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Verdächtige Eile in Kiew

Neue Führung der Ukraine drängt entgegen Volkswillen in die NATO

Von Manfred Schünemann *

Die neue Führung der Ukraine hat es eilig: Präsident, Regierungschefin und Parlamentsvorsitzender baten in einem Schreiben an NATO-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer, ihr Land möglichst im April in den Aktionsplan für die NATO-Mitgliedschaft einzubeziehen und damit die offizielle Beitrittsprozedur einzuleiten.

Vollendete Tatsachen sollen geschaffen werden, bevor die mühevoll geschmiedete Koalition wieder an ihren inneren Widersprüchen zerbricht und das Vorhaben erneut scheitert. Schon im Frühsommer 2005 hatte Präsident Viktor Juschtschenko diesen Schritt unternehmen wollen, war jedoch an der Ablehnung des damaligen Parlamentspräsidenten Olexandr Moros gescheitert. Moros ließ das schon verabredete Regierungsbündnis seiner Sozialistischen Partei (SPU) mit dem Block Julia Timoschenko (BJUT) und der Juschtschenko-Partei »Unsere Ukraine« platzen und ging eine Koalition mit der Partei der Regionen (PdR) und den Kommunisten ein. Viktor Janukowitsch, der dadurch zum Regierungschef wurde, stoppte im September 2005 bei einem Besuch in Brüssel den schon damals vorbereiteten NATO-Ratsbeschluss.

Ähnliches ist von der neuen Ministerpräsidentin Julia Timoschenko nicht zu erwarten, obwohl auch ihre Partei vor den Parlamentswahlen im September 2007 mehrfach betont hatte, dass ein NATO-Beitritt nur nach einem Volksentscheid erfolgen könne, und der sollte möglichst rasch durchgeführt werden, damit die Regierung einen klaren, von der Bevölkerungsmehrheit getragenen Handlungsrahmen erhält. Davon ist jetzt nicht mehr die Rede. So erklärte der Vizechef der Präsidialverwaltung, Olexandr Tschaly, ein »konsultatives« – also für die Staatsführung nicht bindendes – Referendum werde erst kurz vor dem NATO-Beitritt stattfinden.

Der Hintergrund ist klar: Auch nach jüngsten Umfragen spricht sich höchstens ein Viertel der ukrainischen Bevölkerung für eine NATO-Mitgliedschaft aus. Die Mehrheit ist dagegen, weil sie eine weitere Verschlechterung des Verhältnisses zu Russland und eine stärkere Einbindung in NATO-Kriege befürchtet. Eine Zuspitzung der Auseinandersetzungen in der Ukraine ist also programmiert. Davon zeugen nicht nur jüngste Parlamentsblockaden durch kommunistische Abgeordnete, sondern auch frühere Protestaktionen gegen NATO-Manöver auf der Krim.

Tatsächlich hätte die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine weit reichende geopolitische Folgen. Es käme zu einer grundlegenden Änderung des militärischen und politischen Kräfteverhältnisses in der gesamten Region. In einer Stellungnahme zu dem ukrainischen Brief an den NATO-Generalsekretär hat das russische Außenministerium betont, dass eine »Integration der Ukraine in die NATO die vielseitigen russisch-ukrainischen Beziehungen ernsthaft belasten würde«. Russland sähe sich gezwungen, »adäquate Maßnahmen« zu treffen. Natürlich kann Russland die souveräne Entscheidung eines Nachbarlandes nicht verhindern, ebenso selbstverständlich ist jedoch, dass Moskau seine sicherheitspolitischen Interessen berührt sieht. Man wird kaum bereit sein, Vorzugspreise und -bedingungen für Öl- und Gaslieferungen in die Ukraine zu vereinbaren, wenn die NATO gleichzeitig bis an das russische Kerngebiet vorrückt. Auch Landwirtschaft und Maschinenbau, traditionelle ukrainische Russland-Exporteure, müssten sich wohl nach neuen Märkten umschauen. Völlig offen wäre die Zukunft der ukrainischen Rüstungsindustrie, die weitgehend auf die Kooperation mit Russland angewiesen ist. Wenn die ukrainische Armee erst auf NATO-Standards umstellt, werden vor allem US-amerikanische Rüstungskonzerne zum Zuge kommen wollen.

Abzuwarten bleibt, wie die europäischen NATO-Staaten auf den von den USA geförderten offiziellen Beitrittswunsch der ukrainischen Führung reagieren. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier hatte 2006 in Kiew noch erklärt: »Die historisch gewachsenen engen Beziehungen (der Ukraine) zu Russland bereichern die europäische Zivilisation und Kultur. Sie sind von großer Bedeutung für die politische und sicherheitspolitische Architektur Europas. Deutschland, die EU, aber auch die Atlantische Allianz sind deshalb nicht nur an möglichst guten Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland interessiert, sondern werden ... auch ihren Beitrag dazu leisten.«

* Aus: Neues Deutschland, 26. Januar 2008


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