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Juschtschenko spielt va banque mit Moskau

Antirussischer Kurs des ukrainischen Präsidenten verschärft innenpolitische Spannungen

Von Manfred Schünemann *

Vor dem Hintergrund anhaltender innenpolitischer Auseinandersetzungen und neuer Belastungen im ohnehin gespannten Verhältnis zu Russland begeht die Ukraine am Sonntag den 17. Jahrestag ihrer Unabhängigkeit.

Präsident Viktor Juschtschenko nutzte den Georgien-Konflikt, um mit demonstrativen Gesten seine uneingeschränkte Solidarität mit Georgiens Präsident Michail Saakaschwili und der US-amerikanischen Haltung im Konflikt mit Russland unter Beweis zu stellen.

Zur politischen Unterstützung seines persönlichen Freundes und Partners im antirussischen Bündnis GUAM (Georgien, Ukraine, Aserbaidshan und Moldova) eilte er nicht nur an der Seite der Präsidenten Polens und der baltischen Staaten sofort nach Tbilissi, sondern erließ einseitig neue Regelungen für den Aufenthalt der Russischen Schwarzmeerflotte im Flottenstützpunkt Sewastopol/Krim. Diese weder mit der Regierung, noch in der Werchowna Rada (dem noch in der Sommerpause weilenden Parlament) abgestimmten Aktionen des Präsidenten haben die innenpolitischen Auseinandersetzungen um den außenpolitischen Kurs der Ukraine weiter zugespitzt. Ministerpräsidentin Julia Timoschenko hatte bereits im Vorfeld starke Bedenken gegen die neuen Aufenthaltsbestimmungen für die Russische Schwarzmeerflotte geäußert und eine einseitige Inkraftsetzung abgelehnt. In den Tagen des Georgien-Konfliktes vermied sie demonstrativ jegliche öffentliche Stellungnahme und handelte sich damit scharfe Kritik des Juschtschenko-Lagers ein.

Der Chef der Präsidialadministration, Viktor Baloga, bezichtigte die Regierungschefin einer »Vogel-Strauß-Politik«, mit der sie »nationale Interessen verrate«. Politische Beobachter sehen in dieser Äußerung einen weiteren Hinweis auf die baldige Entlassung der Ministerpräsidentin und das endgültige Ende der Regierungskoalition mit dem Block Julia Timoschenko.

Die seit Wochen andauernden Sondierungen zwischen dem Juschtschenko-Block »Unsere Ukraine / Selbstverteidigung des Volkes« und der Partei der Regionen (PdR) über ein Regierungsbündnis verstärken diese Annahme noch weiter. Allerdings ist zweifelhaft, ob die PdR angesichts der deutlichen Verschlechterung der Beziehungen zu Russland infolge der Juschtschenko-Politik jetzt noch zu einem solchen Bündnis bereit ist. Sie hatte ebenso wie die Kommunisten die Einberufung einer Sondersitzung des Parlaments gefordert, um die Aktionen des Präsidenten zu verurteilen.

Inzwischen befürwortet auch die Juschtschenko-Fraktion eine Parlamentssitzung, allerdings mit dem Ziel, den Kurs des Präsidenten abzusegnen und einen Maßnahmeplan mit Schlussfolgerungen aus der russischen Militäraktion gegen Georgien zu beschließen. Vor allem sollen die Aktionen für einen raschen Beitritt zur NATO weiter forciert und alles getan werden, noch bestehende Hindernisse und Bedenken aus dem Weg zu räumen. Angesichts der nachdrücklichen Bekräftigung einer Beitrittsperspektive sowohl für Georgien als auch für die Ukraine durch Bundeskanzlerin Angela Merkel bei ihren kürzlichen Aufenthalten in Tbilissi bzw. Kiew sieht sich Präsident Juschtschenko in diesem Vorgehen ausdrücklich bestärkt.

Gedrängt vom national-konservativen Flügel seines Wahlblocks und bestärkt durch die Haltung des Westens nimmt Präsident Juschtschenko zu erwartende Belastungen im Verhältnis zu Russland immer wieder bewusst in Kauf, um sich in den innenpolitischen Auseinandersetzungen als starke Führungspersönlichkeit zu profilieren und wenigstens das national-konservative Wählerpotenzial für sich zu mobilisieren. So hatte er schon im Frühjahr provokativ versucht, den Flotten-Stationierungsvertrag von 1997 in Frage zu stellen und (international völlig unüblich) die Regierung angewiesen, bereits jetzt – 10 Jahre vor Auslaufen des Vertrages – einen Zeitplan für den Abzug der Russischen Flotte aufzustellen. Die russische Reaktion war wie erwartet: Offiziell wurde erklärt, man sehe keine Notwendigkeit, über den Vertrag oder bereits jetzt über Regelungen nach 2017 zu verhandeln. Russische Nationalisten forderten sofort offen die »Rückkehr der Krim« in den russischen Staatsverband.

Auch auf dem sensiblen Feld der ukrainisch-russischen Energiebeziehungen rufen die Aktionen des ukrainischen Präsidenten immer wieder Irritationen hervor. So z. B. sein Auftrag an die Regierung, schnellstmöglich die Nutzung der Erdölleitung Odessa-Brody ausschließlich in Richtung Brody zu gewährleisten, obwohl ein Vertrag mit Russland auch eine reversible Nutzung vorsieht. Die russische Seite macht eine solche Nutzungsmöglichkeit aber u. a. zur Voraussetzung für längerfristige Vorzugspreise bei Erdgas, über die Timoschenko gerade in diesen Tagen Einvernehmen erzielt hatte.

* Aus: Neues Deutschland, 23. August 2008


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