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Spürbare Kursänderung in der Ukraine

Nach dem Wechsel im Präsidentenamt hat sich das Verhältnis zu Russland verbessert

Von Manfred Schünemann *

Kiew steht dieser Tage im Zeichen des 65. Jahrestages des Sieges über Hitlerdeutschland. Anders als in vergangenen Jahren stehen diesmal wieder das Gedenken an die Millionen Opfer und der Anteil des ukrainischen Volkes am gemeinsamen Kampf aller Völker der Sowjetunion im Mittelpunkt der Feierlichkeiten. Auch das hat der Wechsel im Präsidentenamt bewirkt.

Nationalistische Kräfte und die ehemalige Regierungschefin Julia Timoschenko, die sich noch nicht mit ihrer Niederlage bei der Präsidentenwahl am 7. Februar abgefunden hat, versuchen freilich auch den 9. Mai zur Abrechnung mit der politischen Linie des neuen Präsidenten Viktor Janukowitsch zu nutzen. Sie laufen Sturm vor allem gegen den Kurswechsel im Verhältnis zu Russland.

Zielstrebig hatte die neue Führung begonnen, die in den Jahren der Präsidentschaft Viktor Juschtschenkos angehäuften Belastungen im ukrainisch-russischen Verhältnis abzuwerfen. Überraschend schnell wurde das Abkommen über die Stationierung der Russischen Schwarzmeerflotte in Sewastopol auf der Krim bis 2042 verlängert - im Tausch für einen 30-prozentigen Rabatt auf russische Erdgaslieferungen in den nächsten zehn Jahren. Auch unvoreingenommene Beobachter stellen allerdings die Frage, ob es der innenpolitischen Stabilität der Ukraine nicht dienlicher gewesen wäre, den Stationierungsvertrag zunächst um einen kürzeren Zeitraum zu verlängern. Auch die jüngste »Idee« des russischen Ministerpräsidenten Wladimir Putin, den russischen Gazprom-Konzern mit dem ukrainischen Staatskonzern Naftogas zu »vereinigen«, trifft auf Skepsis. Russland bekäme damit direkten Zugriff auf das ukrainische Rohrleitungssystem. Das national-konservative Lager spricht bereits vom »Verrat nationaler Interessen« und der »Unterwerfung« der Ukraine. Aber auch in Teilen der Bevölkerung wächst die Sorge, die Kiewer Führung könnte mit ihrer Russlandpolitik die Unabhängigkeit der Ukraine aufs Spiel setzen.

Die neuen Verträge mit Russland - weitere Wirtschaftsabkommen sollen beim Besuch des russischen Präsidenten Dmitri Medwedjew Mitte Mai in Kiew unterzeichnet werden - dienen nicht nur der Wiederherstellung des Vertrauens zwischen beiden Staaten, sie haben in erster Linie eine Stabilisierung der Wirtschaft und des Staatshaushalts der Ukraine zum Ziel. Dank der Vereinbarung des Preises für russisches Erdgas konnte die ukrainische Regierung unter Ministerpräsident Nikolai (Mykola) Asarow Ende April endlich den Staatshaushalt 2010 im Parlament bestätigen lassen. Er sieht eine Neuverschuldung von etwa 5 Prozent des geplanten Bruttosozialprodukts vor und entspricht damit der Hauptforderung des Internationalen Währungsfonds (IWF) für die Freigabe der im vergangenen Jahr zurückgehaltenen Tranche eines 16-Milliarden-Dollar-Kredits. Mitte Mai wird eine IWF-Delegation in Kiew erwartet. Nicht ausgeschlossen, dass sie neue Forderungen stellt - besonders Kürzungen im Sozialbereich.

Stimmen in den USA und in der EU, die vor einer »Rückkehr der Ukraine in die Arme Moskaus« warnen, beherrschen zwar noch nicht die Regierungspolitik dieser Staaten, gewinnen aber deutlich an Lautstärke. Nicht zuletzt deshalb betonte Präsident Janukowitsch unmittelbar nach seinem Amtsantritt in Washington und Brüssel, die Ukraine werde an ihrer europäischen Orientierung festhalten. Zugleich warb er um Verständnis für die Ausgleichspolitik gegenüber Russland. Hillary Clinton, die Außenministerin der USA, reagierte denn auch äußerlich gelassen auf die Verlängerung des Abkommens über die Schwarzmeerflotte: Der Vertrag sei »Teil der von Präsident Janukowitsch angekündigten Balancepolitik«, sagte sie.

Tatsächlich belastet die Verbesserung des Verhältnisses zu Russland bisher nicht die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu den wichtigsten EU-Staaten. Auch das für die innenpolitische Stabilität wichtige Verhältnis zu den Nachbarn Polen, Slowakei und Ungarn blieb ohne Störungen. Lediglich die Beziehungen zu Rumänien haben sich deutlich abgekühlt. Ursache sind rumänische Gebietsansprüche im Bereich der Donaumündung und die völkerrechtswidrige Ausgabe rumänischer Pässe an ukrainische Staatsbürger.

Innenpolitisch hat das Janukowitsch-Lager überraschend schnell eine relative Stabilisierung des Kräfteverhältnisses erreicht. Präsident, Regierung und Parlamentsmehrheit blockieren sich nicht mehr gegenseitig, sondern folgen einer gemeinsamen politischen Linie. Ob diese Entwicklung dauerhaft ist, hängt nicht zuletzt davon ab, ob es gelingt, die Kompetenzen der einzelnen Machtorgane durch eine Verfassungsänderung eindeutig voneinander abzugrenzen. Für eine solche Änderung des Grundgesetzes bedürfte es allerdings der Zustimmung mindestens eines Teils der Opposition. Die aber ist darauf bedacht, Entscheidungen wenigstens bis zu den nächsten Regionalwahlen - die in den Herbst verschoben wurden - hinauszuzögern. Bis dahin hoffen die Janukowitsch-Gegner, ihre Niederlage verarbeitet und durch einen Schulterschluss in der Opposition neue Stärke gewonnen zu haben. Bisher ist es Julia Timoschenko und ihren Anhängern jedoch nicht gelungen, die Differenzen mit dem Lager des Altpräsidenten Juschtschenko zu überwinden und eine einheitlich agierende Opposition mit Massenbasis zu bilden. Ihre Proteste gegen die Russlandpolitik des neuen Präsidenten fanden nur begrenzte öffentliche Resonanz und die unwürdigen Aktionen oppositioneller Abgeordneter in der Werchowna Rada stießen auf breite Ablehnung.

Zehn Wochen nach er Amtsübernahme des Präsidenten Janukowitsch hat sich die innenpolitische Lage der Ukraine durchaus beruhigt. Wichtig für eine dauerhafte Stabilisierung wäre es, dass es der neuen Führung gelingt, die Wende in den Beziehungen zu Russland für die Überwindung der Wirtschaftskrise und die Verbesserung der sozialen Lage der Bevölkerung zu nutzen, ohne anderseits den Kurs der europäischen Orientierung zu gefährden.

* Aus: Neues Deutschland, 6. Mai 2010


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