Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Machtkampf auf der Titanic

Ukraine zwischen Pragmatismus und Westorientierung: Offener Streit zwischen ehemaligen Partnern der "orangen Revolution"

Von Tomasz Konicz *

Während die politische Elite der Ukraine sich einen gnadenlosen Machtkampf liefert, taumelt das 46 Millionen Einwohner zählenden osteuropäische Land am Rande des wirtschaftlichen Zusammenbruchs. Um die Zahlungsfähigkeit des zwischen der EU und Rußland gelegenen Staates aufrechtzuerhalten, bemüht sich die ukrainische Regierungschefin Julia Timoschenko derzeit verzweifelt um neue Kredite. Entsprechende Verhandlungen führte sie bereits mit den USA, Japan, China, der EU und selbst Rußland, mit dem die Ukraine noch vor wenigen Wochen einen erbitterten »Gaskrieg« um den in 2009 zu entrichtenden Erdgaspreis führte.

Nun scheint die Ukraine ausgerechnet in Moskau auf offene Ohren zu stoßen. Rußland erklärte sich bereit, zur Deckung des ukrainischen Haushaltsdefizits einen Kredit in Höhe von fünf Milliarden US-Dollar zur Verfügung zu stellen. Die USA signalisierten derweil weitere Verhandlungsbereitschaft.

Eigentlich wurde Kiew vom Internationalen Währungsfonds (IWF) am 6. November 2008 ein Notkredit in Höhe von 16,4 Milliarden US-Dollar gewährt, doch ist das zusehends in eine Depression abdriftende Land nicht mehr in der Lage, die anachronistischen, neoliberalen Bedingungen des IWF zu erfüllen, die an die Kreditvergabe geknüpft waren. Der Währungsfonds forderte unter anderem – in einer Zeit, in der milliardenschwere Konjunkturprogramme allerorten aufgelegt werden – von der Ukraine, das Haushaltsdefizit zu beseitigen. Nachdem die erste, 4,6 Milliarden US-Dollar umfassende Tranche des IWF-Kredits im November ausgezahlt wurde, will der Währungfonds angesichts des ukrainischen Haushaltsdefizits von drei Prozent jegliche weiteren Zahlungen einstellen.

Dabei befindet sich das Land am Schwarzen Meer in einer dramatischen Lage. Es ächzt unter Auslandsschulden in Höhe von 105 Milliarden US-Dollar. Deren Bedienung ist – auch wegen des freien Falls, in dem sich die ukrainische Währung befindet – nahezu unmöglich: 25 Prozent aller Kreditnehmer sind inzwischen im Verzug mit ihren Ratenzahlungen. Im Dezember brach die Industrieproduktion um 25 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum ein. Bereits jetzt sind eine Million Menschen arbeitslos, wobei neuesten Prognosen zufolge binnen weniger Monate bis zu vier Millionen Erwerbslose zu erwarten sind. Die ukrainische Schwerindustrie leidet unter dem Verfall der Stahlpreise, so daß bereits etliche Hochöfen stillgelegt werden mußten. Hinzu kommen die Mehrbelastungen durch die gestiegenen Preise für russisches Erdgas.

Trotz dieser düsteren Aussichten nutzen der ukrainische Präsident Viktor Juschtschenko und Julia Timoschenko jede Möglichkeit, sich gegenseitig zu behindern und anzugreifen. Im kommenden Jahr finden in der Ukraine Präsidentschaftswahlen statt, doch führen die ehemaligen Verbündeten und Akteure der westlich finanzierten »orangen Revolution« bereits jetzt Wahlkampf. So kritisierte Präsident Juschtschenko am Dienstag die Kreditverhandlungen mit Moskau als »eine verhängnisvolle Politik, die Gefahren für das nationale Interesse der Ukraine« mit sich bringe. Der Präsident warnte, daß diese Abmachung Rußland die Möglichkeit verschaffe, Kontrolle über die ukrainischen Gaspipelines zu erhalten, die einen Großteil des russischen Erdgases in die EU befördern.

Gerade bei der Energiepolitik brechen immer wieder neue Differenzen zwischen der eher pragmatischen, zwischen Ost und West lavierenden Timoschenko, und dem strikt antirussischen Juschtschenko aus. So kritisiert der Staatschef immer noch den von der Ministerpräsidentin am 19. Januar gefundenen Kompromiß im Gasstreit mit dem Kreml, den er als »unfair« bezeichnet. Gegenüber dem nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrat der Ukraine vertrat der Präsident am Dienstag sogar die Meinung, daß Timoschenko in dieser Hinsicht ihre Autorität klar mißbraucht habe. Zudem will der ukrainische Staatschef gegen den Willen der Ministerpräsidentin das Pipelineprojekt Odessa–Brody realisieren, mit dem kaspisches, vor allem aserbaidschanisches Öl an Rußland vorbei in die EU gelangen könnte.

Nur noch der blanke Machterhalt hält die Regierungskoalition der Parteien Timoschenkos und Juschtschenkos im ukrainischen Parlament zusammen. Einen Mißtrauensantrag, der von der ostukrainischen »Partei der Regionen« des ehemaligen Premiers Viktor Janukowitsch eingebracht wurde, überstand Timoschenko nur knapp. Dennoch zeigte sich Janukowitsch zuversichtlich: »Dies ist der letzte orange Winter der Ukraine.«

* Aus: junge Welt, 13. Februar 2009


Zurück zur Ukraine-Seite

Zurück zur Homepage