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Kekse von den USA und starke Worte in Kiew

Opposition stellt Bedingungen für Runden Tisch in der Ukraine oder lehnt ab / Bombendrohungen gegen Airports

Von Klaus Joachim Herrmann *

Vom Zentrum der Proteste in der Kiewer Innenstadt hielt sich die Polizei am Nachmittag auffällig fern. Dafür kamen westliche Politiker.

Die Demonstranten vereisten auf dem Unabhängigkeitsplatz am Mittwochnachmittag die nach dem Niederreißen in der Nacht wieder aufgerichteten Barrikaden. Am Vormittag hatte dort US-Vizeaußenamtschefin Victoria Nuland Kekse aus einer großen Tüte an beide Seiten verteilt. Dabei wurde sie begleitet vom US-Botschafter in Kiew, Geoffrey Payat. Die EU-Außenbeauftragte Cathrin Ashton schlenderte Arm in Arm mit dem Oppositionspolitiker Arseni Jazenjuk von Julia Timoschenkos Vaterlandspartei über den Platz.

Nach einem Treffen mit dem Präsidenten Viktor Janukowitsch erklärte Victroia Nuland, dass die Sicherung einer europäischen Zukunft für die Ukraine noch möglich sei. Die Vereinigten Staaten würden »gerne sehen, dass sich Präsident Janukowitsch in diese Richtung bewegt«. Die Gespräche mit der EU und dem Internationalen Währungsfonds sollten wieder aufgenommen werden.

Für eine politische Lösung im Dialog der Regierung mit der Opposition und der Zivilgesellschaft setzte sich EU-Verwaltungskommissar Maros Sefcovic in Straßburg ein. Eine Vermittlungsdelegation der EU auf höchster politischer Ebene wird in einer fraktionsübergreifenden Entschließung verlangt, über die das Europäische Parlament an diesem Donnerstag abstimmen will.

Seiner Meinung nach »minimale« Bedingungen der Opposition zur Teilnahme an einem Runden Tisch erhob Juri Luzenko, früherer Innenminister. So sollten, »bevor überhaupt jemand mit jemandem redet«, der Innenminister zurücktreten, die Sondereinheiten vom Maidan abgezogen und inhaftierte Demonstranten freigelassen werden. Namentlich die ukrainischen Altpräsidenten Viktor Juschtschenko, Leonid Kutschma und Leonid Krawtschuk forderte er auf, zu Verhandlungen auf den Unabhängigkeitsplatz zu kommen. Als »Scherz« heruntergespielt wurde seine Bemerkung, die Politiker könnten sich ja zuvor mit »Pampers«-Windeln versorgen.

Der Oppositionspolitiker Vitali Klitschko forderte laut dpa einmal mehr in starken Worten den sofortigen Rücktritt des Präsidenten: »Kompromisse mit Halsabschneidern und Diktatoren kann es nicht geben. Man muss sie loswerden. Und heute ist die Frage Nummer eins: eindeutig der Rücktritt Janukowitschs und seiner ganzen verfaulten Regierung«, wurde der Boxweltmeister zitiert.

Die ehemalige Regierungschefin Julia Timoschenko sekundierte aus der Krankenhaushaft: »Keine Verhandlungen mit der Bande, keine Runden Tische mit ihr.« Sie forderte den Westen auf, Sanktionen zu verhängen. Wie aus der Zentrale ihrer Vaterlandspartei verlautete, ist der Stellvertretende Vorsitzende Grigori Nemyrja, Chef des Parlamentskomitees für Fragen der europäischen Integration, nach Straßburg zu Konsultationen mit der Spitze des EU-Parlamentes entsandt worden.

Politiker, die den Rücktritt der legitimen Führung des Landes forderten, würden die Ukraine spalten und »auf den Schultern des Maidan an die Macht kommen« wollen, erklärte der Bürgermeister des Bergarbeiterzentrums Donezk. Alexander Lukjatschenko warnte bei einem Runden Tisch der Fernsehnachrichten und der Agentur Unian, dass das Land in eine »Sackgasse« gerate. Es entstehe eine Situation, in der es keine Sieger geben könne.

Für Aufregung sorgten am frühen Abend Bombendrohungen gegen den internationalen Flughafen Borispol, 30 Kilometer östlich des Stadtzentrums, und den von dort nur acht Kilometer entfernten kleineren Airport Schuljani sowie zwei Bahnhöfe. Die Miliz informierte über die Evakuierung mehrerer Tausend Passagiere. Später konnte Entwarnung gegeben werden.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 12. Dezember 2013


Polizei räumt – und geht

Proteste im Zentrum von Kiew halten an. Ukraines Oppositionspolitiker ergehen sich in Gewaltphantasien. Regierung verhandelt mit EU und USA

Von Reinhard Lauterbach **


In Kiew haben in der Nacht zum Mittwoch starke Polizeikräfte die Barrikaden geräumt, die Anhänger der Pro-EU-Opposition rund um den zentralen Unabhängigkeitsplatz errichtet hatten. Obwohl die Polizisten nach Augenzeugenberichten vom Morgen die Menge nur mit ihren Schilden zurückdrängten und keine Knüppel einsetzten, wurden später etwa 30 Verletzte gezählt. Unter ihnen sind offenbar vorwiegend Anhänger der rechten Partei »Swoboda« (Freiheit), die die militante Auseinandersetzung mit der Staatsmacht geradezu sucht. Der ukrainische Innenminister Jurij Sacharenko erklärte, Ziel der Aktion sei nur gewesen, die blockierten Straßen im Stadtzentrum wieder passierbar zu machen; das Recht auf friedliche Demonstrationen werde nicht angetastet.

Unverrichteter Dinge endete am Mittwoch vormittag der Versuch von Einheiten der Antiaufstandspolizei »Berkut«, auch das seit Tagen von EU-Anhängern besetzte Kiewer Rathaus zu räumen. Am Mittag zogen sie sich unter dem Jubel der Demonstranten zurück. Besetzer mit Fahnen der »Swoboda« hatten bei Temperaturen von minus neun Grad aus Feuerwehrschläuchen Wasser auf die vor dem Gebäude stehenden Polizisten gespritzt. Der Propagandaerfolg stieg der Opposition alsbald zu Kopfe. Der Parlamentsabgeordnete Andrej Schewtschenko von der Partei »Vaterland« schrieb in einem Twitterbeitrag, den die oppositionelle Internetzeitung Ukrainska Prawda veröffentlichte, die »unverantwortliche Polizeiführung« habe »50 Jungens« als »Kanonenfutter« vor das Gebäude geschickt, um sie »zerfetzen« zu lassen. Dies sei eine »unverschämte Provokation« gewesen, delirierte der Abgeordnete in Gewaltphantasien, die womöglich durchaus die Stimmung unter den radikalen Demonstranten wiedergeben. Der frühere Innenminister Jurij Luzenko von derselben Partei – in Deutschland bekannt dadurch, daß er vor einigen Jahren auf dem Frankfurter Flughafen in Handschellen abgeführt wurde, weil er in einem Lufthansa-Flugzeug betrunken randaliert hatte – rief die Eltern von Polizeischülern auf, ihre Söhne nach Hause zu holen, wenn ihnen deren Gesundheit lieb sei. Expräsident Wiktor Juscht­schenko gab sich tief enttäuscht, da die Staatsmacht angeblich das »syrische Szenario« gewählt habe. Mit der Aussage, er komme nicht persönlich auf den Maidan, weil ihm nicht an PR für seine Person gelegen sei, gab er der Situation eine humoristische Wendung, denn gerade Juschtschenko als Symbolfigur der »Orangenrevolution« vor neun Jahren gilt heute als Inbegriff der politischen Inkompetenz der »Reformkräfte«. Sein Auftritt hätte womöglich der Sache der Demonstranten eher geschadet.

Das zurückhaltende Vorgehen der Regierung gegenüber den Demonstranten hat vermutlich mehrere Gründe. Der eine ist, daß sie offenbar versucht, knapp unterhalb der von der EU gezogenen »roten Linie« eines »gewaltsamen Vorgehens gegen friedliche Demonstranten« zu balancieren. Denn sie hat ganz offenkundig die Hoffnung nicht aufgegeben, doch noch mit Brüssel zu einer Einigung zu kommen. Am Dienstag hatte Präsident Wiktor Janukowitsch die EU-Außenbeauftragte Lady Ashton empfangen, am Mittwoch erklärte Ministerpräsident Nikolai Asarow, die Ukraine sei zur Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU bereit, wenn sie etwa 20 Milliarden Euro Unterstützungsgelder erhalte. Beim Gipfel in Vilnius hatte Janukowitsch noch ein Mehrfaches dieser Summe verlangt. Ein Pressesprecher der EU-Kommission wies die Forderung Asarows am Nachmittag postwendend zurück. Der Assoziierungsvertrag sei gut für die Ukraine, und es werde keinerlei Gefeilsche um ihn geben.

Ein zweiter Grund für die Zurückhaltung der Regierung ist die offenkundige Spaltung der ukrainischen Gesellschaft in der EU-Frage. Eine kürzlich durchgeführte Umfrage zeigte, daß 49 Prozent der Ukrainer die Pro-EU-Demonstrationen unterstützten, 46 Prozent dagegen nicht. Nach dem Bericht einer Lokalzeitung sollen in der südlich von Kiew gelegenen Stadt Kirowograd 220 Angehörige der »Berkut«-Einheit geschlossen den Befehl zum Einsatz in der Hauptstadt verweigert haben. Ihre Kommandeure seien inzwischen abgelöst worden.

Direkt nach dem Rückzug der Polizei aus dem Kiewer Stadtzentrum begannen die Demonstranten, die in der Nacht geräumten Barrikaden wieder aufzubauen. Der Chef der Oppositionspartei UDAR (Schlag), der in Deutschland populäre Boxweltmeister Witali Klitschko, machte einen Punktgewinn aus: »Wir haben gesiegt, denn unser Wille war stärker.« Und: »Kompromisse mit Halsabschneidern und Diktatoren kann es nicht geben. Man muß sie loswerden. Und heute ist die Frage Nummer eins eindeutig der Rücktritt Janukowitschs und seiner ganzen verfaulten Regierung.«

** Aus: junge Welt, Donnerstag, 12. Dezember 2013


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