Neue Schachzüge im ukrainischen Machtkampf
Präsident Juschtschenko sortiert die Verfassungsrichter aus
Von Manfred Schünemann *
Ein Abgeordneter des ukrainischen Parlaments – der Werchowna Rada – riet Präsident Viktor
Juschtschenko vor Tagen dringend, sich einer medizinischen Untersuchung zu unterziehen. Da
hatte der Präsident sein Dekret über die Auflösung des Parlaments vom 2. April durch einen zweiten
Erlass außer Kraft gesetzt: Nicht am 27. Mai, sondern am 24. Juni will er ein neues Parlament
wählen lassen.
Juschtschenko ignorierte mit seinem Dekret sowohl das Verfassungsgericht, das gerade über die
Rechtmäßigkeit einer vorzeitigen Parlamentsauflösung beriet, als auch die Vermittlungsgespräche
zwischen den politischen Kontrahenten, die bis dahin geführt worden waren. Das Regierungslager
reagierte erwartungsgemäß scharf. Von »neuerlichem Verfassungsbruch« war die Rede, einzelne
Abgeordnete beantragten ein Amtsenthebungsverfahren gegen Juschtschenko, das mangels
Zweidrittelmehrheit der Regierungskoalition im Parlament allerdings scheitern müsste.
Selbst in der EU war man über die Entscheidung des Präsidenten überrascht und verärgert. Mit viel
Mühe und Druck durch Erklärungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates und des
Europäischen Parlaments war es gelungen, beiden Lagern die Zusage abzuringen, jede
Entscheidung des ukrainischen Verfassungsgerichts zu akzeptieren und die Krise politisch zu lösen.
Ein Kompromiss hatte sich sogar schon abgezeichnet: Juschtschenko sollte sein Dekret über die
Auflösung der Werchowna Rada so lange aussetzen, bis Regierung und Parlament die
Gesetzeslücken zur Ausgestaltung der Verfassungsreform (darunter die Abgrenzung der
Kompetenzen von Regierung, Parlament und Präsident) geschlossen haben. Danach sollte ein
Wahltermin festgelegt werden. Doch der Präsident blockierte einen solchen Kompromiss und leitete
damit eine neue Runde im ukrainischen Machtkampf ein.
So sehr sich die Europäische Union bemühen mag, zwischen den beiden Lagern zu vermitteln, so
wenig setzt sie sich kritisch und selbstkritisch mit den eigentlichen Ursachen der Staatskrise
auseinander. Die ist nämlich in erster Linie nicht – wie es in der Resolution der Parlamentarischen
Versammlung heißt – das »Ergebnis der übereilten und unvollständigen Verfassungsreform von
2004«, sondern Ausdruck und Folge der Widersprüche in der postsowjetischen Gesellschaft der
Ukraine. Im Gefolge der vom Westen geforderten und geförderten »Privatisierungspolitik« haben
sich hier – wie anderswo in der postsowjetischen Region – Wirtschaftsgruppierungen gebildet, die
weitgehend unkontrolliert über den größten Teil des gesellschaftlichen Reichtums verfügen und zur
Sicherung ihrer Interessen um die politische Macht kämpfen. Dieser Umbau der Wirtschaft führte zu
Sozialabbau, zum Anwachsen der sozialen Gegensätze und zur Verunsicherung großer
Bevölkerungskreise. Die »Oligarchisierung« der Wirtschaft ging zudem mit einer
»Demokratisierung« des politischen Systems nach westlichem Vorbild einher, ohne dass die
zivilgesellschaftlichen Voraussetzungen und Traditionen – Parteiensystem, Parlamentarismus,
unabhängige Medien – vorhanden gewesen wären. Verstärkt wurde die daraus resultierende
politische Instabilität in der Ukraine dadurch, dass die USA das Land mit Macht in ihre
militärpolitische Strategie einbeziehen wollen, ohne die Bindungen großer Teile der Bevölkerung an
Russland zu berücksichtigen.
Der Ausgang der Krise bleibt ungewiss. Da sich abzeichnete, dass das Verfassungsgericht die
Parlamentsauflösung für unrechtmäßig erklären könnte, setzte Juschtschenko bereits zwei der 18
Verfassungsrichter außer Gefecht, indem er sie wegen »Verletzung des Amtseids« entließ. Faktisch
greift er damit in ein schwebendes Verfahren in eigener Sache ein. Ministerpräsident Viktor
Janukowitsch, Parlamentspräsident Alexander Moros und KPU-Vorsitzender Pjotr Simonenko
sprachen von einer »Revolte gegen die Verfassung«.
Juschtschko will in jedem Falle an der Parlamentsauflösung festhalten und hat sogar Neuwahlen
ohne Mitwirkung der Regierungsparteien nicht mehr ausgeschlossen. Das Parlament seinerseits hat
gleichzeitige Parlaments- und Präsidentschaftswahlen für den 9. Dezember beschlossen. Dies alles
bleiben indes Schachzüge im politischen Machtkampf, der letztlich nur durch einen Kompromiss aller
maßgeblichen Kräfte beigelegt werden kann. Bis der ausgehandelt ist, bleibt die Ukraine ein
Unruheherd.
* Aus: Neues Deutschland, 3. Mai 2007
Handlungen von Juschtschenko sind Versuch eines Staatsstreiches - russischer Politologe *
MOSKAU, 02. Mai (RIA Novosti). Die Handlungen des ukrainischen Präsidenten Viktor Juschtschenko, der zwei Richter des Verfassungsgerichts entlassen hat, kann man als Versuch bewerten, einen Staatsstreich zu unternehmen. Diese Meinung äußerte Sergej Markow, Direktor des Instituts für politische Studien.
„Juschtschenko erwirkt die Lahmlegung der Arbeit des Verfassungsgerichts. Er begreift, dass ein zurechnungsfähiger Jurist den Erlass nicht als verfassungsmäßig bezeichnen kann, und versucht, die Macht zu usurpieren. Er versucht, nicht nur die Zusammensetzung des Verfassungsgerichts zu ändern, sondern auch einen anderen Generalstaatsanwalt zu ernennen. Er tut all das ungesetzlich, und zwar deshalb, weil die westlichen Partner nicht auf die grobe Verletzung der Verfassung der Ukraine reagiert haben“, sagte er. Ihm zufolge ist das ein träge verlaufender Staatsstreich.
„Juschtschenko stärken Julia Timoschenko, Spitzenvertreterin des gleichnamigen Blocks, Viktor Baloga, Leiter des Sekretariats des Präsidenten, und Roman Bessmertny, stellvertretender Leiter des Sekretariats, den Rücken. Das ist eine Partei von Extremisten“, sagte Markow. Er ist der Meinung, dass die Situation früher oder später zu einem Bürgerkrieg führen wird. „Der Plan des Staatsstreiches ist wie folgt: ungesetzliche Auflösung des Parlaments, Entlassung der Regierung, ungesetzliche Ablösung der Zusammensetzung des Verfassungsgerichts, Ablösung der Führung der bewaffneten Strukturen und unfaire, ungesetzliche und ungerechte Wahlen. Anschließend die Bildung einer neuen Zusammensetzung des Parlaments, der Regierung, Repressionen, Reprivatisierung, Bildung eines künstlichen Staates und Konfrontation mit Russland“, so der Politologe.
Laut Markow ist die Partei der Extremisten nicht so sehr an einer vorgezogenen Parlamentswahl wie viel mehr an der Nichtbeteiligung der Partei der Regionen an der Willensäußerung des Volkes interessiert. „Die Partei der Regionen ist bereit, in die Wahlen zu gehen. Einigen Schätzungen zufolge kann sie die meisten Stimmen auf sich vereinigen. Aber die Partei der Extremisten braucht undemokratische Wahlen, bei denen sie die Stimmenmehrheit bekommen würde. Sie braucht solche Wahlen, an denen sich die Partei der Regionen überhaupt nicht beteiligt“, unterstrich Markow. Wie der Experte sagt, muss sich die Weltgemeinschaft in dieser Situation in die Handlungen der ukrainischen Behörden einmischen. „Die Weltgemeinschaft muss Juschtschenko aufrufen, ins Verfassungsfeld zurückzukehren“, sagte der Direktor des Instituts für politische Studien.
** Quelle: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 2. Mai 2007
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