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Verzockt in Kiew

EU droht Fiasko bei "östlicher Partnerschaft". Ukrainisches Establishment läßt sich in Causa Timoschenko nicht erpressen

Von Reinhard Lauterbach *

Wenige Tage vor dem Beginn des Herbstgipfels der EU in Vilnius wird die Führung des Staatenbundes erkennbar nervös. Inzwischen ist nicht mehr ausgeschlossen, daß der propagandistische Hauptpunkt der Tagesordnung gestrichen werden muß – die Unterzeichnung eines Assoziierungsabkommens mit der Ukraine. Vergleichbare Verträge mit Moldova und Georgien sollten bei derselben Gelegenheit paraphiert werden. Aber ob es dazu kommt, ist fraglicher denn je.

Am vergangenen Mittwoch hatte das Parlament in Kiew ein Ultimatum der EU verstreichen lassen, eine von Brüssel seit längerer Zeit geforderte Änderung im Strafvollzugsgesetz zu verabschieden. Es ging um eine Bestimmung, nach der es ukrainischen Strafgefangenen erlaubt sein sollte, sich im Ausland ärztlich behandeln zu lassen. Dies wäre an sich schon ein weltweites Kuriosum, weil es in einen Kernbereich des staatlichen Gewaltmonopols eingriffe: die Strafhoheit. Die Änderung zielt dabei auf eine einzige Person: die wegen Amtsmißbrauchs verurteilte Oligarchin und Oppositionspolitikerin Julia Timoschenko. Ihre Partei »Vaterland« ist seit Mitte des vergangenen Jahrzehnts mit der stärksten Gruppierung im Europäischen Parlament, der christdemokratischen Europäischen Volkspartei (EVP), assoziiert und genießt dadurch die Protektion EU-Europas. Timoschenkos Freilassung zur Behandlung eines Bandscheibenvorfalls an der Berliner Charité galt zuletzt schon als ausgemachte Sache, strittig waren nur noch die Konditionen. Die regierende »Partei der Regionen« von Präsident Wiktor Janukowitsch war bereit zu einer Haftverschonung. Damit müßte Timoschenko bei einer Rückkehr in die Ukraine befürchten, zur Verbüßung ihrer Reststrafe wieder inhaftiert zu werden. Als Vorbestrafte würde sie im übrigen nicht gegen Janukowitsch antreten können. Dies zu verhindern, ist gerade aus EU-Sicht die eigentliche Absicht der Inhaftierung. Aus eben diesem Grund verlangen Timoschenkos Anhänger ihre Begnadigung durch Janukowitsch. Wegen so unvereinbarer Standpunkte vertagte das Kiewer Parlament die Angelegenheit bis zur nächsten Sitzung am heutigen Dienstag. Ob der aus Brüssel geforderte Beschluß nun aber zustande kommt, ist völlig offen.

Bemerkenswert ist die Reaktion – oder genauer: die Nichtreaktion – der EU auf den Affront. Brüssel verlängerte einfach stillschweigend die Frist bis zum 19. November, nahm also einen Gesichtsverlust in Kauf. Es steht viel auf dem Spiel. Das ukrainische Parlament hat eine ganze Reihe weiterer von der EU verlangter »Reformen« mehr oder minder einmütig verabschiedet. Das zeigt, daß die ukrainische Geschäftswelt, deren verschiedene Clans die unterschiedlichen Parteien im Kiewer Parlament finanzieren, wohl im Prinzip entschieden hat, sich lieber der Einflußsphäre der EU anzuschließen als der von Rußland angeführten Eurasischen Union mit Belarus, Kasachstan und Armenien. Was die EU mit der Causa Timoschenko forderte, ging aber nun offensichtlich dem Teil der politischen Klasse, der derzeit die Mehrheit besitzt, zu weit. Denn wenn Timoschenko 2015 bei der nächsten Präsidentschaftswahl gegen Janukowitsch anträte, wäre ihr Sieg ziemlich wahrscheinlich. Dazu würden nicht nur ihr Märtyrerinnenbonus und ihre völlige Skrupellosigkeit in Sachen Demagogie beitragen, sondern vor allem die desolate wirtschaftliche Lage der Ukraine. In diesem Fall aber müßten die Clans, die hinter Janukowitsch stehen, mit einer Welle ebensolcher juristischer und wirtschaftlicher Repressionen rechnen, wie sie das Oppositionslager heute der Regierung vorwirft. Es wäre absehbar, daß die Steuerfahndung dann die Firmen der unterlegenen Fraktion durchleuchtet und auch die persönlichen Vermögensverhältnisse der Abgeordneten der jetzigen Regierungspartei unter die Lupe kämen. Das Beharren der EU auf der Freilassung Timoschenkos bedeutet für das derzeitige ukrainische Establishment also die Forderung nach politischem Selbstmord.

Für eine bedingungslose Kapitulation aber ist Janukowitschs Lage nicht aussichtslos genug. Rußland bietet milliardenschwere Investitionen und günstige Gaspreise an, wenn die Ukraine der Eurasischen Union beitritt – eine Lösung, mit der sich allemal pragmatisch weiterwirtschaften und die Bevölkerung vorerst ruhigstellen ließe. Einigen in EU-Europa beginnt offenbar zu dämmern, daß sich Brüssel am Ende in Osteuropa verzockt haben könnte. Polen, die baltischen Staaten und Großbritannien fordern seit einiger Zeit, das Assoziierungsabkommen mit der Ukraine ohne Rücksicht auf Timoschenko zu unterzeichnen. Ihnen ist der geopolitische Vorteil wichtiger, die Ukraine aus der Einflußsphäre Rußlands zu lösen. Deutschland war bisher in der EU die Hauptbastion der Timoschenko-Verteidiger. Das könnte sich aber ändern: Dieser Tage erschien in der polnischen Presse ein Namensartikel verschiedener deutscher und polnischer Expolitiker, darunter Rita Süssmuth (CDU), Karsten Voigt (SPD) und Rainder Steenblock (Grüne). Die Autoren verlangten ebenfalls, die Ukraine »trotz ihrer demokratischen Defizite an Europa zu binden«. So verlaufen Rückzugsgefechte.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 19. November 2013


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