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Eine Droge namens Erdgas

Die Ukraine nach dem Streit mit Moskau – und vor der nächsten Wahl

Von Viktor Timtschenko, Kiew

Das ukrainische Parlament stimmte am Dienstag [10. Januar 2006] für die Absetzung der Regierung. Regierungschef Juri Jechanurow hatte zuvor vor den Abgeordneten die umstrittene Einigung mit dem russischen Energieriesen Gasprom verteidigt.

Das offizielle Kiew hatte den Gas-streit für beendet erklärt: Russland wird die geforderten 230 Dollar pro 1000 Kubikmeter Gas bekommen. Die Ukraine bezahlt für die gleiche Menge nur 95 Dollar. Die auch den Klassenschlechtesten auffallende Differenz konnten weder Experten noch »die hohen verhandelnden Seiten« plausibel erklären.

Die Preiskalkulation enthält folgende bekannte Komponenten: teures russisches Gas, billiges zentralasiatisches Gas, Transitgebühren für das asiatische Gas durch Russland in die Ukraine, Transitgebühren für das russische Gas durch die Ukraine nach Europa. Unbekannte Komponente ist der in das Export-Import-Schema einbezogene geheimnisvolle Vermittler RosUkrEnergo, unter dessen Nutznießern sich nach inoffiziellen Angaben auch der vom FBI gesuchte Bürger Semion Mogilevich befindet. Dieser Umstand zwang die Medien, vom »osteuropäischen Mauschel-Charme« zu sprechen. Das Unternehmen verfügt über ein Stammkapital von mickrigen 37 000 Dollar, vermittelt aber ein Geschäft mit einem Umsatzvolumen von einigen Milliarden Dollar. Einige Beobachter zweifeln angesichts dessen an der Seriosität der Erklärungen des russischen wie des ukrainischen Präsidenten über den »kompromisslosen Kampf gegen die Korruption«.

Die Regierung der Ukraine jedenfalls ist der Meinung, man habe den Streit für sich entschieden. Die Opposition in der Person Viktor Janukowitschs, der bei den Präsidentenwahlen 2004 den Kürzeren zog, beteuert im Gegenteil: »Uns drohen Zusammenbruch des Haushalts und Senkung der Konkurrenzfähigkeit unserer Unternehmen auf den Weltmärkten. Die Gesamtbilanz: Preisanstieg, Senkung des Lebensniveaus, Armut und Schwund aller Hoffnungen...« Die einstige Mitstreiterin Viktor Juschtschenkos, Julia Timoschenko, die die Regierung verließ, bei der Opposition aber nicht ankam, nannte das Abkommen »Verrat an den Interessen der Ukraine« und rechnete aus, dass die Preiserhöhung allein 2006 über 4,5 Milliarden Dollar kosten wird. Jeder Bürger verliere damit pro Jahr 97 Dollar – und das ist hier zu Lande ein Durchschnittsmonatslohn.

Die gegensätzlichen Einschätzungen rühren nicht nur aus der Schärfe des Gaskonflikts, sondern auch aus dem Wunsch, ihn für die Zwecke der eigenen Partei auszunutzen. Am 26. März sind in der Ukraine Parlamentswahlen, und laut Verfassungsreformgesetz, das seit dem 1. Januar in Kraft ist, wird ausgerechnet die Werchowna Rada und nicht – wie bisher – der Präsident die erste Geige bei der Kabinettsbildung spielen.

Seine Wirkungen hat der Gaskonflikt in der Ukraine und in Westeuropa indes schon bewiesen. Hier wie da zwang der Aufschrei zur Debatte über die Diversifizierung der Energieversorgung. Hier wie da spielte der Skandal auch in die Hände der Atomlobby, die gern noch einige Reaktoren in den Sand (oder auf den Acker) setzen würde. In der Ukraine läuft überdies die seit Jahrzehnten überfällige Diskussion über Energiesparmaßnahmen an ...

Aber wem nützt das bei den Wahlen? Der Versuch, den Wählern das Gasabkommen als Sieg unterzujubeln, wird kaum Erfolg haben. In einer Atmosphäre immer tieferer Enttäuschung über Juschtschenkos Politik werden alle Behauptungen der Mächtigen sehr kritisch bewertet. Und eine Preiserhöhung für Energieträger führte noch nirgends zur Verbesserung des Wohlstands der Bevölkerung. Die Quittung folgt bestimmt. Aber auch die Opposition wird durch die Vermarktung des Konflikts kaum etwas gewinnen. Menschen, die bei den Präsidentenwahlen gegen Janukowitsch stimmten, verstehen die Preiserhöhung als unfreundliche Geste des russischen Präsidenten Wladimir Putin, der Janukowitsch seinerzeit offen und aktiv unterstützt hatte. Auf bessere Umfragewerte kann allenfalls Julia Timoschenko hoffen, die einerseits die heutigen Machthaber an den Pranger stellt, andererseits aber keine Verbindungen zu Putin hat.

Grundsätzlich wirkte der Gaskrieg auf den Wähler wie eine Droge. Aldous Huxley, weltbekannter Fachmann in dieser Materie (Autor von »The Doors of Perception« – Die Pforten der Wahrnehmung) berichtet aus eigener Erfahrung, dass eine Droge nur die herrschende Stimmung verstärkt: Lustige werden noch fröhlicher, Traurige wehmütiger. Wer die Rettung der Ukraine nur im Bund mit Russland sieht, spricht von der Unprofessionalität der ukrainischen Verhandlungsführer. Wer die Annäherung an den Westen sucht, hat sich noch einmal von der Hinterlist des russischen Bären überzeugen können.

Das beschreibt allerdings nur die Situation von heute. Wenn dem Gaskonflikt noch weitere folgen, schlägt das Pendel womöglich in eine andere (noch ungewisse) Richtung aus. Einige Experten meinen, Putin werde beim Gas nicht Halt machen. Während der ukrainischen Wahlkampagne könnte beispielsweise ein »Atomstreit« vom Zaun gebrochen werden. Die Ukraine bezieht aus Russland die Brennelemente für ihre Kernkraftwerke und verfrachtet ausgebrannte Uran-Stäbe eben dorthin. Russland als Monopolist könnte auch die Preise dafür erhöhen ...

* Aus: Neues Deutschland, 11. Januar 2006


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