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Noch immer keine "Lex Timoschenko"

Parlament der Ukraine vertagte sich, ohne Bedingungen für EU-Assoziierungsabkommen zu erfüllen

Von Manfred Schünemann *

Das ukrainische Parlament hat die Abstimmung über eine Ausreise der inhaftierten früheren Regierungschefin Timoschenko vertagt. Der Abschluss eines Assoziierungsabkommens mit der EU ist gefährdet.

Trotz massiven Drucks der EU – deren Sondergesandte Aleksander Kwasniewski und Pat Cox noch während der Parlamentssitzung versuchten, zwischen den streitenden Fraktionen zu vermitteln – vertagte sich das ukrainische Parlament am Mittwoch ohne ein Ergebnis. Weder wurden die Vorlagen zum Gesetz über die Staatsanwaltschaft und zur Änderung des Wahlgesetzes endgültig verabschiedet, noch wurde eine einvernehmliche Lösung für das Gesetz über die medizinische Behandlung Strafgefangener im Ausland gefunden. Dabei geht es eigentlich um eine »Lex Julia Timoschenko«, aber natürlich soll es zumindest so aussehen, als seien vor dem Gesetz alle Bürger gleich.

Damit bleiben die wichtigsten Bedingungen der EU für die Unterzeichnung der Assoziierungs- und Freihandelsabkommen mit der Ukraine beim Gipfel der »Östlichen Partnerschaft« in Vilnius vorerst unerfüllt. Zwar haben die Abgeordneten in Kiew noch etwas Zeit, das Treffen in Vilnius findet erst am 28. und 29. November statt, aber eine Verschiebung des Unterzeichnungsaktes ist nun nicht mehr auszuschließen.

Hauptgrund dafür ist, dass sich Regierungslager und Opposition nicht auf eine gesetzliche Regelung für die Ausreise der wegen Amtsmissbrauchs zu sieben Jahren Haft verurteilten Julia Timoschenko verständigen konnten. Die Abgeordneten der regierenden Partei der Regionen (PR) waren nicht bereit, einer Verknüpfung der Ausreise zwecks medizinischer Behandlung mit dem Erlass der Reststrafe zuzustimmen. Gerade das aber fordert die Opposition – und wird darin von maßgeblichen Kräften in der EU unterstützt. Präsident Viktor Janukowitsch und seine PR fühlten sich in ihrer Haltung offensichtlich durch immer mehr Stimmen in Europa und den USA bestärkt, die es für falsch halten, dass die Unterzeichnung der Abkommen allein von der Freilassung Timoschenkos abhängig gemacht wird. Dazu kamen gerade in der vergangenen Woche Meldungen, wonach Ermittlungsbehörden in den USA neue Erkenntnisse über Schwarzgeldkonten Julia Timoschenkos bei US-Banken gewonnen hätten.

Allerdings hatte das Regierungslager darauf gesetzt, durch die Verabschiedung der Gesetze über die Staatsanwaltschaft und das Wahlrecht alle anderen Bedingungen Brüssels zu erfüllen. Das aber blockierten die Oppositionsparteien. Denen kommt eine solche Entwicklung nämlich nicht ungelegen. So können sie Präsident Janukowitsch und der PR das vorläufige Scheitern der EU-Assoziierung anlasten und die »europäische Orientierung« der Ukraine erneut zum Hauptthema im Kampf um das Präsidentenamt machen. Vitali Klitschko hat bereits erklärt, dass die Abkommen »dann eben vom nächsten Präsidenten« unterzeichnet werden. In diesem Falle würde der innenpolitische Streit um die Unterzeichnung der Abkommen die politische Entwicklung bis zur Präsidentenwahl 2015 überlagern. Die ohnehin komplizierte wirtschaftliche und finanzielle Lage der Ukraine dürfte sich dadurch weiter verschlechtern, die erhofften Erleichterungen beim Zugang zu Innovations- und Investitionsmöglichkeiten der EU zwecks Modernisierung der ukrainischen Wirtschaft und ihrer Infrastruktur blieben aus.

Auch für die EU und die Politik der »Östlichen Partnerschaft« ist der neuerliche Aufschub der Unterzeichnung der Assoziierungs- und Freihandelsabkommen mit der Ukraine jedoch ein herber Schlag. Für das Gipfeltreffen in Vilnius bliebe nur die Paraphierung von Assoziierungsabkommen mit der Republik Moldau und mit Georgien. Diese Abkommen aber bleiben inhaltlich weit hinter den Abkommen mit der Ukraine zurück. Und zumindest im Falle Moldau sind Unterzeichnung und Ratifizierung angesichts der innenpolitischen Verhältnisse längst noch nicht gesichert.

Russland dagegen, das mit politischen und ökonomischen Mitteln versucht hatte, die Unterzeichnung der Abkommen zu verhindern, sieht sich in seiner Politik gegenüber der Ukraine gestärkt und hofft, das Projekt eines eurasischen Integrationsraumes, der zum gleichberechtigten Handels- und Wirtschaftspartner der EU werden soll, doch noch durchsetzen zu können. Die Entwicklung wird aber wesentlich davon abhängen, ob und wie es Russland gelingt, seine Politik den Realitäten anzupassen. Statt politischen und wirtschaftlichen Druck auszuüben, müsste Moskau der Ukraine die Möglichkeit gleichberechtigter Beteiligung an der euroasiatischen Zollunion einräumen. Die ukrainische Führung hat mehrfach ihr Interesse daran bekundet, denn unabhängig von Assoziierungs- und Freihandelsabkommen mit der EU bleiben die wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland für die ukrainische Wirtschaft lebenswichtig.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 15. November 2013


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