Die ukrainische Sache
Hintergrund. Der deutsche Imperialismus unterstützt prowestliche Kräfte in der Ukraine bereits seit rund 100 Jahren. Ursache war schon im Ersten Weltkrieg das Berliner Bemühen, den Einfluß Rußlands so weit wie möglich zurückzudrängen
Von Jörg Kronauer *
Der »Erfinder der Ukraine« ist Paul Rohrbach mit Sicherheit nicht gewesen. Den zweifelhaften Beinamen hatten dem Mitarbeiter der »Zentralstelle für Auslandsdienst« im Auswärtigen Amt politische Gegner zur Zeit des Ersten Weltkriegs verliehen. Zugegeben, Rohrbach hatte damals viel mit der Ukraine zu tun, die es als eigenständigen Staat noch gar nicht gab, die es nach seiner Auffassung aber geben sollte. Und tatsächlich entwickelte sich Rohrbach zu einem hingebungsvollen Ukraine-Aktivisten, dessen Tätigkeit die deutsch-ukrainischen Beziehungen anhaltend prägen sollte. Noch heute führt ihn die ukrainische Botschaft in Berlin in einem kurzen Abriß über die Geschichte des Verhältnisses zwischen Deutschland und ihrem Staat ausdrücklich auf, was seiner bedeutenden Rolle durchaus entspricht. Aber »Erfinder der Ukraine« – dieser Titel käme denn doch nicht Rohrbach, sondern vermutlich eher einigen Protagonisten der ukrainischen Nationalbewegung zu, die im Laufe des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts nach und nach erstarkte.
Der Gedanke, man könne der ukrainischen Nationalbewegung zu einem eigenen Staat verhelfen, erhielt für Rohrbach und für seine Kollegen im Auswärtigen Amt mit Beginn des Ersten Weltkriegs Überzeugungskraft. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatte Rohrbach, ein im Zarenreich geborener Baltendeutscher, noch Sympathien für ein deutsch-russisches Bündnis gehegt. Dies änderte sich im Laufe der Zeit; spätestens der Kriegsbeginn setzte seinen alten Kooperationswünschen ein Ende. Das Auswärtige Amt entwickelte in seiner »Zentralstelle für Auslandsdienst« Konzepte, die geeignet sein sollten, den Kriegsgegner Rußland zu schädigen und nach einem gewonnenen Krieg die deutsche Hegemonie über die Territorien des damaligen Zarenreichs zu sichern. Paradigmatisch formuliert hatte die Grundgedanken dazu ein Kollege Rohrbachs in der »Zentralstelle«, der Zentrumspolitiker Matthias Erzberger. In seiner Kriegszieldenkschrift vom 2. September 1914 forderte er ehrgeizig, »Rußland sowohl von der Ostsee als auch vom Schwarzen Meer abzuschließen«. Das Mittel der Wahl sei die »Befreiung der nichtrussischen Völkerschaften« im Zarenreich »vom Joch des Moskowitertums und Schaffung von Selbstverwaltung im Innern der einzelnen Völkerschaften«. Rußland zerschlagen, den Teilgebieten Autonomie oder gar Eigenstaatlichkeit zusprechen – das nannte man vornehm »Dekompositionstheorie«. Wer das zerlegte Rußland kontrollieren sollte, war für Erzberger klar: »Alles dies unter militärischer Oberhoheit Deutschlands, vielleicht auch mit Zollunion.« Das klang größenwahnsinnig, aber man führte schließlich eine Kriegszieldiskussion.
»Erziehung zum Nationalismus«
Die Idee, Minderheiten zur Rebellion gegen das Zarenreich zu veranlassen, wurde vom Auswärtigen Amt schon früh operativ angegangen. Wichtige Vertreter des »Bundes zur Befreiung der Ukraine« etwa wurden bereits im ersten Kriegsjahr finanziell unterstützt. Bald darauf begann Berlin auch, mit Hilfe des »Bundes« die ukrainischsprachigen Soldaten unter seinen russischen Kriegsgefangenen indoktrinieren zu lassen: ExilUkrainer begannen in den Gefangenenlagern, Leseunkundige zu alphabetisieren, und verpaßten ihnen Geschichtsunterricht. »Erziehung zum Nationalismus« hat der Historiker Frank Golczewski die Maßnahme genannt. Ukrainische Offiziere wurden schließlich sogar paramilitärisch ausgebildet, um bei passender Gelegenheit auch bewaffnet intervenieren zu können. Unumstritten war das alles damals nicht: So mancher deutsche Diplomat hielt eine Festlegung auf die »ukrainische Sache« für illusionär, für zu teuer oder gar für verkehrt. Dennoch startete Berlin weitere Maßnahmen zur Unterstützung der ukrainischen Nationalbewegung. Die Koordinierung oblag der eigens eingerichteten »Zentralstelle für Auslandsdienst« im Auswärtigen Amt. In ihr wurden, schreibt Golczewski, der die Geschichte der deutsch-ukrainischen Beziehungen von 1914 bis 1939 materialreich aufgearbeitet hat [1], die deutschen Propagandaaktionen in Sachen Ukraine zusammengefaßt.
Paul Rohrbach hat sich damals ausdrücklich zu den politischen Absichten geäußert, die er in und mit der »Zentralstelle« verfolgte. Allgemein plädierte er wie Erzberger für die »Zerlegung des russischen Kolosses in seine natürlichen, geschichtlichen und ethnographischen Bestandteile. Die Teile sind Finnland, die Ostseeprovinzen, Litauen, Polen, Bessarabien, die Ukraine, der Kaukasus und Turkestan.« Oft nutzte er bei öffentlichen Auftritten das Bild, »daß Rußland sich auseinandernehmen läßt wie eine Apfelsine« und daß dabei »bei gehöriger Vorsicht durch keinen Riß und keine Wunde ein Tropfen Saft zu fließen braucht«. Ganz besonders kümmerte sich Rohrbach um die Ukraine, gelegentlich bei PR-Veranstaltungen vor großem Publikum. »Ohne die Ukraina ist Rußland nicht Rußland, hat es kein Eisen, keine Kohle, kein Korn, keine Häfen! (…) Alles große Leben in Rußland muß versiegen, wenn ein Feind die Ukraina packt«, schrieb er in seinem 1916 erschienenen »Weltpolitischen Wanderbuch«. Rohrbach war ein prominenter Publizist; man kann davon ausgehen, daß seine Schrift durchaus wahrgenommen wurde. Die Bedeutung der Ukraine müsse man sich zunutze machen, verlangte er in dem Werk: »Wenn aber der Tag kommt, wo Rußland das Schicksal herausfordert, und dann hat zufällig dort, wo bei uns die Entscheidungen getroffen werden, jemand soviel Kenntnis von den Dingen und soviel Entschlossenheit, daß er die ukrainische Bewegung richtig loszubinden weiß – dann, ja dann könnte Rußland zertrümmert werden.« PR-wirksam preßte der Mitarbeiter des Auswärtigen Amts das Konzept in eine Parole: »Wer Kijew hat, kann Rußland zwingen!«
Plünderungsstrategien
Die Konzepte Rohrbachs und der »Zentralstelle« wurden Anfang 1918 aus der Schublade geholt, als das Deutsche Reich – in einer Position der militärischen Stärke gegenüber dem revolutionären Rußland – in zwei Verträgen das Moskauer Reich zu zerschlagen begann. Noch vor dem Diktatfrieden von Brest-Litowsk, der im März 1918 Rußland aufgezwungen wurde, schloß es im Februar 1918, gleichfalls in Brest-Litowsk, ein Abkommen mit der Ukraine. Diese hatte zuvor als Staat nicht wirklich existiert, wurde also gleichermaßen mit ihrer Anerkennung als Vertragspartner durch das Deutsche Reich zum staatlichen Subjekt erhoben. Im ersten ukrainischen Staat regierten daher faktisch die Deutschen; ihr starker Mann in Kiew war General Wilhelm Groener, vom 28. März bis zum 26. Oktober 1914 Chef des Generalstabs der Heeresgruppe Eichhorn/Kiew. Groener formte die Ukraine zur Kornkammer Deutschlands, während sich deutsche Industrielle mit der ökonomischen Durchdringung des Landes zu befassen begannen. Man wünsche die »ungehinderte Ausfuhr von Eisenerzen« und »Manganerzen«, verkündeten etwa einflußreiche Wirtschaftsbosse am 5. März 1918 in Berlin. Pläne für den Bau von Eisenbahnverbindungen und für die Nutzung der ukrainischen Häfen für den Export wurden erstellt. Mit Billigung durch Groener brachte sich am 29. April 1918 der Großgrundbesitzer Pawlo Skoropadski per Umsturz in Kiew an die Macht. Sein reaktionäres Regime stieß auf wachsenden Widerstand; Kämpfe verarmter Bauern gegen die deutschen Besatzungstruppen folgten. Als Paul Rohrbach, der erfahrene Ukraine-Spezialist aus der »Zentralstelle« des Auswärtigen Amts, im Mai 1918 die Ukraine inspizierte, da mußte selbst er, der entschlossene Befürworter der ukrainischen Eigenstaatlichkeit, zugeben, »die national-ukrainischen Verhältnisse« seien durchaus noch »unfertig«.
Die Politik, die Rohrbach und die »Zentralstelle« während des Ersten Weltkriegs verfolgten und kurz vor Ende des Krieges mit der Gründung der Ukraine zu krönen versuchten, ist paradigmatisch für die deutsche Ukraine-Politik in den kommenden Jahrzehnten geblieben: Ukrainische Nationalisten wurden unterstützt, gegen Rußland bzw. die Sowjetunion in Stellung gebracht und nach ihrer Inthronisierung in Kiew als Verbündete in Anspruch genommen. Rohrbach selbst hat auch nach dem verlorenen Krieg und der Konsolidierung der Sowjetunion nicht von der Ukraine gelassen. Bereits im Frühjahr 1918 hatte er mit Zustimmung des Auswärtigen Amts die Deutsch-Ukrainische Gesellschaft gegründet – damals noch, um die unter deutschem Protektorat gegründete Ukraine »zivilgesellschaftlich« zu unterstützen, ein höchst moderner Gedanke. Im Dezember 1918 – die meisten waren aus naheliegenden Gründen mit gänzlich anderen Dingen beschäftigt – brachte er die erste Nummer der Monatszeitschrift Die Ukraine heraus, die als Organ der Deutsch-Ukrainischen Gesellschaft diente. Darin schrieb er, man müsse unbedingt verhindern, daß die Ukraine wieder Rußland fest eingegliedert werde – denn dann sei sie für die deutsche Wirtschaft verloren. Wenig später bemühte sich ein langjähriger Mitstreiter Rohrbachs in puncto Ukraine, Axel Schmidt, mit einer neuartigen Argumentation um Unterstützung für die gemeinsame Sache. Seine Gedanken wiesen bereits in die Zukunft, in die spätere Zeit der Systemkonfrontation. Jede Kooperation mit Lenin müsse ausgeschlossen werden, erklärte Schmidt. Vielmehr sei die Sowjetunion entschieden zu bekämpfen; dazu aber gelte es, auf die Eigenstaatlichkeit der Ukraine zu setzen: »Das Spiel im Osten ist nur mit dem ukrainischen Trumpf zu gewinnen.«