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Ukraine rüstet zu neuer Wahlschlacht

Am 2. August wurde das Rennen um die Sitze in der Werchowna Rada offiziell gestartet

Von Manfred Schünemann *

Ungeachtet andauernder Streitigkeiten über die Verfassungsmäßigkeit vorgezogener Parlamentswahlen hat der Wahlkampf in der Ukraine offiziell begonnen. Auch die erste Gruppe der etwa 600 OSZE-Beobachter wird dieser Tage in Kiew erwartet.

Die Wahlen zur Werchowna Rada (Oberster Rat) am 30. September – anderthalb Jahre nach den letzten Parlamentswahlen im März 2006 – wurden durch einen Erlass von Staatspräsident Viktor Juschtschenko erzwungen, der die Werchowna Rada am 2. April für aufgelöst erklärte und schon am 27. Mai wieder wählen lassen wollte. Juschtschenko löste damit eine Staatskrise aus, die das Land an den Rand eines Bürgerkrieges brachte. Nach wochenlangem Machtkampf einigte sich der Präsident mit seinem Rivalen, Regierungschef Viktor Janukowitsch, auf den Wahltermin 30. September.

Zwar beschloss die Werchowna Rada im Juni entsprechende Gesetzesänderungen, aber noch immer fehlen wichtige Ausführungsbestimmungen, selbst über die personelle Besetzung der Wahlkommissionen ist nicht endgültig entschieden. Ungeachtet dessen bereiten die Parteien gegenwärtig ihre Wahlparteitage vor, die bis Ende August Kandidatenlisten und Wahlprogramme beschließen müssen. Intensiv wird an Vereinbarungen über Wahlbündnisse und künftige Koalitionen gewerkelt.

Das Lager von Präsident Juschtschenko hat bereits im Juni mit der Formierung eines Wahlblocks begonnen, um sich durch die Einbindung national-konservativer und nationalistischer Kräfte wenigstens einen Stimmenanteil von 10 bis 12 Prozent zu sichern. Unter dem Patronat Juschtschenkos, der als Präsident eigentlich zu parteipolitischer Neutralität verpflichtet wäre, schloss sich das Bündnis »Unsere Ukraine« mit den Nachfolgeparteien der national-patriotischen Sammlungsbewegung RUCH und nationalistischen Gruppierungen wie »Sobor« und »Kongress« zum Wahlblock »Unsere Ukraine – Selbstverteidigung des Volkes« zusammen. Dessen Ziel ist es, in einer neuen Koalitionsregierung mit stabiler Mehrheit einen stramm westlich orientierten Kurs durchzusetzen.

Der Wahlblock kann sich diesmal mehr noch als 2006 auf die »Ressourcen« der präsidialen Verwaltungsbürokratie und die von Juschtschenko eingesetzten Gebietsgouverneure und - verwaltungen stützen. Juschtschenkos Versuch, sich auch die Unterstützung der Industrie- und Bankenmanager zu sichern, war nur von einem Teilerfolg gekrönt: Die wichtigsten Vertreter des Donezker Clans verzichteten auf die Teilnahme an einem Treffen im Juli.

Trotz intensiven Werbens haben sich auch Julia Timoschenko und ihr Wahlblock BJuT bisher noch nicht zu verbindlichen Zusagen für den Wahlkampf und ein künftiges Regierungsbündnis bewegen lassen. Timoschenko ist zur Zusammenarbeit mit dem Juschtschenko-Block nur zu den eigenen inhaltlichen und personellen Bedingungen bereit. Die Sirene der »Orangen Revolution«, später als Ministerpräsidentin von Juschtschenko geschasst, kann darauf hoffen, dass BJuT mit 14 bis 16 Prozent der Stimmen zweitstärkste Kraft im Parlament wird. Ihr erstes Ziel ist es, eine Koalition des Blocks »Unsere Ukraine« mit der Partei der Regionen (PdR) unter Viktor Janukowitsch zu verhindern. Wenn das nicht gelingt, werde BJuT in die Opposition gehen, um klare Zeichen für Präsidentenwahl 2009 zu setzen, kündigte Timoschenko an.

Die Partei der Regionen ihrerseits betrachtet sich schon als klarer Wahlsieger. Selbstbewusst wird als Minimum eine Wiederholung des Ergebnisses vom März 2006 mit etwa 30 Prozent der Stimmen und 186 Mandaten im 450-sitzigen Parlament angestrebt. Man liebäugelt gar mit einer eigenen Mehrheit (226 Mandate) und verweist auf die gute Wirtschaftsentwicklung: ein Wachstum von 6 bis 7 Prozent, steigende Realeinkünfte der Bevölkerung und soziale Sicherungsmaßnahmen für Rentner, Kriegsveteranen und Geringverdiener.

Verpasst die Janukowitsch-Partei die Mehrheit, wird sie auf Koalitionspartner angewiesen sein. Der Kommunistischen Partei unter Pjotr Simonenko werden derzeit 4 bis 5 Prozent vorausgesagt, was der KPU eine Fraktion garantieren und eine Neuauflage der Koalition mit der Partei der Regionen ermöglichen würde (In der Ukraine existiert eine 3-Prozent-Hürde). Ob die PdR an einer solchen Koalition interessiert ist, wird bis nach der Wahl offen bleiben. Führende Vertreter der Regierungspartei haben bisher lediglich erklärt, dass die PdR bereit sei, »mit allen politischen Kräften eine Koalition zu bilden, die ihre Einschätzungen der gegenwärtigen Situation und der Perspektive des Landes teilen«. Der einflussreiche Unternehmerflügel um den Donezker Oligarchen und jetzigen Finanzminister Nikolai Asarow wünscht sich wohl eher eine Koalition mit dem Juschtschenko-Block, um sich des Wohlwollens westlicher Investoren zu versichern.

In die heiße Phase wird der Wahlkampf erst nach der Sommerpause treten, die traditionell mit dem Nationalfeiertag am 24. August endet. Dann werden die Hauptthemen der politischen Auseinandersetzungen – Machtverteilung, Wirtschafts- und Reformpolitik, Mitgliedschaft in NATO und EU, Verhältnis zu Russland – zur Sprache kommen. Zu erwarten ist allerdings, dass Wahlen und Wahlkampf – sofern sie »frei und fair« verlaufen – an der Einstellung der Bevölkerung und der Kräfteverteilung zwischen den Parteien kaum etwas ändern werden.

* Aus: Neues Deutschland, 7. August 2007


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