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Ukrainischer Nachwahlkampf

Streit um Ämter und Kompetenzen dauert an

Von Manfred Schünemann *

Die Liste der gewählten Abgeordneten des ukrainischen Parlaments - der Werchowna Rada - ist mittlerweile veröffentlicht. Damit gilt das Ergebnis der Wahlen am 30. September als amtlich. Doch noch immer ist nicht klar, wann die Volksvertreter erstmals zusammentreten.

Mit 175 Abgeordneten stellt die Partei der Regionen (PdR) des bisherigen Regierungschefs Viktor Janukowitsch erneut die stärkste Fraktion. Dem Wahlblock Julia Timoschenko (BJuT) gehören 156 Abgeordnete an, dem Block »Unsere Ukraine - Selbstverteidigung des Volkes« (UU-SW) 72 Mandatsträger. Die Kommunistische Partei (KPU) errang 27 und der zentristische Wahlblock des früheren Parlamentspräsidenten Wladimir Litwin (BL) 20 Parlamentssitze. Formal steht der Konstituierung der Werchowna Rada nichts mehr im Wege, zumal sich der Timoschenko-Block und die Anhänger Präsident Viktor Juschtschenkos im Wahlblock UU-SW in einer mehr als 100 Seiten starken Vereinbarung über die Bildung einer Koalitionsregierung verständigt haben.

Doch herrschen in der ukrainischen Öffentlichkeit ernsthafte Zweifel daran, dass die Koalition tatsächlich zustande kommt und die Parlamentsmehrheit von drei Abgeordneten reicht, um eine stabile Regierung zu bilden. Juschtschenko hat zwar mehrfach erklärt, er werde die Kandidatur Julia Timoschenkos als Regierungschefin unterstützen, doch in der Präsidialverwaltung und der Zentrale des Bündnisses »Unsere Ukraine« macht man kein Geheimnis daraus, dass Juschtschenko im Interesse der innenpolitischen Stabilität lieber eine Koalition unter Einbindung der Partei der Regionen sähe. Seine Überlegungen, eine Dreierkoalition zu bilden oder der Partei der Regionen einige Regierungsposten anzubieten, wird aber nicht nur von der PdR selbst, sondern auch vom Timoschenko-Block und Politikern des eigenen Lagers strikt abgelehnt. Der noch amtierende Ministerpräsident Janukowitsch bekräftigt derweil ein ums andere Mal den Anspruch seiner Partei, erneut die Regierung zu bilden und darüber mit den anderen Kräften zu verhandeln.

Die tatsächlichen Mehrheitsverhältnisse in der Werchowna Rada werden sich bei den ersten Abstimmungen zeigen. Sollte keine Parlamentsmehrheit zustande kommen, wäre eine neuerliche Parlamentsauflösung frühestens in einem Jahr möglich. Bis dahin müsste eine geschäftsführende Regierung mit wechselnden Parlamentsmehrheiten auskommen. Innen- und außenpolitische Grundsatzentscheidungen wären kaum möglich, so dass die seit Jahren andauernde Instabilität anhielte. Daran sind jedoch weder die Wirtschaft noch die Masse der Bevölkerung interessiert. Schon jetzt sind die Folgen der politischen Dauerkrise spürbar. Das Außenhandelsdefizit wächst, die Investitionen sind rückläufig, die Energieverträge mit Russland laufen aus. Die Bevölkerung beklagt Preissteigerungen bei Grundnahrungsmitteln und Mieten ebenso wie die Geldentwertung durch Inflation. Eine handlungsschwache Regierung wäre kaum fähig, die Verhandlungen über den Beitritt der Ukraine zur Welthandelsorganisation abzuschließen und ein neues Partnerschaftsabkommen mit der EU auszuhandeln. Der von beiden Lagern befürwortete Kurs der »europäischen Orientierung« würde grundsätzlich in Frage gestellt. Gleiches träfe für das komplizierte Verhältnis mit Russland zu, dem ebenfalls beide Lager - zumindest in Worten - erstrangige Bedeutung zumessen.

Weder Timoschenko noch Juschtschenko haben allerdings bisher erkennen lassen, wie sie die Beziehungen zu Russland zu verbessern gedenken. Stattdessen hat Präsident Juschtschenko entgegen Parlamentsbeschlüssen und Mehrheitswillen der Wähler sein Interesse an einem raschen NATO-Beitritt bekundet, was die ohnehin schwierigen Verhandlungen mit Russland durchaus nicht vereinfachen dürfte.

Im Mittelpunkt des Koalitionsgerangels stehen ohnehin nicht die Kernfragen der ukrainischen Gesellschaft. Vorrangiges Ziel des Präsidenten ist es, schnellstmöglich wieder größere Kompetenzen zugeschrieben zu bekommen. Im Interesse ihrer Wahl zur Ministerpräsidentin müsste sich Julia Timoschenko dieser Forderung beugen, obwohl ihr Wahlblock vor der Parlamentsauflösung für die Einschränkung der Machtbefugnisse des Staatsoberhaupts gestimmt hatte. Verunsicherung ruft nach wie vor ihre Forderung nach einer Neuverteilung bereits privatisierter Wirtschaftsunternehmen hervor.

Die Partei der Regionen präsentiert sich derweil als einzige stabilisierende Kraft, obwohl sie bisher nicht über die erforderliche Mehrheit im Parlament verfügt. Vor dem Hintergrund dieses Streits bleibt es fraglich, ob die Rada diesmal eine ganze Legislaturperiode überlebt. Wahrscheinlicher ist, dass sie spätestens im Gefolge der Präsidentenwahlen Ende 2009 oder Anfang 2010 wieder aufgelöst wird. Dann stünde ein weiterer Versuch bevor, durch Wählerentscheid größere innenpolitische Stabilität zu erreichen. Drei Urnengänge binnen anderthalb Jahren haben allerdings gezeigt, dass das Wählerverhalten sehr stabil ist: Stimmen sind nur aus dem jeweils eigenen Lager zu gewinnen. Stabilität ist nicht durch ständige Neuwahlen erreichbar, sondern nur durch Verantwortungs- und Kompromissbereitschaft aller politischen Kräfte.

* Quelle: Website des Verbands für Internationale Politik und Völkerrecht e. V. Berlin (VIP); www.vip-ev.de

Der Beitrag erschien am 3. November in der Tageszeitung "Neues Deutschland"



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