Nostalgie und Frust zum Jubiläum
Kiewer Wende brachte nicht erhoffte Resultate
Von Manfred Schünemann*
Zehntausende feiern dieser Tage in der Ukraine nostalgisch den Jahrestag des Beginns jener
stürmischen Ereignisse, die nach Wahlmanipulationen zur Machtübernahme von Viktor Juschtschenko
führten und von vielen euphorisch »Revolution in Orange« genannt wurden. Doch es gibt
auch Demonstrationen des Protestes und tiefen Frustes.
Vor allem zwei Aspekte mobilisierten vor einem Jahr die Massen: Zum einen war es große
Unzufriedenheit mit dem Kutschma-Regime, das sich durch Korruption, Vetternwirtschaft und
Machtmissbrauch den uneingeschränkten Zugriff auf die politische und wirtschaftliche Macht
sicherte. Zum anderen war das Streben nach Teilhabe an den Vorzügen der europäischen
Integration und nach Überwindung der Abgrenzung vom Westen eine Triebkraft. Beides schürte im
In- und Ausland Illusionen über einen raschen, grundlegenden Wandel der ukrainischen
Gesellschaft in Richtung Demokratisierung, was durch die Verwendung des Begriffes »Revolution«
für einen politischen Machtwechsel verstärkt wurde.
Inzwischen machen sich allenthalben Enttäuschung, Unzufriedenheit und Zweifel breit. Nach
neuesten Umfragen ist über die Hälfte der Bevölkerung von den Ergebnissen des Machtwechsels
enttäuscht und sieht kaum einen Wandel zum Positiven. Der lauthals verkündete Systemwechsel
blieb weitgehend nur Deklaration.
Die Machtmechanismen funktionieren trotz einiger personeller und struktureller Veränderungen
unverändert. »An der Macht«, so Oleksandr Turtschinow zur Begründung seines Rücktritts als Chef
des Nationalen Sicherheitsdienstes (SBU), »sind Leute, die zum früheren System zurück wollen
oder die von Anfang an keinerlei Veränderungen anstrebten.« Vor allem die Verflechtungen
zwischen Wirtschaft, Politik und Verwaltung bestehen fort und bilden nach wie vor den Nährboden
für Korruption. Neue Vorwürfe gibt es bereits im Zusammenhang mit dem Wiederverkauf früher
privatisierter Staatsunternehmen.
Bis auf die Kommunisten ist fast vollständig die parlamentarische Opposition verschwunden, was
durch eine Vereinbarung zwischen Juschtschenko und Janukowitsch, den Hauptgegnern der
damaligen Auseinandersetzungen, über die Zusammenarbeit zwischen den beiden
Kräftegruppierungen noch verstärkt wird. Unterschiedliche Positionen in der Wirtschafts- und
Sozialpolitik, vor allem hinsichtlich der Überprüfung von Privatisierungsgeschäften während der
Amtszeit von Leonid Kutschma, führten im September zur erneuten Zuspitzung der innenpolitischen
Lage und zum offenen Bruch zwischen den Hauptakteuren des Machtwechsels.
Hintergrund war neben der Verunsicherung der Finanz- und Wirtschaftsgruppen sowie der
ausländischen Teilhaber und Investoren angesichts des unklaren Kurses der Regierung
Timoschenko auch der dramatische Rückgang der Leistungskraft der Wirtschaft im ersten Halbjahr.
Das Bruttoinlandsprodukt hatte nur noch einen Zuwachs von 2,5 Prozent (gegenüber zwölf Prozent
im Vorjahr) und war im August sogar um 1,6 Prozent geringer als im Vergleichsmonat des Vorjahres.
Durch die Entlassung Julia Timoschenkos als Ministerpräsidentin konnte Juschtschenko seine
Position zunächst festigen. Im Vorfeld der Parlamentswahlen im März nächsten Jahres wird sich
aber sehr rasch zeigen, dass die Popularität Timoschenkos ungebrochen ist und ihre radikaleren
Vorstellungen vom Gesellschaftswandel nach wie vor ein großes Stimmenpotenzial binden. Für eine
erneute Machtübernahme benötigt sie aber die Unterstützung anderer Gruppierungen.
Entscheidungen darüber sind Anfang nächsten Jahres zu erwarten, wobei auch ein erneutes
Zusammengehen mit dem Juschtschenko-Block (oder Teilen davon) nicht auszuschließen ist.
Auf außenpolitischem Gebiet wurde ein klarer Richtungswechsel eingeleitet. An Stelle einer
Schaukelpolitik zwischen Russland und dem Westen wird die Politik nunmehr – so Juschtschenko –
»ausschließlich vom Ziel der Integration in die europäischen und euro-atlantischen Strukturen«
bestimmt. Wie in der Innenpolitik besteht allerdings auch auf außenpolitischem Gebiet ein markanter
Unterschied zwischen deklarierter Zielsetzung und realer Umsetzung.
Weder gelang es bisher, von der WTO den Status einer Marktwirtschaft zu bekommen, noch war die
EU bereit, eine klare Beitrittsperspektive auszusprechen. Die Ablehnung der Europäischen
Verfassung bei Volksabstimmungen, die Diskussionen über die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei
und die Zunahme der Kritik an den Entscheidungen zum Beitritt Rumäniens und Bulgariens haben
zudem auch in der ukrainischen Öffentlichkeit zu einer deutlichen Ernüchterung geführt. Eher
pragmatisch wird jetzt die Position vertreten, die Ukraine könne auch ohne klare Beitrittsperspektive
alle EU-Kriterien erfüllen, um dann von einer gewissen »Position der Stärke« aus der Forderung
nach dem Beginn von Beitrittsverhandlungen Nachdruck zu verleihen.
Sicher nicht zufällig wurde bei der Regierungsumbildung im September auf einen gesonderten
»Integrationsminister« verzichtet und das Verhältnis zu Russland betont. Außenminister Boris
Tarasjuk, der für seine prowestlichen Positionen bekannt ist, zeigte sich überzeugt, dass die
nunmehrige Regierung Jechanurow die Beziehungen zu Russland »in konstruktiver Weise«
entwickeln werde, und bezeichnete den Präsidenten als »Garanten« dafür.
Ein Jahr nach den politischen Ereignissen in Kiew ist die Ukraine aus der Berichterstattung der
internationalen Medien fast verschwunden. Politiker und Medienvertreter des Westens, die den
Machtwechsel massiv unterstützten und halfen, ihn zu organisieren, zeigen sich heute eher
ernüchtert. Einige zweifeln inzwischen an der Reformfähigkeit der ukrainischen Gesellschaft generell
oder sehen Realisierungschancen erst in der nächsten Generation.
Enttäuscht kann nur sein, wer sich von dem Machtwechsel einen raschen, grundlegenden Wandel
des Herrschaftssystems versprach oder einen solchen herbeiredete. Ein innerer
Gesellschaftswandel ist ein langfristiger Prozess, zumal sich die äußeren Bedingungen für die
Ukraine nicht verändert haben.
* Aus: Neues Deutschland, 24.11.2005
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