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Nach einem Jahr "orangener Revolution" ist in der Ukraine Ernüchterung eingetreten

Die "Partei der Regionen" von Ex-Premier Viktor Janukowitsch wird stärkste Partei - diesmal ganz ohne Wahlfälschung

Die Wahlen in der Ukraine haben deutlich gemacht, dass die Bäume der orangenen Revolutionäre nicht in den Himmel wachsen. Das Rennen machte diesmal der Oppositionspolitiker Viktor Janukowitsch, der noch vor einem Jahr als "Wahlfälscher" verschrien war und damals von der "Revolution" entmachtet wurde. Er kann aber nicht ohne Partner regieren und seine Koalitionsangebote werden von den Wahlverlierern Julia Timoschenko und Viktor Juschtschenko slbstverständlich abgelehnt. Eine komplizierte Situation.
Im Folgenden dokumentieren wir eine Reihe von Analysen und Hintergrundberichten über die Situation in der Ukraine vor und nach der Wahl.



Hier zunächst das bisher bekannte Ergebnis der Wahlen am 26. März (Auszählungsstand: 28. März 2006):
Nach Auszählung von 70 Prozent der Wahlzettel konnte die oppositionelle "Partei der Regionen" von Ex-Premier Viktor Janukowitsch mindestens 30 Prozent der Stimmen für sich verbuchen. Auf Platz zwei rangiert der Block von Julia Timoschenko, der momentan auf 22,49 Prozent der Stimmen kommt. Weiter folgen die von Staatspräsident Viktor Juschtschenko geführte Partei "Unsere Ukraine" mit 15,29 Prozent der Stimmen, die Sozialistische Partei mit 6,29 Prozent und die Kommunisten mit 3,54 Prozent. Die übrigen Parteien liegen unter der 3-Prozent-Hürde.

Die orangene Restauration

"Unsere Ukraine", der Block des Präsidenten, ist Verlierer der Parlamentswahlen

Von Jochen Stiklorus

Am Montagnachmittag war erst ein Drittel der Stimmen für die ukrainische Parlamentswahl ausgezählt. Fest stand indes: Der einst als »Wahlfälscher« verschriene Viktor Janukowitsch führt die stärkste Partei an und Präsident Viktor Juschtschenko ist der Verlierer.

Die Ergebnisse der Parlamentswahlen in der Ukraine bestätigen, was sich bereits während des ganzen ersten »orangenen« Regierungsjahres abzeichnete: Die Euphorie ist einer kühlen Ernüchterung gewichen. Der einstige Hoffnungsträger Viktor Juschtschenko konnte die Erwartungen als Präsident nicht erfüllen.

Schnell verflog der revolutionäre Glanz im politischen Alltagsgeschäft, in dessen Spielregeln sich die neuen Machthaber problemlos einfügten. Auch mit neuem Personal blieb das politische Leben geprägt von gegenseitigen Korruptionsvorwürfen, Postengeschacher und dem Verfolgen von Eigeninteressen. Einhergehend mit der Selbstblockade der neuen politischen Elite verlangsamte sich im ersten »orangenen« Regierungsjahr auch das ukrainische Wirtschaftswachstum empfindlich. Lag es in den Vorjahren noch bei 9,4 (2003) und 12 Prozent (2004), betrug es im Jahre 2005 lediglich noch 2,6 Prozent. Dieser Rückgang ist nicht allein auf die Finanzpolitik der Vorgängerregierung unter Ministerpräsident Viktor Janukowitsch zurückzuführen, vielmehr spiegelt sich darin die inkonsistente Wirtschaftspolitik der neuen Regierung wider.

Die »Revolutionssirene« Julia Timoschenko hatte als Ministerpräsidentin mit einer Reihe von Maßnahmen, etwa einer staatlichen Preispolitik oder der Forderung nach einer umfassenden Revision der Privatisierungen, nicht zuletzt bei ausländischen Investoren für Unsicherheit gesorgt. Sie war es auch, die mit Forderungen nach erhöhten Transitgebühren den »Gaskrieg« mit Russland anzettelte, dessen Folgen in Form eines sprunghaft gestiegenen Gaspreises für die ukrainische Wirtschaft noch nicht absehbar sind.

In dieses Szenario fügt sich nahtlos die politische Wiedergeburt des politisch totgeglaubten Viktor Janukowitsch. Nach der Entlassung Timoschenkos sah sich Präsident Juschtschenko zwecks Einsetzung »seines« Ministerpräsidenten Juri Jechanurow zu einem Abkommen mit Janukowitsch genötigt. Diesen »Verrat der orangenen Werte« nutzte Timoschenko für Angriffe gegen den Präsidenten, was das orangene Lager spaltete. Bei den Wahlen am Sonntag gelang es Janukowitsch und seiner »Partei der Regionen», als lachender Dritter aus diesem Streit hervorzugehen. Dennoch wird er vorerst wahrscheinlich nicht in die Regierung einziehen: Das »orangene Lager« aus Juschtschenkos »Unserer Ukraine«, dem Block Julia Timoschenkos und den Sozialisten scheint sich zu einer neuen Koalition zusammenraufen zu wollen – diesmal mit einer im Vergleich zu Juschtschenko erheblich gestärkten Julia Timoschenko.

Die tatsächlichen Machtverhältnisse sind von diesen Wahlen indes wenig betroffen. Sie werden nach wie vor von finanzstarken Industriegruppen bestimmt, deren Vertreter im alten wie im neuen Parlament das Gros der Abgeordneten bilden. In der Werchowna Rada bedarf es keiner Lobby, weil die Vertreter der Interessengruppen, die »bisnesmeny« direkt im Plenum sitzen. Auf den Wahllisten aller für eine Koalitionsregierung in Frage kommenden Parteien fanden sich einflussreiche Geschäftsleute – unter ihnen der reichste Mann der Ukraine, Rinat Achmetow, der für Janukowitschs »Partei der Regionen« kandidierte.

Das traurige Schauspiel, das in der abgelaufenen Wahlperiode ein derartig zusammengesetztes Parlament lieferte, lässt auch für die nächsten fünf Jahre nichts Gutes ahnen. So gelang es den einzig ihren persönlichen Interessen verpflichteten »Volksvertretern« im Laufe der gesamten Legislaturperiode nicht, eine stabile Mehrheit zu bilden, was der politischen Entwicklung des Landes nachhaltigen Schaden zufügte. Fatalerweise erhöht sich die Bedeutung einer verlässlichen parlamentarischen Mehrheit zusätzlich, weil eine Verfassungsreform das Parlament gegenüber dem Präsidenten stärkt. So steht zu befürchten, dass dem Land durch das Zerbrechen von Koalitionen oder den Wechsel einzelner Abgeordneter von Fraktion zu Fraktion – bisher gang und gäbe und faktisch immer noch möglich – eine Folge von Regierungskrisen bevorsteht. Entsprechend zahlreich sind die Stimmen, die dem neuen Parlament nur eine kurze Lebensdauer voraussagen.

Die politische Situation in der Ukraine macht deutlich, dass die Ereignisse um die Jahreswende 2004/2005 eines gerade nicht waren: eine »demokratische Revolution«. Es fand lediglich ein Austausch des obersten politischen Führungspersonals statt, die tatsächlichen Machtstrukturen blieben unberührt. Die Menschen auf dem Platz der Unabhängigkeit in Kiew kämpften für eine vertrauensvollere Führung, einen neuen Heilsbringer, nicht für die Emanzipation von der staatlichen Macht und die Verbesserung der eigenen politischen Teilhabemöglichkeiten. Die schwierige Aufgabe, die bereits existierenden demokratischen Institutionen mit demokratischem Bewusstsein zu füllen, steht der Ukraine noch bevor. Dies ist nicht durch Revolutionen – welcher Art auch immer – zu erreichen.

* Aus: Neues Deutschland, 28. März 2006


In einem Kommentar aus der Frankfurter Rundschau (Thomas Roser: "Zweite Chance für Orange") heißt es zum Wahlausgang u.a.:

Zweifel am Wählerwillen lässt das Ergebnis der ukrainischen Parlamentswahl kaum: Trotz aller Ernüchterung seit der Revolution in Orange will die Mehrheit den Reformparteien eine zweite Chance geben, aber das Kräfteverhältnis im orangefarbenen Lager hat sich kräftig verschoben. Die herbe Schlappe für Präsident Wiktor Juschtschenko ist die Quittung für seine unentschlossene Führung und die ihm angelastete Spaltung der Bewegung. (...)
Einer Rückkehr in die Sowjet-Vergangenheit haben die Ukrainer im Westen und Zentrum des Landes eine Abfuhr erteilt, doch im russischsprachigen Osten und Süden liegt weiterhin die eher nach Moskau orientierte Partei der Regionen von Ex-Premier Wiktor Janukowitsch vorn. Dennoch ist der vermeintliche Sieger einer der Verlierer, dem die Mehrheit für die erhoffte blaue Gegenrevolution verwehrt bleibt.
(...) Ihre erste Chance haben die ukrainischen Revolutionäre verspielt, die zweite sollten sie nutzen, denn unbegrenzt ist der Vertrauensvorschuss nicht.

Aus: Frankfurter Rundschau, 28. März 2006 (Kommentar)


Ränkespiele um die Macht in Kiew

Wahlbündnisse vor dem ersten ernsthaften „Revolutionstest" in der Ukraine

Von Manfred Schünemann

In Kiew geben ausländische Politiker einander derzeit wieder die Klinke in die Hand. Das neue Interesse an der Ukraine ist nicht zufällig: Am 26. März sind Parlamentswahlen und eine Bestätigung der »Orangenen Revolution« ist durchaus nicht sicher.

In der Bevölkerung ist die Begeisterung über die »Revolution« von Ende 2004 in Zweifel und Ernüchterung umgeschlagen. Sorge bereitet auch die Zerstrittenheit im Lager der einstigen Revolutionäre. In Meinungsumfragen liegt die »Volksunion Unsere Ukraine« - das Bündnis um Präsident Viktor Juschtschenko - mit 12 bis 14 Prozent abgeschlagen auf dem dritten Platz. Dem »Block Julia Timoschenko« werden 18 bis 20 Prozent vorausgesagt, doch an der Spitze liegt derzeit die Partei der Regionen unter dem ehemaligen Ministerpräsidenten Viktor Janukowitsch mit etwa 25 Prozent. Da also keine der Parteien mit einer eigenen Mehrheit in der Werchowna Rada rechnen kann, ist das Ringen um Koalitionspartner zum Hauptfeld des politischen Ränkespiels geworden - zumal die stärkste Parlamentsfraktion künftig das Recht hat, den neuen Premierminister vorzuschlagen.

»Unsere Ukraine« mit dem derzeitigen Regierungschef Juri Jechanurow als Spitzenkandidat bemüht sich seit Wochen um eine Vereinbarung mit dem »Block Julia Timoschenko«. Doch die populäre Timoschenko, die schon nach wenigen Monaten von Juschtschenko als Ministerpräsidentin entlassen worden war, ist bisher nicht zum Kniefall zu bewegen. Sie hofft auf das Zustandekommen einer Koalition mit anderen liberalzentristischen Parteien und Teilen des jetzigen Regierungslagers. Diese Hoffnung scheitert bisher an ihrer Forderung, wieder das Amt der Regierungschefin zu übernehmen. Zu groß ist bei in- und ausländischen Geldgebern die Furcht vor der Unberechenbarkeit Timoschenkos, deren Kompetenzen als Ministerpräsidentin gemäß der geänderten Verfassung größer wären als die des Präsidenten.

Das Juschtschenko-Lager sondiert unterdessen andere Möglichkeiten und schließt auch ein Bündnis mit der einst als »Wahlfälscherpartei« beschimpften Partei Janukowitschs nicht aus. Der Expremier wiederum hofft auf einen überzeugenden Wahlsieg und auf eine Neuauflage des Bündnisses jener Parteien, die unter dem ehemaligen Präsidenten Leonid Kutschma das Regierungslager bildeten.

Der Ausgang des Koalitionspokers ist noch völlig offen. Entscheidend könnte sein, ob sich eine Lösung findet, dem Machtanspruch Julia Timoschenkos Genüge zu tun, ohne die jetzige Regierungspolitik zu gefährden. Offen wird deshalb schon über eine neuerliche Verfassungsänderung zu Gunsten der Präsidialmacht spekuliert, um Unwägbarkeiten in der Politik des Regierungschefs auszugleichen.

Das Ringen um Parlamentsmehrheiten ist Teil der anhaltenden Auseinandersetzungen über die innen- und außenpolitischen Orientierung der Ukraine. Die einseitige Ausrichtung nach Westen, wie sie insbesondere von nationalistisch-konservativen Regierungskreisen betrieben wird, hat nicht nur das Verhältnis zu Russland ernsthaft belastet, sondern auch die Gegensätze zwischen den Regionen geschürt. Auf der Krim und in ostukrainischen Gebieten will man Russisch wenigstens zur »regionalen Amtssprache« machen. Betriebe in diesen Gebieten versuchen, Restriktionen im Handel mit Russland zu umgehen. Besonders aber das Streben nach einem raschen NATO-Beitritt stößt in der Bevölkerung auf Missbehagen. Nach Umfragen sind im Osten der Ukraine fast 80 Prozent der Bewohner gegen eine NATO-Mitgliedschaft, im Landeszentrum mehr als die Hälfte. Selbst in der Westukraine ist nur etwa ein Drittel der Bevölkerung für einen raschen Beitritt.

Nicht nur linke Oppositionelle glauben deshalb, dass die Zuspitzung des ukrainisch-russischen Erdgasstreits Teil einer Kampagne mit dem Ziel war, die Ukrainer von der Notwendigkeit eines raschen NATO-Beitritts zu überzeugen. »Dafür braucht man den Konflikt mit Russland, je schärfer - desto besser«, argwöhnt der frühere Vizeparlamentspräsident Viktor Medwedtschuk.

Die Parlamentswahlen sind der erste ernsthafte Stimmungstest nach dem Personalwechsel an der Staatsspitze. Mit Ausnahme der Kommunisten (denen 5 Prozent der Stimmen zugebilligt werden) und linker Splitterparteien sind jedoch alle politischen Kräfte - mit gewissen Modifizierungen hinsichtlich des Verhältnisses zu Russland - an einer Fortsetzung der gegenwärtigen Regierungspolitik interessiert. Durch ein verändertes Wahlgesetz, das nur noch Listenwahl zulässt, und die »traditionelle« administrative Absicherung durch Gebiets- und Kreisverwaltungen (diesmal von den ausländischen Beobachtern gewiss wohlwollend betrachtet) werden die Wahlen zur Stabilisierung des bestehenden politischen Systems beitragen.

Aus: Neues Deutschland vom 7. März 2006


Test auf die ukrainische "Orangenrevolution"

Nach den Parlamentswahlen am Sonntag wird erneut ein Schacher um Posten und Pfründe erwartet

Von Irina Wolkowa, Moskau*

Wenn die Ukraine am Sonntag ein neues Parlament wählt, geht es um weit mehr als um die Vergabe von 450 Mandaten für die Werchowna Rada (Oberster Rat). Im Januar traten Verfassungsänderungen in Kraft, wonach künftig nicht mehr der Präsident, sondern das Parlament den Regierungschef ernennt. An den wiederum muss Präsident Viktor Juschtschenko etliche seiner Vollmachten abtreten.

Die Miliz ist für die Zeit vom Wahltag bis zur Verkündung des offiziellen Ergebnisses in erhöhte Dienstbereitschaft versetzt worden. Der bisherige Parlamentspräsident Wladimir Litwin will auch nicht ausschließen, dass erneut Fälschungsvorwürfe laut werden, doch an eine Wiederholung der wochenlangen Proteste auf dem Kiewer Maidan, wie nach den Präsidentenwahlen im November 2004, glaubt niemand.

Die damalige »Revolution der Orangen« hat in der Bevölkerung bereits viel an Charme verloren – und damit auch das Entwicklungsmodell, das deren Triumphator Viktor Juschtschenko der Ukraine verordnet hat: Radikale Demokratisierung der Gesellschaft und schrittweise Integration in NATO und EU. Vor allem das rückläufige Wirtschaftswachstum und das Ausbleiben spürbarer Verbesserungen der Lebenslage, aber auch Skandale um einstige Revolutionshelden rufen Kritik hervor. Die einen werfen Juschtschenko mangelndes Durchsetzungsvermögen gegenüber Russland – insbesondere während des »Gaskriegs« zum Jahreswechsel – vor. Andere verübeln ihm den prowestlichen Kurs, denn 60 Prozent der Bevölkerung sind laut Umfragen nach wie vor gegen eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine.

Zu den Parlamentswahlen hatte die Wahlkommission nicht weniger als 45 Parteien und Bündnisse zugelassen. Doch Anfang März – seither ist die Veröffentlichung von Umfrageergebnissen per Gesetz verboten – durften sich nur sechs Gruppierungen Hoffnungen machen, die 3-Prozent-Hürde zu überspringen. Und ganze drei werden um das Recht streiten, den Ministerpräsidenten vorzuschlagen: Das Juschtschenko-Bündnis »Unsere Ukraine« unter dem amtierenden Regierungschef Juri Jechanurow, die »Partei der Regionen« des einstigen Juschtschenko-Rivalen Viktor Janukowitsch, und der »Block Julia Timoschenko« unter der gleichnamigen Sirene der Revolution, die sich schon nach wenigen Monaten als Regierungschefin mit dem Präsidenten verkracht hatte und entlassen wurde.

Zu einer Mehrheit wird es indes für keine dieser drei Gruppen reichen. In den Umfragen führte zuletzt die Janukowitsch-Partei mit etwa 30 Prozent der Stimmen. »Unsere Ukraine« und der Timoschenko-Block brachten es auf Ergebnisse zwischen 15 und 20 Prozent. Käme es so, müssten sich die Beteiligten nach der Wahl zu irgendeiner Koalition bequemen. Julia Timoschenko will sich dem Juschtschenko-Lager aber nur wieder anschließen, wenn für sie selbst erneut ein Posten herausspringt, der ihr reale Macht verleiht. gerade das aber will nicht nur Juschtschenko vermeiden. Ein Bündnis Timoschenkos mit Janukowitsch wiederum ist so gut wie ausgeschlossen – die wirtschaftlichen Interessen beider Blöcke schließen einander aus. So wird inzwischen eine »orangeblaue « Koalition zwischen den einst verfeindeten Lagern Juschtschenkos und Janukowitschs durchaus für möglich gehalten.

Die Kommunisten, nach deren Ansicht die »Revolution« ohnehin nur der Streit zwischen zwei Oligarchen- Clans war, sehen in einem solchen Regierungsbündnis ein politisches Geschäft zum gegenseitigen finanziellen Vorteil. Die KPU selbst lag in den Umfragen ebenso wie die Sozialistische Partei unter Alexander Moros, der sich im Winter 2004/05 dem Juschtschenko-Lager angeschlossen hatte, allerdings nur bei 3 bis 6 Prozent. Ebensolche Werte erreichte der Block des amtierenden Präsidenten der Werchowna Rada, Wladimir Litwin.

Ein schillerndes Aushängeschild hat das Bündnis der Parteien »Pora« und »Reformen und Ordnung« gefunden: Profi-Boxer Vitali Klitschko kandidiert sowohl fürs Parlament als auch für den Posten des Kiewer Oberbürgermeisters. Doch weder in dem einen noch in dem anderen Fall ist ihm ein Erfolg sicher.

Sollte der zu erwartende Koalitionshandel auch nach 60 Tagen erfolglos geblieben sein, dürfte Präsident Viktor Juschtschenko übrigens noch einmal seine ganze Macht ausspielen: Er könnte das Parlament auseinander jagen und Neuwahlen ausschreiben.

* Aus: Neues Deutschland, 24. März 2006

Die Ukraine vor der Wahl

Von Anatoli Orjol*

Die geopolitische Lage der Ukraine ist eine einzigartige Möglichkeit, ein verbindender Zivilisationsfaden zu sein sowie den Dialog, die Annäherung und die Beseitigung von Widersprüchen zu ermöglichen.

MOSKAU, 23. März - Die Parlamentswahlen vom 26. März in der Ukraine werden unter den Bedingungen der überaus tiefen politischen und Wirtschaftkrise verlaufen, die die heiteren Hoffnungen und den Romantismus der orange Revolution abgelöst hat. Meiner Ansicht nach liegt der wichtigste Grund darin, dass die Vertreter der neuen Macht einfach nicht wussten, was sie mit dem Land anfangen sollten.

In Kiew war man der Auffassung, dass die Errungenschaften der Revolution reichen müssten, damit Europa der Ukraine sofort Tür und Tor öffne und Russland sich beeile, für alle durch die Annäherung seines Nachbarlandes an den Westen verursachten Kosten aufzukommen.

Die ukrainische Macht nahm irrtümlich an, der Erfolg der Ukraine im Westen stehe im direkten Verhältnis zu dem Grad der Distanzierung Kiews von Moskau. Die Konfrontation mit Russland war ein Grund der inneren politischen Krise in der Ukraine, die bis heute andauert.

Um die Krise im Lande zu überwinden und das Vertrauen der wichtigsten außenpolitischen Akteure zur Ukraine wiederzugewinnen, muss sie sofort die Versuche aufgeben, in ihrer Außenpolitik die Kanons des Kalten Krieges wiederzubeleben. Was die Ukraine braucht, ist ein vorhersagbarer, pragmatischer Kurs, der nicht auf Illusionen, sondern auf den objektiven Möglichkeiten des Landes und seinen realen nationalen Interessen basiert.

Man sollte der Wirklichkeit ins Auge blicken und darauf verzichten, die Europa-Politik auf den Illusionen hinsichtlich eines beschleunigten EU-Beitritts der Ukraine als Mittel zur geopolitischen Trennung von Russland aufzubauen.

Das bedeutet keine Aufgabe der europäischen Option als solcher. Aber die Realisierung dieser Option muss nicht unbedingt auf einer antirussischen Plattform basieren. Mehr noch, die Spannungen und die Atmosphäre des Misstrauens in den ukrainisch-russischen Beziehungen werden der Ukraine ihre Annäherung an Europa wesentlich erschweren.

In Wirklichkeit können die Modelle einer solchen Annäherung unterschiedlich sein. Das könnte die allmähliche Schaffung eines gemeinsamen Marktes Ukraine - EU nach dem Typ der Abkommen zwischen der Europäischen Union und der Europäischen Freihandelsassoziation sein. Das könnte die Schaffung von gemeinsamen Räumen in verschiedenen Bereichen sein, wie das jetzt zwischen der EU und Russland passiert.

Es ist die Möglichkeit für Kiew zu prüfen, an gemeinsamen Formaten des Zusammenwirkens zwischen der EU und Russland teilzunehmen. Und zwar nicht einfach teilzunehmen, sondern sie auch aktiv und kreativ zu überarbeiten und im allgemeinen Interesse zu ändern. Denn trotz der langjährigen Rhetorik von Seiten Kiews im Geiste der europäischen Integration ist Russland in der Zusammenarbeit mit der EU bei den meisten Schlüsselrichtungen doch weiter gekommen, als die Ukraine. Außerdem gelingt es der Ukraine einfach nicht, getrennt von Russland effektive Formate eines Dialoges mit der EU aufzubauen, und das bezieht sich auf Probleme wie Energiesicherheit, Migrationsprozesse und Readmissionsgrenzen. Gemeinsam mit Russland wäre es vielleicht leichter, auch einen gemeinsamen Markt mit Europa zu schaffen.

Aber wie die Formen zur Verwirklichung der europäischen Option der Ukraine in Zukunft auch sein mögen, es darf unter keinen Umständen die grundlegende Regel vergessen werden, dass Kiew für Washington und Moskau, für Rom und Berlin, für Brüssel und Peking ein gleich zuverlässiger Partner sein muss.

Kiew sollte alles tun, um die Beziehungen zu Russland in die normale Bahn von Dialog und Zusammenarbeit zurückzulenken, ohne dabei etwas von den nationalen Interessen der Ukraine außer Acht zu lassen. Das ist ohne Übertreibung eine Frage von Leben und Tod für den ukrainischen Staat.

Eine Aufgabe der neuen ukrainischen Regierung, die im Ergebnis der bevorstehenden Parlamentswahlen gebildet werden wird, besteht darin, alles Mögliche zu tun, damit die Ukraine aufhört, sich in die vorgeschobene Linie eines neuen Kalten Krieges zu verwandeln. Und außerdem sollte sie ihre einzigartigen Möglichkeiten nutzen, um die Sicherheit real zu festigen und ein Klima des Vertrauens im Ostteil des europäischen Kontinentes zu schaffen.

Der Westen und Russland sind - trotz aller zwischen ihnen wirklich bestehenden tiefen Unterschiede - zwei unlösbare Bestandteile ein und derselben Zivilisation, die in erster Linie auf christlichen Werten beruht. Die Ukraine kann sich nicht lediglich mit dem einen dieser Bestandteile der einheitlichen Zivilisation assoziieren und dem anderen Bestandteil den Rücken zukehren. Eine solche Position würde das Land einfach zerreißen.

Die geopolitische Lage der Ukraine ist eine einzigartige Möglichkeit, ein verbindender Zivilisationsfaden zu sein sowie den Dialog, die Annäherung und die Beseitigung von Widersprüchen zu ermöglichen.

* Anatoli Orjol, Kiew, Politologe.
Aus: RIA Nowosti, 23. März 2006




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