Kiew blickt mit Sorge nach Chisinau
Ukraine reagiert gereizt auf Äußerungen des amtierenden Präsidenten Moldovas
Von Manfred Schünemann *
In den seit fast 20 Jahren schwelenden Konflikt um die Moldauische
Dnjestr-Republik, im Westen Transnistrien genannt, könnte Bewegung
kommen. Nach Gesprächen zwischen Vertretern Moldovas und der
völkerrechtlich nicht anerkannten Dnjestr-Republik wurde vereinbart,
wirtschaftspolitische Sanktionen gegenüber den »Abtrünnigen« zu beenden.
Auch in Kiew, Hauptstadt der benachbarten Ukraine, wurde die jüngste
Vereinbarung begrüßt. Schon zuvor hatte die ukrainische Regierung
angekündigt, dass man die noch unter der Präsidentschaft Viktor
Juschtschenkos in Abstimmung mit der EU eingeführten Restriktionen gegen
die Dnjestr-Republik beenden werde. Fortan kann also der Warenaustausch
mit den unmittelbaren Nachbarn östlich des Dnjestr wieder auf direktem
Wege erfolgen - ohne vorherige Genehmigung durch moldauische Behörden
in Chisinau. Auch die direkten Zugverbindungen zwischen Chisinau und
Odessa sowie zwischen Moskau und Südosteuropa verkehren seit dem 1.
Oktober wieder über das Gebiet der Dnjestr-Republik.
Eine endgültige Lösung des Konflikts zwischen Moldova und den
Abtrünnigen am anderen Dnjestr-Ufer ist indes noch fern. Was nicht
zuletzt der instabilen Lage in Moldova selbst geschuldet ist. Dort wird
am 28. November - bereits zum dritten Mal in weniger als zwei Jahren -
ein neues Parlament gewählt. Schon seit geraumer Zeit verfolgt man in
Kiew die Entwicklung bei den Nachbarn mit Sorge: Seit Moldova nach den
Parlamentswahlen im vergangenen Jahr von einer heterogenen Allianz für
Europäische Integration (AEI) regiert wird, betreiben maßgebliche Kräfte
darin immer offener ein Zusammengehen mit Rumänien. Gerade solche
Politik aber hatte nach der Unabhängigkeitserklärung Moldovas im August
1991 den Konflikt mit der Dnjestr-Region ausgelöst. Denn die dortige
Bevölkerungsmehrheit aus Ukrainern und Russen widersetzte sich den
Plänen für einen Anschluss an Rumänien und erhielt im folgenden
Bürgerkrieg (1991/92) militärische Unterstützung durch russische Militärs.
Jüngst äußerte Mihai Ghimpu, der provisorisch als Staatsoberhaupt
fungierende Parlamentspräsident Moldovas, in einem Interview die
Überlegung: »Moldova und die Ukraine hätten nach Erlangung der
Unabhängigkeit auch die Variante eines Gebietsaustausches für
Transnistrien, das nie zu Rumänien gehörte, ins Auge fassen können, wenn
Moldova dafür die nördliche Bukowina und das südliche Bessarabien
erhalten hätte.« Eine scharfe Reaktion von ukrainischer Seite war
vorauszusehen. Bei ukrainisch-rumänischen Konsultationen über strittige
Grenzfragen im Donaudelta erklärte Außenminister Konstantin
Grischtschenko unmissverständlich, Kiew werde »unter keinen Umständen
weder unbewohnte Inseln in der Donau noch ganze ukrainische Regionen
abtreten«.
Grischtschenko reagierte damit nicht nur auf großrumänische Überlegungen
moldauischer Politiker, sondern auch auf die völkerrechtswidrige Ausgabe
rumänischer Pässe an ukrainische Staatsbürger. Gemäß einem rumänischen
Gesetz vom Oktober 2009 können alle, die auf dem Territorium Rumäniens
in den Grenzen von 1940 lebten oder Nachkommen dieses Personenkreises
bis zur dritten Generation sind, in einem vereinfachten Verfahren die
rumänische Staatsbürgerschaft erlangen. Das betrifft nicht nur Bürger
der Republik Moldova, deren gegenwärtige Regierung diese Praxis duldet,
sondern auch Bewohner der ukrainischen Gebiete Odessa und Tschernowzy,
die damit eine doppelte Staatsbürgerschaft erhielten, was nach
ukrainischem Gesetz nicht gestattet ist.
Die rumänische Politik in dieser sicherheitspolitisch sensiblen Region
und die zumindest unklare Haltung der derzeitigen Regierungskräfte in
Moldova erschweren nicht nur eine einvernehmliche Lösung des seit 20
Jahren bestehenden Konflikts um die Dnjestr-Republik. Sie stellen auch
eine ernsthafte Belastung für Sicherheit und Stabilität in der gesamten
Region dar. Es ist deshalb von Vorteil, dass seit dem Präsidenten- und
Regierungswechsel in Kiew die Positionen der Ukraine und Russlands auch
in dieser Frage wieder weitgehend übereinstimmen und das Vorgehen zur
Regelung des Konflikts abgestimmt wird. Davon zeugte die gemeinsame
Erklärung der Präsidenten Viktor Janukowitsch und Dmitri Medwedjew im
Mai dieses Jahres. Darin sprachen sich beide Staatsoberhäupter für die
Bestimmung eines »zuverlässig garantierten besonderen Status der
Dnjestr-Republik unter Beachtung der Souveränität und der territorialen
Integrität der Republik Moldova« aus.
* Aus: Neues Deutschland, 6. Oktober 2010
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