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Welchen Weg nimmt die Ukraine?

In Kiew wird Viktor Janukowitsch heute als neuer Präsident vereidigt

Von Manfred Schünemann *

Mit der feierlichen Vereidigung in der Werchowna Rada, dem ukrainischen Parlament, tritt Viktor Janukowitsch am heutigen Donnerstag (25. Feb.) sein Amt als Präsident der Ukraine an.

Bis zuletzt hatte Julia Timoschenko, die Wahlverliererin, die Amtseinführung ihres Rivalen verhindern wollen. Erst am Wochenende zog sie - wohl unter dem Druck ihrer politischen Anhänger im In- und Ausland - ihre gerichtliche Klage gegen das Wahlergebnis vom 7. Februar zurück. Nicht ohne zu betonen, dass Janukowitsch nicht ihr Präsident sei, da er schon begonnen habe, die »nationalen Interessen der Ukraine zu verraten«. Kategorisch schloss sie ein Zusammengehen mit der Partei der Regionen (PdR) - der Partei Janukowitschs - aus und appellierte an alle »demokratischen und staatsbewussten« Kräfte, gemeinsam »die Errichtung einer antiukrainischen Diktatur« zu stoppen.

Für Viktor Janukowitsch ist die Amtsübernahme die Krönung seiner politischen Arbeit. Fünf Jahre nach der »Revolution in Orange« - einer von seinen politischen Gegnern im In- und Ausland organisierten und finanzierten Aktion - gewann er mit knapp 3,5 Prozentpunkten Vorsprung eine auch international als »fair und frei« bewertete Präsidentenwahl. Er mobilisierte nicht nur seine Stammwählerschaft in der Ostukraine, sondern gewann auch in den traditionellen Hochburgen des »orange« Lagers in der West- und Zentralukraine gegenüber dem ersten Wahlgang über eine Million Stimmen hinzu. Dennoch bleiben die Unterschiede im Stimmverhalten von West und Ost erheblich. Eine Herausforderung für Janukowitsch besteht also darin, die politischen und geistig-kulturellen Differenzen zu überwinden und Präsident aller Ukrainer zu werden.

Wichtige Voraussetzung dafür wäre die Bildung einer neuen Regierungskoalition unter Führung der PdR. Hinter den Kulissen wird seit Tagen fieberhaft daran gearbeitet, die nach wie vor amtierenden Regierungschefin Julia Timoschenko durch eine neue Parlamentsmehrheit abzulösen. Das Janukowitsch-Lager strebt eine Koalition aus Partei der Regionen, dem Block des Parlamentspräsidenten Wolodymyr Litwin und etwa 40 Abgeordneten des Blocks »Unsere Ukraine - Selbstverteidigung des Volkes« (UU-SV) an. Beide Wunschpartner bildeten bisher ein Regierungsbündnis mit dem Timoschenko-Block und fordern für ihren »Frontenwechsel« wesentlichen Einfluss auf die künftige Politik, möglichst sogar das Amt des Ministerpräsidenten, um ein zu weit gehendes Abrücken von der Politik des bisherigen Präsidenten Viktor Juschtschenko zu verhindern. Janukowitsch aber favorisiert bisher einen Ministerpräsidenten aus den Reihen seiner eigenen Partei, die in der Werchowna Rada die größte Fraktion stellt. Möglich wäre auch eine Einbindung der Kommunisten in die Koalition, allerdings hat der KPU-Vorsitzende Petro Simonenko dazu bereits große Vorbehalte geäußert. Für ihn war die jüngste Wahl lediglich eine »Machtumverteilung unter Clangruppen«. Das Abstimmungsverhalten seiner Fraktion zeigt jedoch, dass die Tolerierung einer neuen Regierung durch die KPU nicht auszuschließen ist.

Sollte die neue Koalition mit Teilen des Blocks UU-SV zustande kommen, wäre zumindest zeitweilig größere innere Stabilität zu erwarten. Für die Bewältigung der Krise und die Ankurbelung der Wirtschaft wäre das dringend erforderlich. Neue Wahlgänge - auch vorgezogene Parlamentswahlen - führten kaum zu grundsätzlichen Verschiebungen des Kräfteverhältnisses und größerer Stabilität.

Innen- und außenpolitisch erwarten den neuen Präsidenten komplizierte Aufgaben. Vor allem müssen immer wieder verschobene Strukturreformen in der Wirtschaft durchgesetzt werden, um die tragenden Wirtschaftszweige - Schwermaschinenbau, Metallurgie, Elektronik, Elektrotechnik und Landwirtschaft - zu modernisieren. Dringlich ist auch eine Erneuerung der Infrastruktur: Gas- und Stromleitungen, Straßen, Eisenbahnen und kommunale Versorgungssysteme. Die erforderlichen Mittel sind ohne Kürzungen in anderen Bereichen und ohne ausländische Investoren und Kreditgeber nicht zu beschaffen. Vor allem der IWF aber knüpft die Bereitstellung neuer Kredite an Einschnitte im Sozialbereich, darunter Kürzungen von Renten und Sozialleistungen sowie Personalabbau im öffentlichen Dienst. Wie Janukowitsch das mit seinem Versprechen größerer sozialer Sicherheit in Einklang bringen will, ist offen.

Viele in seinem Lager setzen auf das Engagement russischer Investoren und den Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen mit dem großen Nachbarn. Gleich nach seiner Wahl nannte Janukowitsch die Beziehungen zu Russland und den GUS-Staaten »prioritär« und betonte: »Unsere Länder sind eng miteinander verbunden - Ökonomie, Kultur, Geschichte und wirtschaftliche Komplexe ergänzen einander.« .Es gelte, »die in den Jahren der sogenannten orange Revolution geschaffenen Hemmnisse zu beseitigen«.

Das betrifft natürlich auch den Bereich Erdgas und Erdöl. Nach übereinstimmender Einschätzung müssen diese Beziehungen auf eine neue vertragliche und materielle Basis gestellt werden, um sowohl den inneren Bedarf als auch den Transit nach Westeuropa dauerhaft zu sichern. Im Gespräch ist eine Wiederbelebung der Pläne zur Schaffung eines Dreier-Konsortiums Russland-Ukraine-EU. Deren Verwirklichung hängt aber nicht in erster Linie vom ukrainischen Interesse ab, sondern vom politischen Willen und den wirtschaftlichen Interessen Russlands und der EU. Bereits in den ersten Tagen nach der Präsidentenwahl vermerkten russische Kommentatoren mit Sorge, dass die Ukraine wie zu Zeiten des früheren Präsidenten Leonid Kutschma für »schöne Worte von der ewigen ukrainisch-russischen Freundschaft« Vorzugspreise für Erdgas erwarten könnte. Dem müsse mit einer Konzeption für das gesamte russisch-ukrainische Beziehungsgeflecht begegnet werden. Gemeint sind damit Probleme wie die Stellung der Ukraine zum Gemeinsamen Wirtschaftsraum, Sicherheitsgarantien für russische Investoren, die Zukunft der russischen Schwarzmeerflotte in Sewastopol, die Haltung zur NATO und die Geschichtsdiskussion. Ob der neue Präsident und eine neue Parlamentsmehrheit bereit und fähig sind, diesen russischen Vorstellungen konstruktiv zu begegnen, bleibt abzuwarten. Letztlich hängt es nicht nur vom Kräfteverhältnis in der Ukraine, sondern auch von den internationalen Rahmenbedingungen ab.

* Aus: Neues Deutschland, 25. Februar 2010

"Brücke von Ost nach West"

Janukowitsch als Präsident der Ukraine ins Amt eingeführt **

Der neue ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch will die frühere Sowjetrepublik künftig als blockfreien Staat und gleichberechtigten Partner der EU und Russlands etablieren.

Die Ukraine strebe im europäischen Sicherheitsgefüge eine Rolle als »Brücke zwischen Ost und West« an, sagte der 59-Jährige am Donnerstag (25. Feb.) vor Abgeordneten und ausländischen Gästen bei seinem Amtsantritt in Kiew. Zweieinhalb Wochen nach seinem Wahlsieg gegen Regierungschefin Julia Timoschenko stimmte Janukowitsch seine Landsleute auf einen harten Reformkurs ein. Alle Kräfte müssten dem tief in der Krise steckenden Land zu schnellem Wachstum verhelfen. Timoschenko blieb der Amtseinführung demonstrativ fern und nährte damit Befürchtungen einer Fortsetzung des lähmenden Machtkampfs in dem sprachlich und kulturell gespaltenen Land. Die Ministerpräsidentin hatte am 7. Februar die Stichwahl gegen Janukowitsch knapp verloren und wirft ihrem Rivalen Wahlfälschung vor. Hingegen hatten die EU und die USA die Abstimmung als fair und frei eingestuft.

Janukowitsch kündigte eine »Reform des Machtsystems« an. Eine neue Regierung müsse auch rasch für eine Besserung der sozialen Lage im Land sorgen. Die Menschen in dem zweitgrößten Flächenstaat Europas hoffen, dass der im russisch-sprachigen Osten und Süden der Ukraine populäre Politiker das Land aus seiner schwersten Krise seit dem Zerfall der Sowjetunion vor 20 Jahren führen kann. Janukowitschs Vorgänger Viktor Juschtschenko, der Sieger der »Revolution in Orange« von 2004, war wegen nicht eingelöster Versprechen abgewählt worden.

Insgesamt waren Staatsgäste aus mehr als 100 Ländern nach Kiew gekommen. Aus Brüssel reiste die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton an, für die Bundesregierung nahm Außenstaatsminister Werner Hoyer teil. Deutschland hoffe auf eine stabile Regierung in Kiew und werde dann auch die Reformbemühungen unterstützen, sagte Hoyer. »Wir brauchen die Ukraine - als verlässlichen Partner, nicht nur in Handels-, sondern auch in politischen Fragen.«

Nationalistische Kräfte der Ukraine kritisierten derweil die Teilnahme des Oberhauptes der russisch-orthodoxen Kirche, des Patriarchen Kirill I., an der Amtseinführung. Seine Gegner werfen Janukowitsch allgemein eine zu große Nähe zu Russland vor. Unmittelbar nach seinem Wahlsieg hatte Janukowitsch angekündigt, dass die Beziehungen zu Russland und anderen Ex-Sowjetrepubliken im Vordergrund seiner Außenpolitik stehen sollen. Die erste Auslandsreise des neuen Staatschefs führt am Montag jedoch nach Brüssel.

** Aus: Neues Deutschland, 26. Februar 2010




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