlen noch fünf Prozent der Stimmen erreicht. Seine Mitbewerber waren die frühere Ministerpräsidentin Julia Timoschenko und der Repräsentant der ostukrainischen Magnaten Wiktor Janukowitsch. Der siegte seinerzeit in der Stichwahl gegen Timoschenko und ließ auf gerichtlichem Wege die Ungültigkeit der Ehrung Banderas mit dem höchsten Orden des Landes erklären. In den bundesdeutschen Debatten um den Fall Timoschenko spielen die Verhältnisse in Lwiw und Umgebung keine Rolle.

* Aus: junge Welt, Samstag, 9. Juni 2012

Massaker

Ukrainische Nazikollaborateure: In der Bundesrepublik wohlgelitten **

Das Internetportal www.german-foreign-policy.com veröffentlichte am 6. Juni den vierten Teil der Serie »Zwischen Moskau und Berlin«. Die Texte befassen sich vor allem mit der deutschen Außenpolitik gegenüber der Ukraine seit dem Ersten Weltkrieg. Hier ein Auszug:

Wenige Tage vor Beginn der Fußball-EM führt die Erinnerung an Mordaktionen ukrainischer NS-Kollaborateure zu Verstimmungen zwischen der Ukraine und Polen. Warschauer Regierungspolitiker verlangen, Kiew solle der öffentlichen Ehrung ukrainischer Milizionäre endlich ein Ende setzen, die während des Zweiten Weltkriegs an der Seite der Deutschen für bestialische Morde an Polen verantwortlich waren. Dabei handelt es sich unter anderem um den NS-Kollaborateur Stepan Bandera, einen Anführer der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), dessen Milizen beispielsweise am 11. Juli 1943 insgesamt 99 Ortschaften im okkupierten Polen überfielen und dabei zahllose Polinnen und Polen massakrierten. (...)

Wie der Sejm-Abgeordnete der polnischen Regierungspartei PSL (Polskie Stronnictwo Ludowe) Franciszek Stefaniuk erklärt, soll die Ukraine sich der Erinnerung an die antipolnischen Massaker zahlreicher ukrainischer NS-Kollaborateure im Zweiten Weltkrieg stellen. (...)

Die Gründung der OUN, die Anfang 1929 in Wien erfolgte, war bereits im November 1927 auf einer Konferenz ukrainischer Nationalisten in Berlin vorbereitet worden. (…) Beim Gründungstreffen der OUN waren laut Erkenntnissen des polnischen Geheimdienstes auch sechs deutsche Militärs zugegen. Die OUN hielt in den folgenden Jahren (…) den Deutschen die Treue, auch wenn das NS-Regime sich gelegentlich dem Publikum gegenüber von ihr distanzieren mußte – so etwa, als OUN-Terroristen am 15. Juni 1934 den polnischen Innenminister ermordet hatten. Die OUN hielt jedenfalls 1939 besten Kontakt zur Wehrmacht, organisierte die Beteiligung einer kleinen Einheit von Exil-Ukrainern am Überfall auf Polen – und reagierte enttäuscht darauf, wegen des Molotow-Ribbentrop-Pakts nicht in Lwów (früher Lemberg, später Lwiw) einmarschieren zu dürfen. (...)

Die Erinnerung an die gemeinsame Kriegführung mit den Deutschen ist zumindest in der Westukraine heute noch präsent: »Nachtigall«-Anführer Roman Schuchewitsch (1907–1950) wurde am 12. Oktober 2007 vom prowestlichen Staatspräsidenten Wiktor Juschtschenko posthum zum »Helden der Ukraine« erklärt.

Die Verehrung, die die OUN in Teilen der westukrainischen Bevölkerung bis heute genießt, erklärt sich auch aus ihren Bemühungen, unter deutscher Hegemonie auf dem Territorium der überfallenen Sowjetunion einen eigenen Staat »Ukraine« zu gründen – ganz wie entsprechende Versuche bereits in der Zeit gegen Ende des Ersten Weltkriegs. OUN-Anführer Stepan Bandera rief am 30. Juni 1941 einen solchen Staat aus, geriet jedoch deswegen mit den Deutschen in Konflikt, die zwar ihren ukrainischen Kollaborateuren zuweilen kleinere Spielräume ließen, umfassenderes eigenständiges Handeln aber nicht gestatteten. Bandera wurde nach Berlin verbracht und im Konzentrationslager Sachsenhausen interniert. Die OUN bemühte sich weiterhin – nicht erfolglos –, in deutsch besetzten Gebieten Strukturen zu schaffen, die »als Grundlage für die Schaffung einer ukrainischen Staatlichkeit dienen« sollten, berichtet der Ukraine-Fachmann Frank Golczewski. (...) Die Deutschen nahmen die Besatzungshilfsdienste der OUN sowie von ihr dominierter Organisationen wie der Ukrajinska Powstanska Armija (Ukrainische Aufstandsarmee, UPA) bereitwillig an; über ihre langfristige Einstellung gegenüber den Ukrainern konnte jedoch in der Tat kein Zweifel bestehen. »Die Ukraine hat das zu liefern, was Deutschland fehlt«, äußerte der deutsche »Reichskommissar« in der Ukraine, Erich Koch, im August 1942: »Diese Aufgabe muß ohne Rücksicht auf Verluste durchgeführt werden.« Für die Deutschen sei dabei »der Standpunkt maßgebend, daß wir es mit einem Volk zu tun haben, das in jeder Hinsicht minderwertig ist«. »Das Bildungsniveau der Ukrainer muß niedrig gehalten werden«, fuhr Koch fort: »Es muß ferner alles getan werden, um die Geburtenrate dieses Raumes zu zerschlagen.« In den NS-Zukunftsplänen fungierte die Ukraine allenfalls als deutsche Kolonie; über eine Million Ukrainer wurden während des Krieges als Zwangsarbeiter ins Deutsche Reich deportiert.

Dessen ungeachtet gelang es den Nazis noch im Jahr 1943, rund 80000 ukrainische Freiwillige für den Krieg gegen die Sowjetunion anzuwerben; 17000 von ihnen kämpften im Rahmen der Waffen-SS-Division Galizien an der Seite der Deutschen. Eine letzte Mobilisierungswelle unter Ukrainern erfolgte schließlich im Herbst 1944: Führende ukrainische Nationalisten wurden aus den deutschen Konzentrationslagern entlassen, um sie an der Seite der NS-kollaborierenden russischen Wlassow-Armee in den »Krieg gegen den Bolschewismus« zu schicken. Noch am 17. März 1945 stellte sich in Weimar ein Ukrainisches Nationalkomitee der Öffentlichkeit vor. Sein Chef Pavlo Shandruk (1889–1979) ergab sich im Mai 1945 den US-Truppen. Anschließend lebte er im Exil in der Bundesrepublik und in den Vereinigten Staaten. In den Jahrzehnten zwischen dem Zweiten Weltkrieg und dem Zerfall der Sowjetunion konnten zahlreiche Kollaborateure vor allem aus der OUN, aber auch aus anderen Organisationen, ganz wie Shandruk im bundesdeutschen und im US-amerikanischen Exil überwintern – und dort die Haltung erheblicher Teile des Exils prägen, das auf die 1991 gegründete Ukraine durchaus einigen Einfluß nahm.

** Aus: junge Welt, Samstag, 9. Juni 2012



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