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Staatskrise in der Ukraine

Präsident gegen Parlament - West gegen Ost? - Und der russische Standpunkt

Im Folgenden dokumentieren wir aktuelle Beiträge, die sich mit der neuerlichen Staatskrise in der Ukraine befassen.



Krise in der Ukraine: Parlamentarismus in Gefahr

Von Andrej Jermolajew *

Die schleichende Krise der vergangenen Monate, die mit dem Konflikt zwischen den Machtgruppen in der Ukraine verbunden war, hat sich nun zu einer akuten Machtkrise entwickelt.

Die Besonderheit der Situation besteht darin, dass ein Funktionieren aller Machtgewalten von der Krise blockiert wird.

Die Hauptursache dafür war der Erlass von Präsident Viktor Juschtschenko, das Parlament aufzulösen. Sein Erlass geht sowohl inhaltlich als auch hinsichtlich der Motive über seine Vollmachten hinaus und verstößt in eklatanter Weise gegen mehrere Verfassungsartikel.

Heute beobachten wir faktisch einen politischen Krieg zwischen dem Parlament und dem Präsidenten, der zur radikalen Opposition übergegangen ist. Dabei liegt Juschtschenkos Entscheidung offenbar im Interesse nur eines Teils der Oppositionskräfte, nämlich derjenigen, die auf eine Krise bewusst hingearbeitet haben.

Der Präsident wurde also zu einem Verstoß gegen die Verfassung verleitet. Dabei sind die vorgezogenen Wahlen für einige Spitzenfiguren der Opposition eine durchaus annehmbare Variante. Jedenfalls haben sowohl Frau Timoschenko als auch Herr Luzenko - beide führende Vertreter des sogenannten Komitees für die nationale Rettung - vor, an den kommenden Präsidentenwahlen teilzunehmen.

Unterdesssen haben das Parlament und Ministerkabinett in der Nacht zum Dienstag eine Reihe von prinzipiellen Entscheidungen getroffen, deren Sinn darin besteht, dass sie den Präsidentenerlass nicht akzeptieren wollen, weil er verfassungswidrig ist. Dies ist als eine Art Bestätigung der Handlungsfähigkeit der gesetzgebenden und der exekutiven Macht zu verstehen.

Bei Oppositionskundgebungen, unter anderem am Samstag, wurden indes Vorschläge unterbreitet, die Machtbefugnisse des Parlaments zu Gunsten des Präsidenten zu verringern. Das kommt nicht von ungefähr: Der Kurs auf ein autoritäres Regime ist gerade einer der Punkte des von der Opposition vorgeschlagenen Plans.

In den nächsten Tagen wird das Parlament die Entscheidung des Verfassungsgerichts abwarten. Gleichzeitig werden immer mehr Menschen nach Kiew ziehen, um an den Kundgebungen teilzunehmen, von denen die eine die Parlamentsmehrheit und die andere die Opposition unterstützen wird. Offensichtlich werden diese Aktionen überaus massiv sein und mehrere Tage dauern.

Die sozialen Spannungen nehmen zu. Wenn das Gericht die Rechtswidrigkeit des Präsidentenerlasses bestätigt, bekommt das Parlament die Möglichkeit, die Legitimität des Präsidenten in Frage zu stellen. Dann werden die sozialen Spannungen in eine neue Phase treten.

So gut wie unvermeidlich werden Neuwahlen des Präsidenten auf die Tagesordnung kommen. Bei dem jetzigen Konflikt ist eine Null-Option, das heißt eine Rückkehr zum früheren Status quo, kaum möglich. Es steht ein langwieriger politischer Krieg bevor.

Was das jetzige Kräfteverhältnis anbelangt, so liegt die Partei der Regionen, das Kernstück der Parlamentskoalition, weiterhin an der Spitze der Wählersympathien. Gewachsen ist auch die Unterstützung für die Kommunisten, die bewiesen haben, dass sie in der Koalition konstruktiv mitarbeiten.

Im Lager der Opposition ist die Situation etwas komplizierter. Während der Julia-Timoschenko-Block weiterhin eine relativ stabile Unterstützung von etwa 20 Prozent der Wähler genießt, steckt die Präsidentenpartei „Unsere Ukraine“ in einer Krise. Ein Zerfall des Oppositionsblocks ist insofern nicht auszuschließen.

Zugleich stellen viele Experten fest, dass eventuelle Neuwahlen die politische Landschaft kaum spürbar verändern werden. Zu erwarten ist ein ähnliches Wahlergebnis wie bei den Parlamentswahlen 2006. Mehr noch: Die jetzigen Mitglieder der Nationalen Koalition könnten etwas zulegen.

All das lässt vermuten, dass die Initiatoren der vorgezogenen Parlamentswahlen, die mit einem solchen Wahlausgang eigentlich rechnen müssen, damit den Parlamentarismus als Idee diskreditieren und die Gesellschaft zu endlosen politischen Kampagnen provoziert. Dadurch wird die Idee einer starken Präsidialmacht immer mehr Befürworter in der Gesellschaft finden. Alles andere als sicher ist dabei aber, dass der jetzige Präsident im Zuge dieser Prozesse seine Vollmachten beibehalten wird können.

* Der Autor Andrej Jermolajew ist Direktor des ukrainischen Zentrums für sozialpolitische Studien „Sofia“ und Mitglied des Expertenrats von RIA Novosti.

Aus: RIA Novosti, 5. April 2007



Ukraine wieder in der Staatskrise

Nach Parlamentsauflösung durch Juschtschenko wird die Neuwahl des Präsidenten gefordert **

Nach der Eskalation des Machtkampfes in Kiew steht die Ukraine nicht nur vor Parlamentswahlen, sondern möglicherweise auch vor einer Neuwahl des Staatspräsidenten.

Sollte Präsident Viktor Juschtschenko die am Montagabend (2. April) beschlossene Parlamentsauflösung nicht zurücknehmen, seien vorgezogene Präsidentschaftswahlen unvermeidlich, sagte Ministerpräsident Viktor Janukowitsch laut einem Bericht der Nachrichtenagentur Interfax am Dienstag (3. April) in Kiew. Der vom Westen als »pro-russisch« etikettierte Regierungschef bezeichnete die Entscheidung seines Widersachers (»westlich orientiert«) als »fatalen Fehler« und »gegen das ukrainische Volk« gerichtet. In einer live im Fernsehen übertragenen Notsitzung des Parlaments sagte Janukowitsch, Volksvertretung und Regierung sollten ihrer Arbeit bis zu einer Entscheidung des Verfassungsgerichts wie üblich nachgehen.

Am Montag hatte das Parlament in einer außerordentlichen Sitzung dafür gestimmt, das Verfassungsgericht anzurufen, um die Legitimität des Präsidentenerlasses überprüfen zu lassen. Juschtschenkos Büro teilte mit, die Auflösung sei durch ihre Veröffentlichung bereits wirksam.

Janukowitsch und Juschtschenko trafen am Dienstagnachmittag (3. April) zu einem Krisengespräch zusammen. Darin sollte es um die Organisation der vorgezogenen Parlamentswahlen gehen.

Die Spannungen zwischen Juschtschenko, dem Anführer der »orangenen Revolution« von Ende 2004, und Janukowitsch hatten seit März 2006 zugenommen, als die Janukowitsch-Anhänger die Mehrheit in der Volksvertretung errungen hatten. In jüngster Zeit war dieses Lager durch Überläufer noch erstarkt.

Unterdessen warnte Präsident Juschtschenko die Armee sowie Sicherheitskräfte und Geheimdienste vor einer Einmischung in die innenpolitische Krise. »Der Konflikt, den wir haben, hat politischen Charakter. Politiker müssen Konflikte auf politischem Wege lösen«, sagte der Staatschef laut einer Mitteilung des Präsidialamtes. Er äußerte sich demnach bei einem Treffen mit Vertretern der Generalstaatsanwaltschaft, des Innen- und Verteidigungsministeriums sowie der Streitkräfte und Geheimdienste. Er rief die Verantwortlichen auf, »ihre Truppen nicht zu mobilisieren«.

»Russland verfolgt die Ereignisse in der Ukraine gründlich und ist beunruhigt«, erklärte derweil das Außenministerium in Moskau. Beide Seiten sollten den Forderungen nach einem Kompromiss unverzüglich nachkommen. Wegen der innenpolitischen Krise sagte Juschtschenko ein für Dienstag geplantes Treffen mit seinem russischen Kollegen Wladimir Putin in Moskau ab.

Der russische Außenminister Sergej Lawrow sagte während eines Besuchs in der armenischen Hauptstadt Jerewan, seine Regierung hoffe auf eine verfassungskonforme Beilegung der Krise in der Ex-Sowjetrepublik und sei zur Hilfe bereit. Russland ist den Aussagen zufolge sehr an einer stabilen Entwicklung der Ukraine interessiert. Sollte Kiew Moskau um Hilfe bitten, werde Russland nicht zögern, sie zu gewähren.

Die Europäische Union appellierte an die Verantwortlichen in der Ukraine, den Streit auf der Grundlage der Verfassung und demokratischer Regeln beizulegen. »Dazu sind von allen Beteiligten Mäßigung und Kompromissbereitschaft gefordert«, hieß es in einer Mitteilung der deutschen EU-Ratspräsidentschaft. Auch die Bundesregierung rief zu einer raschen Einigung auf Grundlage rechtsstaatlicher Prinzipien auf. Wenn das gelinge, könnten laufende Verhandlungen zwischen der EU und der Ukraine fortgesetzt werden, sagte Vizeregierungssprecher Thomas Steg. Die USA forderten die politischen Führer in Kiew auf, die volle Verantwortung für die Aktionen ihrer Anhänger zu übernehmen und Ruhe zu bewahren.

** Aus: Neues Deutschland, 4. April 2007


"Demonstrativer Machtkampf in der Ukraine"

Großkundgebungen von Opposition und Regierung / Präsident droht mit Parlamentsauflösung Von Manfred Schünemann ***

Mit Demonstrationen für und gegen die drohende Auflösung des Parlaments in der Ukraine hat sich der Machtkampf zwischen dem pro-russischen und dem pro-westlichen Lager zugespitzt.

Am Wochenende erinnerte im Zentrum der ukrainischen Hauptstadt alles an die Tage der »Orangenen Revolution« vor zwei Jahren. Mit Bussen und Bahnen waren Zehntausende Anhänger beider politischer Lager aus allen Regionen des Landes nach Kiew gebracht worden, um auf dem »Maidan Nezaleshnosti« (Platz der Unabhängigkeit) ihren jeweiligen Forderungen Nachdruck zu verleihen.

Der seit Monaten andauernde Machtkampf zwischen Regierung und Opposition hat damit eine neue Stufe erreicht. Ziel der Opposition ist es, durch eine weitere Destabilisierung der Situation den Druck auf Präsident Juschtschenko zu erhöhen, das vor einem Jahr gewählte Parlament aufzulösen. Von den angestrebten Neuwahlen erhofft man sich, die politischen Machtverhältnisse wieder zu Gunsten der heutigen Opposition zu verändern.

Das Oppositionslager um Julia Timoschenko hat sich bis heute nicht mit der politischen Niederlage bei der Formierung einer Parlamentsmehrheit aus der Partei der Regionen, Sozialisten und Kommunisten und der Wahl von Viktor Janukowitsch zum Premierminister im Sommer vorigen Jahres abgefunden. Zunächst setzte man auf die Instabilität der Regierungskoalition. Als sich das aber immer deutlicher als Illusion erwies, strebte man eine Revision der Verfassungsreform an, mit der Anfang 2006 die Machtbefugnisse des Präsidenten eingeschränkt und die Rolle des Parlaments wesentlich gestärkt worden waren. Das Verfassungsgericht folgte aber trotz personeller Veränderungen diesem Ansinnen nicht, sondern orientiert vielmehr auf gesetzliche Regelungen für die Kompetenzverteilung zwischen Präsident, Parlament und Regierung auf der Grundlage der geänderten Verfassung.

Seit Anfang des Jahres konzentrieren sich die Bestrebungen der Opposition nunmehr auf Parlamentsauflösung und Neuwahlen. Allerdings ist dieses Vorgehen auch innerhalb der Opposition nicht unumstritten. Besonders in der Juschtschenko-Partei »Unsere Ukraine« gab und gibt es starke Vorbehalte gegen das Oppositionsbündnis mit dem Block Julia Timoschenko. Vor allem der Unternehmerflügel um den früheren Premierminister Anatoli Kinach tendierte schon immer zu einer »Großen Koalition« mit der Regionalpartei und hat nunmehr mit dem Eintritt in die Regierung Janukowitsch diesen Schritt auch faktisch vollzogen.

Die einsetzende »Fluchtbewegung« von Abgeordneten der Oppositionsparteien in das Regierungslager (allein in der letzten Woche verließen zehn Abgeordnete die Fraktionen von BJT und »Unsere Ukraine») machen diese Auflösungserscheinungen des Oppositionslagers mehr als deutlich. Zugleich dienen sie aber auch dazu, der Öffentlichkeit die Ungesetzlichkeit der Arbeitsweise von Regierung und Parlament zu suggerieren und der Forderung nach Parlamentsauflösung Nachdruck zu verleihen.

Trotzdem zögert Präsident Juschtschenko bislang, den Forderungen der radikalen Oppositionspolitiker um Julia Timoschenko nachzugeben. Hintergrund dafür sind neben verfassungsrechtlichen Bedenken vor allem die Prognosen der Meinungsforscher, die im Falle vorgezogener Parlamentswahlen einen Wahlsieg der jetzigen Regierungsparteien und das parlamentarische Aus der Juschtschenko-Partei »Unsere Ukraine« vorhersagen.

Bestärkt wird Präsident Juschtschenko in seiner zögerlichen Haltung auch durch das geschickte, pragmatische Vorgehen der Regierungskoalition. Ministerpräsident Janukowitsch war in den Auseinandersetzungen um die Innen- und Außenpolitik des Landes stets um Kompromisse mit dem Präsidenten bemüht und demonstrierte nach Innen und Außen eine auf die stabile Parlamentsmehrheit gestützte sachbezogene, konstruktive Arbeit seines Kabinetts.

Der Ausgang der jetzigen Machtprobe bleibt ungewiss. Viel wird davon abhängen, ob die EU bei der von Bundeskanzlerin Angela Merkel beim Berlin-Besuch von Viktor Janukowitsch (Ende Februar) geäußerten Einschätzung bleibt, »dass mit den letzten freien und fairen Wahlen in der Ukraine die politischen Verhältnisse neu bestimmt sind« und die EU alles unterstützt, »was die Ukraine auf ihrem Reformkurs fortführt«. Einseitige Parteinahmen, wie sie in den Tagen der »Orangenen Revolution« erfolgten, dienen dieser Zielstellung ebenso wenig, wie die ständig wiederholten »Einladungen« zu einem raschen NATO-Beitritt von jenseits des Atlantik. *** Aus: Neues Deutschland, 2. April 2007


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