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Die Ukraine hat gewählt

Einzug von Ultranationalisten ins Parlament ruft nicht nur in Moskau Besorgnis hervor

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Als »überzeugenden Sieg« verkaufte der ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch das Abschneiden seiner Partei der Regionen bei den Parlamentswahlen am Sonntag.

Das vorläufige amtliche Endergebnis der Wahlen wird erst am Mittwoch erwartet. Am frühen Nachmittag des Montags waren erst rund 60 Prozent aller Stimmen ausgezählt. Demnach sammelte die regierende Partei der Regionen über die Parteilisten, nach denen die Hälfte der insgesamt 450 Abgeordneten der Werchowna Rada gewählt wird, gut 34 Prozent aller Stimmen. Die restlichen 225 Sitze werden per Direktmandat vergeben. Und in den meisten der Regionen - vor allem im Süden und Osten mit starken russischen Minderheiten, wo auch die Wahlbeteiligung erheblich über dem Landesdurchschnitt von 58 Prozent lag, unterstützten die Wähler schon in der vergangenen Legislaturperiode die Hausmacht von Janukowitsch, den sie für das geringste aller möglichen Übel halten. So auch diesmal. Die Partei der Regionen könnte daher die absolute Mehrheit aller Sitze kontrollieren. Zusammen mit den Kommunisten, die nach vorläufigem Stand gut 14 Prozent aller Stimmen bekamen und ihr Ergebnis gegenüber 2007 mehr als verdoppelten, könnte das sogar zu einer Zweidrittelmehrheit reichen. Allerdings klagt auch die KPU wie andere Oppositionsparteien über »unehrliche Wahlen« und hat angekündigt, künftig eigenständiger im Parlament zu agieren.

Ganze drei weitere Parteien nahmen die Fünf-Prozent-Hürde. Die sogenannte Vereinigte Opposition - Schwerkraftzentrum ist die Partei »Batkiwschtschina« (Vaterland) der ehemaligen Regierungschefin Julia Timoschenko - kam auf gut 22 Prozent, die zuvor höher bewertete Partei UDAR (Schlag) von Boxweltmeister Witali Klitschko auf 13 Prozent. Mit mehr als 8 Prozent wird auch die ultranationalistische Vereinigung »Swoboda« (Freiheit) ins Parlament einziehen. Für »Swoboda«, oft als profaschistisch und antisemitisch eingeschätzt, stimmten vor allem Wähler in der Westukraine, die erst durch den Hitler-Stalin-Pakt 1939 mit dem Rest des Landes wiedervereinigt wurde und bis heute zur Zentralregierung in Kiew kritische Distanz hält, sowie die meisten Exil-Ukrainer.

Der Einzug der Nationalisten könnte schlimme Folgen für das Verhältnis zu Russland haben, fürchtet Moskaus Botschafter in Kiew, Michail Surabow. Zumal im Tandem mit der Timoschenko-Partei, die ihr oppositionelles Profil schon deshalb schärfen muss, weil sie mit größter Wahrscheinlichkeit ohne ihre Galionsfigur in die kommenden Präsidentenwahlen gehen muss. Denn Frau Timoschenko verbüßt derzeit eine siebenjährige Haftstrafe wegen Kompetenzüberschreitung bei Verhandlungen mit Russland über Gaslieferungen.

Ihren Parteifreunden schwante jedoch schon im Wahlkampf, dass sich die Aura der Märtyrerin nicht in politisches Kapital ummünzen lässt. Umfragen zufolge misstrauen Timoschenko 66 Prozent aller Wähler. Schon vor der Wahl umwarb ihre Partei daher die Nationalisten als Partner. Eine entsprechende Vereinbarung unterzeichneten die Granden beider Gruppierungen am 19. Oktober.

Für eine Revanche bei den Präsidentenwahlen dürfte es trotzdem nicht langen. Trotz des bescheidenen Abschneidens der Klitschko-Partei ist deren Chef mit Zustimmungsraten von 43 Prozent derzeit der populärste Politiker der Ukraine - und damit der gefährlichste Gegner für Janukowitsch.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 30. Oktober 2012


"Bedenkliche Bündnisse mit den Faschisten"

Ukraine-Wahl: Ultrarechte kamen auf acht Prozent. Sie kooperieren mit der Partei Timoschenkos. Ein Gespräch mit Andrej Hunko **


In der Ukraine wurde am Sonntag ein neues Parlament gewählt – der Europarat hatte unter anderem Sie als Beobachter eingesetzt. Wie sind die Wahlen nach Ihrem Eindruck verlaufen?

Von der technischen Seite her überwiegend reibungslos. Die Wahllokale waren gut ausgestattet und konnten per Internet überwacht werden, die Wahlurnen waren durchsichtig. Es gab allerdings einige Unregelmäßigkeiten – im Hintergrund war spürbar, daß auf die lokalen Wahlbehörden Druck ausgeübt wurde.

In welcher Form?

Zum Beispiel wurde uns zunächst untersagt, die Auszählung der Wahlzettel zu beobachten, wir mußten uns am anderen Ende des Raumes aufhalten. In einem anderen Lokal fiel mir auf, daß ein Funktionär der Regierungspartei offenbar Anweisungen an die Wahlhelfer gab. Unregelmäßigkeiten hatte es offenbar auch schon bei der Zusammensetzung der Wahlkommissionen gegeben. Aber wie gesagt – das waren Eindrücke.

Der Ukraine, Belarus und Rußland wird von westlicher Seite immer wieder vorgeworfen, Wahlen zu manipulieren. Ist mein Eindruck richtig, daß das fast jeder Regierung unterstellt wird, die skeptisch zur NATO steht?

Diese Vorwürfe gibt es, in dieser Pauschalität sind sie für die Ukraine eher nicht berechtigt. Bei Wahlbeobachtungen spielen natürlich auch immer geostrategische Interessen eine Rolle, das sollte man berücksichtigen.

Wie bewerten Sie den Wahlausgang politisch?

Die bisher schon regierende Partei der Regionen unter Führung des als rußlandfreundlich geltenden Janukowitsch bekam 35 Prozent. Die Kommunistische Partei (KP), die mit dem Wahlsieger teilweise kooperiert, hat deutlich auf gut 15 Prozent zugenommen. Sie hatte einen sehr intensiven Wahlkampf geführt und dabei als einzige Partei soziale Themen in den Vordergrund gerückt, etwa die Rente. Man muß allerdings wissen, daß die KP kulturell sehr rückständig ist, sie hat z. B. ein neues Gesetz mitunterzeichnet, das Homosexuelle diskriminiert.

Die Vaterlandspartei der inhaftierten Politikerin Julia Timoschenko erreichte 22 Prozent, etwa neun Punkte mehr als Udar (Faustschlag), die Partei von Boxweltmeister Vitali Klitschko. Bedrohlich ist, daß die faschistische Svoboda-Partei mit fast acht Prozent gut abgeschnitten hat. Sie steht in der Tradition der ukrainischen Nazikollaborateure und ist extrem antirussisch. Wie mir berichtet wurde, soll auf ihren Demonstrationen unter anderem der Spruch zu hören sein: Tötet alle Russen! In ihrem Programm fordert Svoboda, daß die Ukraine aus allen Organisationen austreten soll, in denen Rußland Mitglied ist. Die Partei ist obendrein antisemitisch – alles klassische Themen einer faschistischen Partei. Sie will außerdem, daß die Ukraine Atommacht wird.

Wie reagieren die anderen Parteien auf Svoboda?

Ich finde es sehr bedenklich, daß z.B. die Vaterlandspartei von Timoschenko mit diesen Leuten Bündnisse eingeht. Es gab Absprachen über Listen für die Direktkandidatur, es gibt auch schon eine Vereinbarung über die künftige Zusammenarbeit im Parlament. Absprachen existieren wohl auch mit der Partei Udar (Faustschlag) von Boxweltmeister Vitali Klitschko. Es wäre gut, wenn der Westen von diesen beiden Parteien eine klare Abgrenzung einfordern würde.

Wie haben Sie die Stimmung in der Bevölkerung empfunden?

Die sogenannte orangene Revolution hat letztlich dazu geführt, daß sich die Menschen von deren Anführern entfremdet haben – also von Wiktor Juschtschenko und Timoschenko. Es gibt darüber hinaus ein weitverbreitetes Unbehagen über den Einfluß wirtschaftlich mächtiger Oligarchen auf Politik, Parlament und Wahlen. Das betrifft so gut wie alle Parteien. Svoboda nutzt das aus und profiliert sich als Antikorruptionspartei, auch mit Blockaden von Dienststellen, in denen sie Korruption wittern.

Es ist relativ ruhig im Land, die Stimmung ist vielleicht sogar ein wenig apathisch. Es wäre aber falsch zu meinen, daß die Wähler von Svoboda auch allesamt Faschisten sind. Ich habe zum Beispiel linke Gewerkschafter getroffen, die sie gewählt haben, weil sie zum einen weniger korrupt als die anderen Parteien ist und zum anderen verspricht, frischen Wind in die Politik zu bringen.

Interview: Peter Wolter

**Andrej Hunko (Die Linke) ist Mitglied im EU-Ausschuß des Deutschen Bundestages

Aus: junge Welt, Dienstag, 30. Oktober 2012


Wachsender Antisemitismus in der Ukraine

Erklärung des Außenministeriums:

„Israel verleiht seiner Besorgnis angesichts der wachsenden Stärke extremistischer antisemitischer Elemente in der Ukraine Ausdruck und angesichts der Wahl der Svoboda-Partei, deren Mitglieder häufig rassistische und antisemitische Positionen vertreten haben, in das ukrainische Parlament.

Israel erwartet von der ukrainischen Regierung, jeder Manifestierung von Rassismus und Antisemitismus entschieden entgegenzutreten.

(Außenministerium des Staates Israel, 31.10.12)
Quelle: Newsletter der israelischen Botschaft in Berlin, 1.11.2012.




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