Schatten über ukrainischem Jubiläum
Nicht nur Freunde Timoschenkos kritisieren Verfahren gegen ehemalige Regierungschefin
Von Manfred Schünemann *
In Kiew wurde am Mittwoch (10. Aug.) der Prozess gegen die ehemalige Ministerpräsidentin Julia Timoschenko
fortgesetzt. Das Verfahren gegen die Galionsfigur der »Revolution in Orange« 2004 überschattet
das Jubiläum der ukrainischen Unabhängigkeitserklärung.
Am 24. August begeht die unabhängige Ukraine ihren 20. Jahrestag. Unmittelbar nach dem
Moskauer August-Putsch 1991 hatten die noch zu Sowjetzeiten gewählten Deputierten des
Obersten Sowjets die staatliche Unabhängigkeit erklärt. Bei einer Volksabstimmung am 1.
Dezember des gleichen Jahres sprachen sich über 90 Prozent der Wahlberechtigten in allen
Regionen für einen selbstständigen ukrainischen Staat aus.
Die Regierung ist vor dem Jubiläum emsig bemüht, die Entwicklung des Landes in ein günstiges
Licht zu setzen, wobei sie natürlich vor allem auf die Ergebnisse seit dem jüngsten politischen
Machtwechsel vor zwei Jahren verweist. Doch nun lenkt der Prozess gegen die seinerzeit
entmachtete Julia Timoschenko die Aufmerksamkeit im Lande – und noch mehr im Ausland – auf
tatsächliche und vermeintliche Demokratie- und Rechtsstaatsdefizite unter Präsident Viktor
Janukowitsch.
Das Verfahren gegen die Galionsfigur der »Revolution« von 2004 und ihre vorläufige Inhaftierung
vertiefen ein weiteres Mal die Kluft in der ukrainischen Gesellschaft – und sie tragen direkt zur
Mobilisierung und zur Einigung der zerstrittenen Opposition bei. Sollte es das Ziel der Anklage
gewesen sein, Timoschenko auf diesem Wege aus dem politischen Leben zu verbannen, wäre das
Gegenteil erreicht: In keiner Rolle ist die einstige »Gasprinzessin« so stark wie in der einer
Märtyrerin.
Vorgeworfen wird der früheren Ministerpräsidentin unter anderem Machtmissbrauch: In den
Verhandlungen mit Russland 2009 soll sie überhöhten Preisen für russische Gaslieferungen
zugestimmt und die ukrainische Wirtschaft dadurch um Hunderte Millionen Dollar geschädigt haben.
Als sich Richter Rodion Kirejew von der Angeklagten als »Dorftrottel« und »Marionette« beschimpft
sah (was sich freilich kein Gericht der Welt gefallen lässt), ließ er Timoschenko in Untersuchungshaft
nehmen.
Nicht nur bei den traditionellen politischen Freunden der »Oppositionsführerin« im Westen lösten
Anklage und Prozessverlauf Unverständnis und Proteste aus. Auch Russland sah sich zu harschen
diplomatischen Reaktionen veranlasst. Die Anklage enthält schließlich indirekt den Vorwurf an
Ministerpräsident Wladimir Putin, seine damalige Amtskollegin übervorteilt zu haben. Das Moskauer
Außenministerium betonte daher, dass alle Gasabkommen von 2009 »strikt nach den nationalen
Gesetzgebungen beider Staaten und nach internationalem Recht abgeschlossen wurden«.
Gleichzeitig wurde die Erwartung ausgesprochen, dass das Verfahren gegen Timoschenko »gerecht
und unvoreingenommen … und unter Beachtung der elementaren humanitären Normen und
Regeln« geführt werde.
Unabhängig vom weiteren Verlauf und vom Ausgang des Prozesses ist der innen- und
außenpolitische Schaden für die Ukraine und insbesondere für das Regierungslager um Präsident
Viktor Janukowitsch bereits jetzt groß. Mit Mühe war es Janukowitsch in den vergangenen zwei
Jahren gelungen, sich im Ausland als Garant für Berechenbarkeit und Stabilität der ukrainischen
Politik zu präsentieren. Sofern er bisher Vertrauen gewann, hat dies erneut gelitten.
Im allgemeinen Medienbild erscheinen 20 Jahre ukrainischer Unabhängigkeit daher als eine Zeit
andauernder erbitterter Kämpfe zwischen Regierung und Opposition, allgegenwärtiger Korruption in
Politik und Wirtschaft, mangelhaft durchgesetzter Rechtsstaatlichkeit und großer Defizite bei der
Bildung einer Zivilgesellschaft dar.
Dabei drängen bei unvoreingenommener Betrachtung durchaus auch Lichtstrahlen in dieses düstere
Bild. Ein wichtiges – vielleicht das wichtigste – Ergebnis zwanzigjähriger Geschichte ist, dass die
Selbstzweifel an der Existenzfähigkeit eines unabhängigen ukrainischen Staates, die in den
Anfangsjahren stark ausgeprägt waren, zwar nicht vollständig überwunden, aber doch
zurückgedrängt sind. In ihrem 20. Jahr hat die Ukraine ihren Platz im europäischen Staatengefüge
noch nicht endgültig gefunden, aber sie wird in wachsendem Maße als wichtiger, potenzenreicher
Faktor in der europäischen Entwicklung wahrgenommen.
Unbestreitbar ist es beim Übergang vom Staatssozialismus sowjetischen Modells zur
»pluralistischen« Gesellschaft zu erheblichen sozialökonomischen Verwerfungen gekommen. Einige
wenige haben sich in den Jahren der »Transformation« das frühere Staatseigentum angeeignet und
sind zu unermesslichem Reichtum gelangt. Sie bestimmen heute im Wesentlichen die politische und
wirtschaftliche Entwicklung des Landes und führen einen rücksichtslosen Kampf um Macht und
Einfluss. Die Masse der Bevölkerung, vor allem die ältere Generation, muss die sozialen Folgen
dieses kapitalistischen Raubzuges tragen und fühlt sich unter den neuen Verhältnissen machtlos an
den Rand gedrängt.
Nur wenn es gelingt, die sozialökonomischen Benachteiligungen zu überwinden und die Teilhabe
der Bevölkerungsmehrheit an der Gesellschaftsentwicklung zu garantieren, wird die ukrainische
Staatlichkeit dauerhaft zu sichern sein. Ein gutnachbarschaftliches und enges wirtschaftliches
Verhältnis zum großen Nachbarn Russland bleibt dafür ebenso essenzielle Voraussetzung wie eine
möglichst weitgehende Annäherung an die Europäische Union.
* Aus: Neues Deutschland, 11. August 2011
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