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Gespaltenes Land

Analyse. Die Ukraine vor den Präsidentenwahlen. Was kommt nach Juschtschenko?

Von Willi Gerns *

Vor fünf Jahren wurde Viktor Juschtschenko, unterstützt durch USA und EU, von der »orangen Revolution« in den Sessel des ukrainischen Präsidenten gehievt. Juschtschenko und seine damals engste Mitstreiterin Julia Timoschenko versprachen Demokratie und Transparenz in Politik und Wirtschaft, die energische Bekämpfung der Korruption, wachsenden Wohlstand und die baldige Integration des Landes in die EU.

Heute, im Vorfeld der für den 17. Januar 2010 angesetzten nächsten Präsidentenwahlen, haben sich die damaligen Ankündigungen in Schall und Rauch aufgelöst. Der Enthusiasmus und die Illusionen der Demonstranten, die damals auf dem Majdan, dem »Platz der Unabhängigkeit« in Kiew, für Juschtschenko auf die Straße gingen, sind verflogen. Statt Demokratie herrscht politisches Chaos, statt Transparenz ist die Verflechtung von Politik und Oligarchenmacht noch intensiver und die Korruption noch grassierender geworden, die soziale Lage der breiten Massen ist unerträglich, und die versprochene Integration in die EU erweist sich als Fata Morgana. Orange ist gescheitert. Ausdruck dafür ist die anhaltende politische und gesellschaftliche Krise der Ukraine.

Politisches Machtgerangel

Die politische Krise hatte bereits wenige Monate nach dem Sieg von Orange mit der Entlassung Timoschenkos aus dem Amt der Ministerpräsidentin im September 2005 ihren Anfang genommen. Seit dieser Zeit wurden die Ukrainer dreimal zur Wahl eines neuen Parlaments an die Urnen gerufen. Fünf unterschiedliche Regierungen folgten seit Anfang 2005 aufeinander. 2007 kam es zu wochenlangen Protesten und Blockaden vor dem Verfassungsgericht. Gegenseitige Beschimpfungen der beiden ehemaligen orangen Ikonen Juschtschenko und Timoschenko in den Medien gehören zum politischen Alltag. Das Parlament war in der seit Ende 2007 laufenden Legislaturperiode häufiger durch Tribünenbesetzungen arbeitsunfähig als mit seinen von der Verfassung vorgegebenen Aufgaben beschäftigt.

Zu den wesentlichen Ursachen dieser politischen Dauerkrise gehören zumindest die folgenden:

Erstens das fast krankhafte Machtstreben der beiden orangen Hauptakteure Juschtschenko und Timoschenko. Es macht Kompetenzstreitigkeiten geradezu unausweichlich und Teamarbeit zwischen Präsident und Ministerpräsidentin unmöglich. Die Konkurrenz zwischen ihnen hat sich inzwischen zu erbitterter persönlicher Feindschaft ausgewachsen.

Zweitens. Begünstigt wird das Machtgerangel nach Meinung von Experten durch eine mangelhafte Abgrenzung der Kompetenzen zwischen dem Präsidenten, dem Ministerpräsidenten und dem Parlament in der ukrainischen Verfassung.[1]

Drittens. Zur politischen Dauerkrise trägt auch die besonders enge Verflechtung der Politik mit den die Wirtschaft beherrschenden Oligarchen bei. Während sich die Raubritter der Privatisierung des Volkseigentums und ihre Seilschaften bis zur »orangen Revolution« um Präsident Leonid Kutschma gruppiert hatten, fand sich die Mehrzahl von ihnen nach der Übernahme der Präsidentschaft durch Juschtschenko nunmehr im orangen Lager wieder. Das kommt auch in der Zahl der Parlamentssitze zum Ausdruck, die direkt von dieser Spezies besetzt werden. So sitzen gegenwärtig fünf orange Oligarchen und drei aus dem blauen Lager der Partei der Regionen von Viktor Janukowitsch in der Werchowna Rada. Die Einflußnahme der Oligarchen auf die Politik beschränkt sich allerdings keineswegs darauf. Sie wird mehr noch verdeckter, über Vertrauensleute in Parlament und Staatsapparat sowie über die Finanzierung der ihre Interessen vertretenen Parteien ausgeübt. Bei einer derartigen Verflechtung von Politik und Großkapital werden die Konkurrenzkämpfe der verschiedenen Oligarchenclans nicht zuletzt auch über die politischen Institutionen ausgetragen, was deren Instabilität erhöhen muß.

Viertens. Befördert wird die politische Dauerkrise auch dadurch, daß die Ukraine politisch, wirtschaftlich und ethnisch-kulturell ein tief gespaltenes Land ist. Zwischen dem Osten und Süden auf der einen und dem Westen sowie Teilen des Zentrums auf der anderen Seite verläuft ein tiefer Riß. Im Osten und Süden dominiert politisch das Blau der Partei der Regionen. Hier befinden sich die industriellen Zentren des Landes. Die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung ist russischsprachig und auf Rußland orientiert. Im Westen und auch im Zentrum überwiegt politisch bei weitem die Farbe Orange. In der Wirtschaft herrschen hier kleine und mittlere Betriebe sowie die Landwirtschaft vor. Die deutliche Überzahl der Bevölkerung ist nach Sprache und Kultur national-ukrainisch und eher in Richtung Westen ausgerichtet.[2]

Wirtschaftskrise und soziale Misere

Eng verbunden mit der politischen Dauerkrise ist die wirtschaftliche und soziale Misere in der Ukraine. Zwar konnten nach einem nur mageren Zuwachs des realen Bruttoinlandsprodukts (BIP) von 2,6 Prozent im Jahr 2005 in den Jahren 2006 und 2007 Wachstumsraten von jeweils 7,3 Prozent erreicht werden. Wesentlich dazu beigetragen haben allerdings die infolge des globalen Wirtschafts- und Rohstoffbooms jener Jahre gestiegenen Preise für Stahl und andere Metalle, die einen Anteil von mehr als 40 Prozent an den ukrainischen Exporten haben.

Im Jahr 2008 wurde die Ukraine dann von der internationalen kapitalistischen Finanz- und Wirtschaftskrise getroffen. Während das reale BIP in den ersten drei Quartalen 2008 noch um 6,7 Prozent im Vergleich zum entsprechenden Vorjahrszeitraum gewachsen war, ging es im vierten Quartal um rund neun Prozent zurück. So ergab sich für das Gesamtjahr nur noch ein relativ geringer Zuwachs von 2,1 Prozent. In den ersten neun Monaten 2009 stürzte das BIP dann nach Berechnungen der Zentralbank der Ukraine um 15,2 Prozent ab. Für das Gesamtjahr 2009 prognostizieren der Weltwährungsfonds (IWF) und die ukrainischen Behörden einen Rückgang des BIP um 14 Prozent. Noch härter traf es die Industrieproduktion, die in den ersten neun Monaten 2009 im Vergleich zum entsprechenden Vorjahreszeitraum um 28,4 Prozent zurückging. Der Export ist zwischen Januar und August auf 50 Prozent und der Import auf 46,2 Prozent des entsprechenden Vorjahresniveaus abgesackt.[3]

Die Ukraine wurde damit wesentlich härter von der internationalen Krise getroffen als die meisten anderen kapitalistischen Länder. Ein wichtiger Grund dafür liegt sicher in der einseitig auf Rohstofförderung sowie Stahl- und andere Metallexporte ausgerichteten ukrainischen Wirtschaft, die zudem zum großen Teil noch aus Produktionskapazitäten besteht, die bereits während der Sowjetperiode geschaffen wurden. Sie wurden von den Oligarchen im Interesse des schnellen Profits rücksichtslos verschlissen und kaum erneuert.

Hinzu kommt, daß staatliche Antikrisenmaßnahmen nur mit Verzögerung und halbherzig eingeleitet wurden. Das dürfte mit der enormen Staatsverschuldung und einer drohenden Zahlungsbilanzkrise zusammenhängen, die nur durch Kreditzusagen des IWF in Höhe von 16,5 Milliarden US-Dollar abgemildert werden konnte. Die Kredite haben allerdings eine noch höhere Verschuldung zur Folge und sind mit Bedingungen verbunden, die in den nächsten Jahren den Ukrainern noch schwerere Belastungen aufbürden werden.[4] Antikrisenmaßnahmen der Regierung wurden zudem durch Blockaden des Präsidenten behindert.

Im Zusammenhang mit der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise ist die ohnehin äußerst schwierige soziale Lage der einfachen Menschen noch unerträglicher geworden. Nach Angaben Natalja Witrenkos von der Progressiven Sozialistischen Partei der Ukraine liegt das durchschnittliche Einkommen in ihrem Land heute bei einem Zehntel des Durchschnittseinkommens in Deutschland. 70 Prozent der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze. Die durchschnittliche Lebenserwartung beträgt 66,6 Jahre, wobei die Hälfte der Männer nicht einmal 60 Jahre alt wird. Von den 46 Millionen Einwohnern, die das Staatskomitee für Statistik für September 2009 angibt, müßten eigentlich laut Witrenko sieben Millionen Menschen abgezogen werden, die das Land verlassen haben, um im Ausland Arbeit zu finden.[5]

Zwischen Januar und August 2009 sind die Reallöhne im Vergleich zum entsprechenden Vorjahreszeitraum um 10,3 Prozent gesunken. Und die Auszahlung dieser Hungerlöhne verzögert sich häufig um mehrere Monate. Die ausstehende Lohn- und Gehaltssumme hat zwischen Januar und August dieses Jahres um 36 Prozent zugenommen. Die durchschnittliche offizielle Zahl der Arbeitslosen betrug in diesem Zeitabschnitt 9,9 Prozent.[6]

Wer sind die Favoriten? Auf dem Hintergrund der dargestellten politischen, wirtschaftlichen und sozialen Krise finden im nächsten Monat die Präsidentschaftswahlen statt, sofern Juschtschenko und seine Mannschaft den Urnengang nicht noch unter einem Vorwand verhindern, um das Ruder nicht aus der Hand geben zu müssen. Bei sauberen Wahlen tendieren die Aussichten des derzeitigen Amtsinhabers gegen null, wie alle Meinungsumfragen seit längerer Zeit belegen.

Danach liegt die Zustimmung für Juschtschenko zwischen drei und maximal fünf Prozent. Seit Monaten führt dagegen Janukowitsch, der Führer der Partei der Regionen und einstige Hauptwidersacher Juschtschenkos während der »orangen Revolution«. Für ihn wollen sich nach den unterschiedlichen Umfragen 23 bis 35 Prozent der Wähler entscheiden. Auf dem zweiten Platz liegt die derzeitige Ministerpräsidentin Timoschenko mit Zustimmungsraten zwischen 16 Prozent und 22 Prozent.[7]

Nach der jüngsten Umfrage des Meinungsforschungsinstituts »FOM-Ukraine« wären am 29. November 29,8 Prozent der Stimmen auf Janukowitsch und 14,8 Prozent auf Timoschenko entfallen, wenn an diesem Tag gewählt worden wäre. Die meisten Kommentatoren gehen davon aus, daß die Entscheidung über den neuen Präsidenten in einem zweiten Wahlgang zwischen diesen beiden Kandidaten fallen wird. Nach der jüngsten Umfrage hätte dabei Janukowitsch mit 41,2 Prozent Zustimmung rechnen können, seine Konkurrentin mit 25,2 Prozent.

Bis vor kurzem schien noch ein dritter Bewerber in den Kreis der Favoriten aufzusteigen, der erst 35jährige Arseni Jazenjuk, der zum Orangelager gehört und bereits Außenminister und Parlamentspräsident war. Nachdem Juschtschenko abgewirtschaftet hat, setzte man im Westen große Hoffnungen auf ihn. Westliche Berater hatten ihm wohl auch geraten, sich mit Blick auf die russischsprachigen Wähler zumindest verbal vom offen antirussischen Kurs seines einstigen Mentors Juschtschenko zu lösen. Auf der »6. Yalta European Strategy Conference: Ukraine and the World after the Crisis« (Jalta, 24. bis 27. September 2009) appellierte er jedenfalls für eine Aussöhnung mit Rußland.[8] Inzwischen liegt Jazenjuk bei den Umfragen aber nicht über zehn Prozent und dürfte damit nach Ansicht von Ukraine-Experten kaum noch eine Chance haben, in eine Stichwahl zu kommen.

Neben den erwähnten stellt sich eine Reihe weiterer Kandidaten zur Wahl, darunter Petro Simonenko, der Vorsitzende der Kommunistischen Partei der Ukraine als Kandidat eines Wahlbündnisses linker und linkszentristischer Gruppen. Zum Kreis der Favoriten gehört er aber nicht, da das kommunistische Wählerpotential, das bei den Parlamentswahlen 2002 noch bei 20 Prozent lag, durch die Zuspitzung der Entscheidung auf Blau oder Orange bei den Urnengängen seit 2004 weitgehend durch Blau (Janukowitsch und seine Partei der Regionen) aufgesogen wurde.

Was verbindet Janukowitsch und Timoschenko mit dem bisherigen Amtsinhaber? In welchen politischen Positionen unterscheiden sie sich von Juschtschenko und untereinander?

Das Grundsätzliche, das alle drei verbindet, besteht darin, daß sie politische Interessenvertreter der ukrainischen Kapitalistenklasse und insbesondere deren herrschender Schicht, der Oligarchen sind. In den grundsätzlichen Klassenpositionen stimmen sie darum überein. Dabei sind sie allerdings jeweils stärker mit den einen oder anderen Oligarchenclans verbandelt, was durchaus in Teilfragen der Wirtschaftspolitik und anderer Politikbereiche zu unterschiedlichen Sichtweisen und Schwerpunktsetzungen führen kann.

Und natürlich muß jeder von ihnen in gewissem Maße auch Rücksicht auf die politischen Stimmungen und ethnisch-kulturellen Präferenzen der Wählerinnen und Wähler nehmen, auf die er bzw. sie sich stützt. So vertreten Juschtschenko und Timoschenko, die vor allem das Wählerpotential im Westen und im Zentrum mit seiner zu 98 Prozent bzw. 64 Prozent ukrainischsprachigen Bevölkerung hinter sich haben, z.B. in der Kultur- und Sprachenpolitik einen stramm nationalukrainischen Kurs der Exklusivität des Ukrainischen als alleiniger Amtssprache. Janukowitsch, der seine Basis im Osten und Süden hat, wo 91 Prozent bzw. 76 Prozent russischsprachig sind, forderte dagegen bisher die Einführung des Russischen als zweite Amtssprache und die uneingeschränkte Präsenz des Russischen im öffentlichen Raum.

Im Wahlkampf hat er nun allerdings seine Forderung abgeschwächt. Er erklärte, daß er als Präsident die Verfassung nicht ändern wolle (was erforderlich wäre, um Russisch zur zweiten Amtssprache zu machen). Vielmehr solle ein den Anforderungen der Europäischen Charta über die Regionalsprachen entsprechendes Sprachengesetz beschlossen werden. Im Klartext heißt dies, daß die russischsprachige Bevölkerung sich nur in den Gebieten ihrer Muttersprache in öffentlichen Institutionen bedienen darf, in denen überwiegend Russisch gesprochen wird.

Dieses Manöver dient ganz offensichtlich dem Ziel, sein Image im nationalukrainisch ausgerichteten Wählerpotential aufzupolieren. Darauf zielt auch seine plötzliche Kritik am russisch-ukrainischen Gasvertrag ab. In faktischer Übereinstimmung mit seinem einstigen Erzfeind Juschtschenko (der ihm bei diesem Urnengang nicht gefährlich werden kann) stellt er das von seiner Konkurrentin Timoschenko mit Putin ausgehandelte Gasabkommen in Frage. So wurde er am 10. Dezember vom Pressedienst seiner Partei mit den Worten zitiert: »Wenn ich die Präsidentenwahl gewinne, will ich unbedingt den Gasvertrag mit Rußland wieder ansprechen. Wenn es nicht gelingt, uns mit Rußland zu verständigen, werden wir andere Optionen suchen.« Er fügte hinzu, der aktuelle Preis für das russische Gas sei für die ukrainische Wirtschaft unerschwinglich.

Unterschiede in der Außenpolitik

Deutlich sind die Unterschiede zwischen Jusch­tschenko, Janukowitsch und Timoschenko in der Außenpolitik. Zum Kern der außenpolitischen Konzeption Juschtschenkos bemerkt der Osteuropaexperte Alexander Rahr von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, der Präsident habe versucht, »die Ukraine neben Georgien und den baltischen Ländern zu einer 'Front für die Verteidigung der Freiheit' gegenüber einem vermeintlich neoimperialistischen Rußland aufzubauen - in der Hoffnung auf schnelle Aufnahme in die NATO und EU.«[9] Seinen deutlichsten Ausdruck hat dieser Kurs in der bedingungslosen Unterstützung des Abenteurers Saakaschwili während des von diesem angezettelten Kaukasus-Krieges vom August 2008 sowie in den Versuchen Juschtschenkos gefunden, das von Ministerpräsidentin Timoschenko mit Rußland ausgehandelte Gasabkommen zu verhindern bzw. rückgängig zu machen, um einen neuen Gaskonflikt mit Rußland zu provozieren.

Timoschenko, die während der »orangen Revolution« ebenfalls einen deutlich antirussischen und radikal prowestlichen Kurs verfolgt hatte, vertritt seit einiger Zeit im Verhältnis zu Rußland, aber auch bezüglich einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine pragmatischere Positionen. Dafür stehen ihr Beitrag zu den erfolgreichen russisch-ukrainischen Gasverhandlungen, ihre Haltung während des Kaukasus-Krieges sowie ein vorsichtigerer Umgang mit der Frage einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine.

Ihre Haltung während des Kaukasuskrieges beschreibt der Politologe André Härtel folgendermaßen: Im Gegensatz zu Präsident Jusch­tschenko »entschied sich Ministerpräsidentin Julia Timoschenko schon vor Beilegung der Kampfhandlungen, eine Position der außenpolitischen Neutralität einzunehmen. Dabei vermied es die ansonsten als überzeugte Nationalistin geltende Timoschenko ganz offensichtlich, von einer russischen Aggression zu sprechen und schloß sich erst am 2. September offiziell internationalen Forderungen nach der territorialen Unversehrtheit Georgiens an.«[10]

Zur Frage einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine hat sich Julia Timoschenko auf der bereits erwähnten »6. Yalta European Strategy Conferenz« geäußert. In dem Beitrag von Alexander Rahr über diese Konferenz heißt es dazu: »Timoschenko verwies auf große Zurückhaltung in der ukrainischen Bevölkerung gegenüber einem NATO-Beitritt und erklärte, sie wolle eher mit der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) kooperieren. Die Ukraine solle nicht vor die Wahl gestellt werden, entweder proeuropäisch oder prorussisch zu werden. Ihr Land, so Timoschenko, möchte sich nicht zwischen 'Vater und Mutter' entscheiden.« Zugleich tritt Timoschenko allerdings weiterhin unmißverständlich für das Ziel einer EU-Mitgliedschaft ihres Landes ein.

Zu den Gründen, die die einstige Mitstreiterin Juschtschenkos dazu bewogen haben, sich von dessen Kurs durch beweglichere Positionen abzusetzen, könnten die praktischen Erfahrungen als Regierungschefin gehören. Sie dürften gezeigt haben, daß für die Ukraine in der Brückenlage zwischen Rußland und der EU Konfrontation mit ihren Nachbarn nur zum Schaden sein kann und pragmatische Beziehungen lebenswichtig sind. Zudem macht der totale Absturz Juschtschenkos in der Wählergunst deutlich, daß auch die Mehrheit des Wahlvolkes die Konfrontation mit Rußland und eine einseitige radikale Westorientierung nicht honoriert. Meiner Auffassung nach ist das der entscheidende Beweggrund für Timoschenko. Wie oben dargelegt, ist sie eine nach uneingeschränkter Macht strebende Politikerin. Darum will sie um jeden Preis das Präsidentenamt erobern, das in der ukrainischen Verfassung mit den größten Machtbefugnissen ausgestattet ist. Die für einen Wahlsieg erforderliche Mehrheit ist aber nur bei einer beweglichen Politik zu erreichen. Diese soll sowohl den Einfluß in ihren stärker nach Westen ausgerichteten Hochburgen sichern als auch gleichzeitig durch entsprechende Zugeständnisse Einbrüche in die mehr auf Rußland orientierte Wählerschaft Janukowitschs ermöglichen.

Trotz des beweglicheren Kurses von Timoschenko bleiben in der Außenpolitik deutliche Unterschiede zwischen ihr und Janukowitsch bestehen. So hat Janukowitsch im Zusammenhang mit dem Kaukasus-Krieg im Unterschied zu Timoschenko nicht nur auf Kritik an Rußland verzichtet, sondern den russischen Standpunkt unterstützt, und dies bis hin zu der Forderung, daß die Ukraine Abchasien und Südossetien als unabhängige Staaten anerkennen solle. Die Frage nach einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine beantwortet er eindeutiger als Timoschenko. Er lehnt diese ab und tritt für einen blockfreien Status des Landes ein. Er spricht von »Euroromantizismus«, der in der Ukraine verflogen sei. Damit stuft er die Frage eines EU-Beitritts zurück, ohne diesen allerdings als erstrebenswertes Ziel ausdrücklich zugunsten einer wirtschaftlichen Anbindung an Rußland zu verwerfen.[11]

Was die Aussagen zu wirtschaftlichen und sozialen Fragen betrifft, so versuchen sowohl Juschtschenko als auch die beiden Favoriten, sich in ihren Wahlprogrammen gegenseitig in unerfüllbaren Versprechungen zu übertreffen. Von seriösen Kommentatoren werden sie darum nicht ernst genommen. Der ukrainische Journalist Juri Durkot nennt sie »durch und durch populistisch«. Und die Internetzeitung »Glawred« urteilt, dies seien »keine Programme im eigentlichen Sinne, sondern eher Listen von Versprechungen, mit denen die Wähler geködert werden sollen«.[12]

An Spekulationen darüber, wer letztlich Juschtschenko ablösen wird und welche neuen Akzente es dann in der ukrainischen Politik geben könnte, wollen wir uns nicht beteiligen. Letzteres hängt von vielen Faktoren ab, darunter vom Druck, den die wirtschaftlich Mächtigen in der Ukraine auf den oder die Neue(n) im höchsten Staatsamt ausüben werden, von der Einflußnahme der EU und der USA einerseits und Rußland andererseits, vom Druck der internationalen Gläubiger des hochverschuldeten Landes. Aber natürlich wird auch eine Rolle spielen, wie die Bevölkerung in den verschiedenen Landesteilen für ihre sehr unterschiedlichen spezifischen Anliegen aktiv wird. Nicht zuletzt wird vieles vom Kampf der ukrainischen Arbeiterklasse und anderer demokratischer Kräfte für die Verteidigung ihrer Interessen abhängen.

Fußnoten
  1. Siehe Nico Lange und Anna Reismann: »Die politische Dauerkrise und Probleme der ukrainischen Verfassungsordnung«, in: ukraine-analysen 64/2009; Gerhard Simon: »Das Ende der Ära Juschtschenko und die Zukunft der Ukraine«, in: ukraine-analysen 65/2009, hrsg. von der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen
  2. Nach einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts FOM-Ukraine vom November 2008 benutzen im Osten der Ukraine 91 Prozent und im Süden 76 Prozent die russische Sprache im Alltag. Im Westen trifft dies mit 98 Prozent und in der Mitte mit 64 Prozent für Ukrainisch zu. (Siehe ukraine-analysen 49/2008)
  3. Wirtschaftsdaten, soweit nicht anders belegt, nach dem Ukrainischen Staatskomitee für Statistik (www. krstat.gov)
  4. siehe Hannes Hofbauer: »Im Griff des IWF«, jW-Thema v. 22.10.2009
  5. www.solidaritaet.com/neuesol/2009/45/natalja/htm
  6. Ukrainisches Staatskomitee für Statistik ( www.ukrstat.gov)
  7. siehe Gerhard Simon in ukraine-analysen 65/2009 (Anmerkung 1)
  8. siehe Alexander Rahr: »Fünf Jahre nach der Orangenen Revolution in der Ukraine: Zurück in die Zukunft?«, in: DPAG aktuell, Oktober 2009, Nr. 7
  9. siehe ebenda
  10. André Härtel: »Interner Machtkampf dominiert Kiews Außenpolitik. Die politische Elite der Ukraine und der russisch-georgische Konflikt«, in: ukraine-analysen 43/2008
  11. siehe Anmerkungen 8 und 9
  12. Juri Durkot: »Der Kampf um die Macht in der Ukraine«, zit. n. Wostok, Nr.4 (Herbst 2009)
* Aus: junge Welt, 18. Dezember 2009


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