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Boykottieren? Protestieren!

Politiker sagen EM-Besuche in der Ukraine ab, Amnesty International fordert kritische Präsenz

Von Roland Etzel *

Die Diskussion um einen Boykott jener Spiele der Fußball-Europameisterschaft, die in der Ukraine stattfinden, wird durch neuerliche Politikerabsagen weiter angeheizt. Aber es gibt auch gegenteilige Meinungen - zum Beispiel von Amnesty International.

Bulgariens Präsident Rossen Plewneliew ist der vorläufig letzte in der Reihe. Auch er gehört nun zu jenen europäischen Spitzenpolitikern, die in den vergangenen zwei Wochen erklärt haben, Spiele der Fußball-Europameisterschaft in der Ukraine zu boykottieren. Damit sollen die Regierung in Kiew und besonders Präsident Wiktor Janukowitsch brüskiert werden. Vor allem ihn macht man dafür dafür verantwortlich, dass seine politische Rivalin, die vormalige Ministerpräsidentin Julia Timoschenko, in einem fragwürdigen Prozess wegen Amtsmissbrauchs zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt wurde.

Auch die Menschenrechtsorganisation Amnesty International übt heftige Kritik an den Verhältnissen in der Ukraine, nicht allein wegen der Verurteilung Timoschenkos und nicht erst in diesen Tagen. Im Gegensatz zu Plewneliew oder EU-Kommissionspräsident José Manuel Durão Barroso und Bundespräsident Joachim Gauck, die Kiew ebenfalls die kalte Schulter zeigen wollen, hält Amnesty einen Boykott der EM für falsch. Vielmehr sollten Politiker und Sportfunktionäre in dem Land »die Gelegenheit nutzen, um auf die schweren Menschenrechtsverletzungen aufmerksam zu machen und von der ukrainischen Regierung einen besseren Menschenrechtsschutz fordern«, sagte der Generalsekretär von Amnesty Deutschland, Wolfgang Grenz, am Donnerstag dem Düsseldorfer »Handelsblatt«. Wie bereits Grünen-Politiker Christian Ströbele vertritt Grenz die Meinung, nicht allein Politiker, sondern auch Touristen und die Sportler selbst sollten nach spezifischen Aktionsformen suchen, wie sie ihren Protest vor Ort in der Ukraine manifestieren können.

Die sportpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag, Katrin Kunert, erklärte gestern ebenfalls, »man sollte die Fußball EM 2012 nutzen, um auf die Missstände in der Ukraine hinzuweisen, Menschenrechtsverletzungen öffentlich zu machen und Kritik an dem Regime zu äußern«. Die LINKE hält es künftig darüber hinaus für »sinnvoll, wenn die großen Sportorganisationen Kriterien festlegen, unter welchen Bedingungen Länder den Zuschlag für die Austragung sportlicher Großveranstaltungen erhalten«.

Ebenfalls am Freitag ist der Chef der Berliner Charité, der Neurologe Karl Max Einhäupl, erneut in die Ukraine gereist, um die 51-jährige Ex-Regierungschefin zu untersuchen. Nach Angaben der ukrainischen Behörden sei er dabei im Gefängnis von ukrainischen Ärzten zu der Untersuchung begleitet worden.

Ein Sprecher des Auswärtigen Amtes in Berlin erklärte gestern, es gebe zwischen den deutschen und ukrainischen Behörden »sehr intensive« Kontakte. Die deutschen Bemühungen hätten das Ziel, dass Timoschenko eine angemessene medizinische Behandlung erhalte - die man demzufolge offenbar derzeit in Frage gestellt sieht.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 5. Mai 2012


Boykott und Politik

Von Roland Etzel **

Irgendetwas war von Anfang an merkwürdig an dieser Diskussion um einen Politikerboykott gegen ukrainische EM-Stadien. Jetzt, meldet die ARD, seien schon 74 Prozent der Bevölkerung dafür, dass Merkel und Co. die Bösen in Kiew nicht der Ehre ihrer Anwesenheit teilhaftig werden lassen. Das ist mehr als vorige Woche, erfährt man noch - und vergisst darüber fast, was man eigentlich schon zu Anfang fragen wollte: Wer aus dem Volke hat eigentlich gefordert, dass die da alle hinfahren?

Von öffentlichen Aufwallungen im Sinne eines Politikerkreuzzugs nach Kiew ging bislang nicht die Rede. Obwohl die Bilder der fußball- und siegestrunkenen Kanzlerin in diversen VIP-Logen auf peinliche Weise legendär sind, kann sich der gemeine Fußballfan das Spiel offenbar ganz locker auch ohne sie vorstellen; so wie es früher bei EM-Endrundenspielen eigentlich immer gewesen sein soll. Das Politikgeschäft kann eben sehr hart und undankbar sein.

Noch gar nicht erwähnt wurde bei alldem, dass Barroso, Gauck, Plewneliew oder wer auch immer sich nun wahrscheinlich alle in Polen werden austoben wollen. Wie denken unsere Menschen darüber? Vorsicht, man sollte den Mitleidsfaktor auch da nicht allzu hoch ansetzen. Egal - nach Polen müssen sie nun, alle, selbst jene, die niemals in die Ukraine wollten. Sonst kommt es am Ende noch dahin, dass Fußball- oder Großereignisse anderer Religionsgemeinschaften eines Tages auch ohne die Anwesenheit von Kanzlerinnen und Premiers für durchführbar gelten. Kann dieser politische Irrweg noch verhindert werden?

** Aus: neues deutschland, Samstag, 5. Mai 2012 (Kommentar)


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