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Gefängnis oder Westen

Ukrainisches Parlament vor der Entscheidung über Zukunft Timoschenkos

Von Reinhard Lauterbach *

Das ukrainische Parlament steht am morgigen Mittwoch vor der Entscheidung über die Zukunft der inhaftierten Oppositionspolitikerin Julia Timoschenko. Die ehemalige »Gasprinzessin« sitzt derzeit in Charkiw eine siebenjährige Haftstrafe wegen Amtsmißbrauches ab; sie soll in ihrer Zeit als Ministerpräsidentin 2009 ein für die Ukraine unvorteilhaftes Gasgeschäft mit Rußland abgeschlossen und so einen Verlust von umgerechnet 137 Millionen Euro für die Staatskasse verursacht haben. Noch nach ihrer Inhaftierung schob die Staatsanwaltschaft weitere Vorwürfe nach: Derzeit wird gegen Timoschenko wegen der Ermordung eines Oligarchen ermittelt, der 1996 auf dem Rollfeld des Flughafens von Doneck beim Verlassen seines Flugzeugs niedergeschossen worden war. Timoschenko steht im Verdacht, die Mörder angeheuert und bezahlt zu haben. Und als wäre dies alles nicht genug, kamen zuletzt noch Vorwürfe der Unterschlagung und Steuerhinterziehung in dreistelliger Millionenhöhe hinzu. Es ist, als wollte die ukrainische Justiz sicherstellen, daß Timoschenko auf gar keinen Fall mehr das Gefängnis verläßt und gegen Präsident Wiktor Janukowitsch antreten kann. Die Vermutung, dahinter stehe der politische Wille Janukowitschs, ist nicht abwegig; in keinem Land der Welt führt die Justiz ein Verfahren derartiger Tragweite ohne politische Rückendeckung, und die ukrainische Justiz ist bisher noch nicht durch besondere Unabhängigkeit aufgefallen.

Das sehen in diesem Fall auch die maßgeblichen Politiker Westeuropas so, und sie sind es ironischerweise, die jetzt die heilige Gewaltenteilung beiseite lassen und eine politische Intervention zugunsten Timoschenkos einfordern. Deren Partei »Batkivschtschyna« (Vaterland) ist seit der »orangen Revolution« von 2004/05 mit der Europäischen Volkspartei assoziiert; EU-Europa hat deshalb die Freilassung Timoschenkos zur Bedingung dafür erklärt, daß die EU Ende dieses Monats das Assoziierungsabkommen mit der Ukraine unterzeichnet. Alle sonstigen Bedingungen Brüssels hat das ukrainische Parlament in den letzten Wochen im Konsens der regierenden »Partei der Regionen« und der prowestlichen Opposition weitgehend durchgewinkt; am Thema Timoschenko aber scheiden sich die Geister.

Umstritten ist dabei offenbar gar nicht mehr so sehr die Frage, ob sie freigelassen werden soll, sondern die Konditionen und Rahmenbedingungen. Gegen eine Haftverschonung, damit Timoschenko in Deutschland ihr Rückenleiden behandeln lassen kann, hat nicht einmal die Regierungs­partei mehr viel einzuwenden. Wenn es so käme, hätte Janukowitsch sein Hauptziel erreicht: Timoschenko wäre nur beurlaubt, bei einer Rückkehr in die Ukraine müßte sie befürchten, zur Verbüßung der Reststrafe wieder inhaftiert zu werden; sie wäre also gut beraten, im Exil zu bleiben. Als Vorbestrafte könnte sie nach der ukrainischen Gesetzgebung ohnehin 2015 nicht als Janukowitschs Rivalin um das Präsidentenamt antreten. Genau aus diesem Grund sind Timoschenkos Anhänger mit einer Haftverschonung nicht einverstanden. Sie fordern, Janukowitsch müsse sie begnadigen, was der Präsident bisher ablehnt. Erst in den letzten Tagen ist den Timoschenko-Fans der Haken dieser Argumentation aufgefallen: Eine Begnadigung setzt ein Schuldeingeständnis voraus, und damit fällt die jahrelang von den prowestlichen Kräften lancierte These von Timoschenko als dem unschuldigen Opfer einer politischen Rachejustiz in sich zusammen. Nach dem Buchstaben des Gesetzes unschuldig ist die Frau sicher nicht. Als Schwiegertochter eines hohen Parteifunktionärs in Dnjepropetrowsk begann sie ihre geschäftliche Karriere zu Perestroika-Zeiten mit dem Verleih von – den Umständen nach schwarzkopierter – Videos aus dem Westen. Ende der 1990er Jahre wurde sie durch Militärlieferungen und den Handel mit russischem Gas sehr reich. Klar ist, daß es ihre Gegnerschaft zu Janukowitsch ist, wegen der sie als bisher einzige unter allen ukrainischen Oligarchen juristisch zur Verantwortung gezogen wurde, und nicht, weil ihre Geschäfte übler gewesen wären als die ihrer Klassenbrüder während der ursprünglichen Akkumulation.

Es bleibt abzuwarten, wie sich die ukrainischen Politiker aus diesem Dilemma wieder herauswinden. Zwei Abgesandte der EU, der irische Politiker Pat Cox und der frühere polnische Staatspräsident Aleksander ­Kwasniewski, sitzen in Kiew und drängen auf eine Entscheidung. Der ukrainische Ministerpräsident Nikolaj Asarow hat schon einmal vorsorglich der EU den Schwarzen Peter zugeschoben, wenn es mit der Assoziierung doch nicht termingerecht klappen sollte. Am 28. und 29. November ist EU-Gipfel in Vilnius; dann wird sich zeigen, ob die EU ihr politisches Patenkind Timoschenko auf jeden Fall herausholen will oder ob sie sie für den größeren Vorteil des Assoziierungsabkommens opfert. Polen und die baltischen Staaten werben bereits für diese Lösung.

* Aus: junge welt, Dienstag, 12. November 2013


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