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Die Ukraine im Dezember - Revolution oder nur ein Kompromiss zwischen zwei Clans?

Ein Bericht über ein Round-Table-Seminar in Kiew

Von Alexander Buzgalin, Kiew*

"Kiew grüßt mit einer riesigen Fläche Orange, der Farbe der Opposition. Es gab Schals und Mützen in Orange, orange Bänder an Taschen und Ärmeln, und an den verschiedensten Fahrzeugen, von moderenen westeuropäischen Mittelklasse Wagen bis zum altmodischen Jiguli Limousine. Überall verkauften kleine Verkaufstände orangfarbene Sachen."

Im vergangenen Dezember haben Demonstrationen von Hunderttausenden von Menschen die aus allen Teilen der Ukraine kamen, um das Zentrum von Kiew zu blockieren nicht nur dieses Land erschüttert sondern die gesamte Welt. Die Welt beobachtete diese Ereignisse mit Erstaunen und Besorgnis.

Die Menschen waren gekommen um ein ernstes und tief empfundenes "Nein" zu diesem Regime zu sagen. Ein 30-jähriger Betriebschlosser aus der Donetzker Metall-Walzwerk.sagte " Wir vertrauen diesem alten Pack von Dieben nicht, das ganz offen lügt. Wir wollen eine wirkliche Chance, eine menschliche Existenz, ausreichende Löhne und ein Ende der entsetzlichen Armut, von der es soviel in der Ukraine gibt. Wenn Juschenko versucht uns zum Narren hält, kommen wir auf den Platz zurück." Viel Bewohner der Zeltstadt auf dem Unabhängigkeitsplatz sagten "Wir sind nicht hier hergekommen um etwas Bestimmtes zu erreichen. Wir sind gekommen damit wir wie menschliche Wesen leben können, damit wir in der Lage sind den Präsidenten zu wählen, den wir wollen und nicht den, den die Machthaber uns aufzwingen. Wir sind krank von einem Leben unter dem Diktat eines Regimes, das mit kriminellen Banden verflochten ist. Wir wollen eine ehrliche Regierung, die unsere Interessen vertritt." Die meisten Menschen auf dem Platz waren müde und verfroren, litten unter zu wenig Schlaf und schlechter Kleidung, aber sie waren voller Begeisterung.

Äußere Eindrücke können natürlich trügerisch sein, aber dennoch vermitteln sie die Stimmung und den Ton dieses Ereignisses. Dieses Ereignis zu analysieren war die Aufgabe des Round-Table-Seminars. Mehr als 50 Menschen nahmen daran teil, vom seriös aussehenden Professor der Politikwissenschaften und Repräentanten verschiedener linker Parteien bis zu jungen Aktivisten vom Platz. Das Seminar wurde auf Initiative der Zeitschriften "Alternativy" und "Totallogia" in Kiew, im philosophischen Institut in der Nationalakademie der Wissenschaften durchgeführt.

Alexander Buzgalin, Chefredakteuer der Zeitschrift " Alternativy", moderierte den Runden Tisch und machte die Teilnehmer darauf aufmerksam, dass in der Analyse insbesondere folgenden Punkten von Bedeutung sind:
  • Welche ökonomischen, sozialen, nationalen, kulturellen Ursachen hatte der zivile Ungehorsam?
  • Waren die Geschehnisse eine Revolution, Aktionen des zivilen Ungehorsams, ein Produkt politischer Manipulation oder etwas ganz anderes?
  • welche soziale Kräfte kamen auf den Majdan?
Die Debatte wurde von dem Politologe Oles´ Donij eröffnete, der aktive an den Geschehnissen auf dem Unabhängigkeitsplatz teilgenommen hat. Er bemerkte, dass die jetztige Auseinandersetzung nicht die erste Bewegung sei. Die Bewohner von Kiew hätten schon früher mehrmals an den Aktionen des zivilen Widerstandes teilgenommen. Allerdings hätte es früher keine Aktionen in solchem Ausmaß gegeben. Die Geschehnisse auf dem Unabhängikeitsplatz nannte Oles Donij eine Revolution, vor allem weil die politische Situation sich im Lande radikal und qualitativ geändert hätte. Es sei wichtig, dass ein Zelt, ein friedlicher bürgerlicher Ungehorsam gegen die Macht - und nicht ein Panzer wie in Russland - zum Symbol der Revolution geworden sei. Aus seiner Sicht sei es nicht zufällig, dass die Geschehnisse in der Ukraine orange, eine warmen, fröhlichen, grellen Farbe tragen. Sie hätten den karnevalistischen Charakter eines lustigen Festes, eines fröhlichen und erwünschten Ereignisses, das prinzipiell friedlich und offen sei. Gründe für den Erfolg dieser Revolution seien das wachsende Interesses an der ukrainischen Kultur, das Vorhandensein eines eigenen TV-Senders, der der Opposition gehörte, die Unterstützung der politischen Elite unter anderem von der sozialistischen Partei und die Vereinigung der Opposition. Seiner Meinung nach trug zum Erfolg außerdem das Solidaritäts- und Einheitssymbol der Bewegung - die Schleifen, Schale, Armbinden in orange, die nicht nur in Kiew, sondern in der ganzen Ukraine zu sehen waren. Das zeigte, dass es überall viele Anhänger gäbe.

Nikolaj Michalschenko, Präsident der Ukrainischen Akademie der politischen Wissenschaften, bemerkte zu Beginn, dass er die Geschehnisse der letzten zwei Wochen als halbe Revolution bezeichne. Das Wichtigste ist dabei, dass sich das Volk selbst erhoben hat. Zugleich ist die Auseindersetzung aber nur teilweise erfolgreich, da eine neue Elite an die Macht gelangen ist. Es ist noch nicht klar, inwieweit sie die Forderungen umsetzen werde. Was Juschtschenko anbelangt, sei er schnell von einer realen politischen Figur, die viele Widersprüchen in sich trage, zu einer Ikone geworden. Es sei bekannt, dass es äußerst schwer sei, mit einer Ikone zu kämpfen.

Der junge Aktivist und Mitorganisatoren der Zeltstadt "Die Ukraine ohne Kucma" im Jahr 2000 und stellvertretende Vorsitzende des Bundes der jungen Sozialisten, Eugenij Filindas, bemerkte, dass die Ukraine bis Mitte der 90er Jahre den Geschehnissen in Russland folgte, indem sie vieles, was für Russland bezeichnend sei, wiederholte. Das habe sich nun geändert. Die Aktion "Die Ukraine ohne Kuschma" sei eine Lehre für die Bürgerechtrechtsbewegung gewesen. "Wir haben damals vieles gelernt. Sie eine der wichtigsten Bedingungen für unsere heutigen Erfolge gewesen", sagte Filindas. Die Geschehnisse auf dem Unabhängigkeitsplatz und darüber hinaus die ganze Bewegung des zivilen Widerstandes bezeichnete Filindas ausdrücklich als Revolution und nannte zwei Gründe dafür: Ein Grund sei die Veränderung des politischen Systems in der Ukraine, der zweite die radikale Veränderung des Verhaltens der Menschen zur Macht. Filindas bemerkte, es sei von viel größerer Bedeutung, dass die Menschen gegen die bisherige Macht protestiert hätten, als dass sie für Juschtschenko gewesen seien. Natürlich sei bedeutende Hilfe von den organisierten politischen Kräften vorhanden gewesen, aber das Wesentliche sei eine unorganisierte, aufrichtige Bewegung der Menschen. Der stellvertretende Chefredakteur der Zeitschrift "Marxismus und Gegenwart", Pichorovic, berief sich auf die Veröffentlichungen im "Gardian" und betonte, dass die Aktionen freigebig aus dem Ausland - vor allem von den USA - finanziert worden seien. Der Hauptgrund für die Geschehnisse sei die Neuaufteilung der Macht zwischen oligarchischen Gruppierungen, die den Interessen des Mittelstandes in der Ukraine und des Westens entspräche.

Tamila Jabrova begann mit einer wichtigen Fragestellung: Für wen, für welche sozialen Kräfte in der Welt sind die Geschehnisse in der Ukraine von Vorteil? Weshalb unterstützen die USA die Aktivitäten auf dem Unabhängigkeitsplatz. Die Widersprüche in der ukrainischen Gesellschaft würden derzeit verdeckt. In den Vordergrund träte das Problem einer Neuaufteilung der Macht unter den Großkapitalen und der Widerstreit der Interessen zwischen Russland und den USA.

Im Gegensatz dazu meinte Zachar Popovic, dass die breiten Schichten der Gesellschaft auf den Unabhängigkeitsplatz gekommen seien, unter anderem viele Vertreter der Intelligenz, der Studentenschaft, die die Demokratie unterstützten und nicht ohne Grund meinten, dass die Diebe in der Regierung ins Gefängnis gehörten. Der Unabhängigkeitsplatz sei ein echter Aufbruch des Volkes, der Züge einer bürgerlich-demokratischen Revolution trüge. Das Klein- und Mittelbürgertum in der Ukraine hätte sich als eine Klasse begriffen. Ja, es hätte zunächst zu einem Kompromiss zwischen den Eliten geführt, aber es weckte auch die bürgerliche Gesellschaft.

Wladimir Sevcenko (Rektor derselben Universität) hob hervor, die Ereignisse auf dem Unabhängigkeitsplatz hätten den Menschen einen großen Schub politischer Energie und der Solidarität untereinander gegeben. Die Menschen seien aufrichtig und selbstständig dorthin gegangen. Trotzdem sei seiner Meinung die Ereignisse ein Ergebnis eines komplizierten politischen Zusammenspieles, in denen die Professionalität und die Ressourcen der Spezialisten, die die verschiedne Eliten vertreten hätten, aufeinanderstießen..

Nach der Meinung von Alexander Smyrgun vom Institut für Weltökonomie liegen die Gründe für die Geschehnisse dagegen viel tiefer als nur in politischen und ideologischen Manipulationen. Gründe für die Massenbewegung seien
  1. die Erschöpfung der vorherigen Entwicklungsressourcen,
  2. die Ineffektivität und Käuflichkeit der Macht,
  3. und die Müdigkeit des Volkes nach den bisherigen Bedingungen weiter zu leben.
Die vorherigen Machthaber und ihre Protegés stützten sich auf die breiten Schichten des Lumpenproletariats, auf das kriminelle Business und seiner Helfer (Bewachung, unbedeutende ausführende Personen etc.) und auf das korrumpierte Beamtentum. Es gäbe Gruppen in der Bevölkerung, die nicht zu einem Wandel fähig seien. Unter geänderteren Verhältnissen könnten sie nicht bestehen. Unter Anhängern von Juschtschenko dominiere der Mittelstand, der sich von der Willkür der Machthaber und der Kriminalität befreien und den Einfluss des russischen Kapitals einschränken wolle. Diese Menschen möchten unter den Verhältnissen einer "normalen" demokratisch-bürgerlichen Ordnung leben. Zu dieser Einstellung trage auch der Verfall des sozialen und kulturellen Prestiges Russlands bei und der langsame Wandel der ukrainischen Sprache zum angesehenen Kommunikationsmittel unter der Elite, der Intelligenz und der Jugend.

Der stellvertretende Chefredakteur der Zeitung der kommunistischen Partei der Ukraine, "Der Kommunist", Wiktor Masarov, betonte, dass die Kommunistische Partei der Ukraine keinen der Kandidaten unterstütze. Sie hätten im Grunde genommen ein und dasselbe politische Programm. Dies sei kein Zufall, da beide von denselben ökonomischen Kräfte, die ein Interesse an der Neuaufteilung der Macht haben, unterstützt würden. Im Endeffekt würden diesen Kampf alle verlieren.

Professor Wladimir Kisima zeigte auf, dass Präsident Kuschma sich zuerst auf den Kiewer Clan stützte. Im Laufe des Wahlkampfes hätte er den Doneck-Clan dazu gewonnen, indem er Janukovic als Kandidaten aufgestellt hätte. Diese beiden Clans hätten gemeinsam mit den Oligarchen alle anderen sozialen Schichten der Gesellschaft unterdrückt. Alle seien dieser Unterdrückung überdrüssig gewesen und hätten schweigend und in heimlicher Entrüstung auf eine Alternative gewartet. Juschtschenko gibt vor gegen dieses System zu sein und bekommt deshalb massive Unterstützung durch das Volk. In Wirklichkeit sei er der Vertreter eines anderen Clans. Deshalb wundere sich niemand, wenn es zu einem Kompromiss unter den Oligarchen und politschen Eliten kommt.

Dennoch habe dieser Konflikt das ukrainische Volk wachgerüttelt und sein demokratisches Potential erhöhte. Viele Bürger verstünden, dass ihnen der Sieg gestohlen würde, wenn das Ergebnis ihrer Auseinandersetzungen lediglich auf einen Kompromiss zwischen den Clans hinaus liefe. Sie hofften, dass die Erfahrung dieser Auseinandersetzungen nicht umsonst gewesen seien.

* Chefredakteur der unabhängigen Zeitschrift "Alternativy"

Übersetzung ins Deutsche und Bearbeitung: Hannelore Tölke


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