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Viele Umwege auf der Suche nach den Mördern

Es gibt Jede Menge Theorien zum Ende von Flug MH17 – doch nicht die Masse bringt Wahrheit

Von René Heilig *

Theorien zum Absturz von Flug MH17 gibt es zuhauf. Die Wahrheit über den 298-fachen Mord an der ukrainisch-russischen Grenze scheint noch immer nicht dabei.

Es habe in den letzten Tagen viel Grund gegeben für Wut in all der Trauer. Doch um zu einem Resultat zu gelangen, müsse man besonnen bleiben, hat Najib Razak, der Premierminister von Malaysia, am Dienstag gesagt. Er hoffe, dass man nun, da der Zug mit den geborgen Leichen unterwegs sei, die Flugschreiber übergeben wurden und unabhängige Ermittler sicheren Zugang zur Unglücksstelle erhalten sollen, auf einem guten Weg sei. Der Weg zur Wahrheit ist noch lang und vermint durch Desinformationen.

Die USA halten sich zwar nicht mit Schuldzuweisungen in Richtung Moskau zurück. Aber sie legen keine Beweise vor, die eine Beteiligung oder aber eine Unterstützung Russlands beim Abschuss von MH17 mit einer »Buk«-Rakete belegen.

Zu Wochenbeginn hat das russische Verteidigungsministerium sich geäußert, mit Daten und Karten und Satellitenfotos – ohne freilich eine klare Position in Sachen Tatwerkzeug erkennen zu lassen. Generalleutnant Andrej Kartopolow vom russischen Generalstab sagte, eine Su-25-Maschine der ukrainischen Luftwaffe sei bis auf drei oder fünf Kilometer an die Boeing 777 herangeflogen. Das bewiesen Aufzeichnungen der russischen Flugüberwachung. So ein Kampfjet habe Luft-Luft-Raketen, die auf diese Entfernung ein Ziel hundertprozentig zerstören. Eine Su-25? Das ist ein Erdkampfflugzeug, das sich eigentlich nicht in 10 000 Metern Höhe bewegt. Der General informierte auch über die Verlegung einer »Buk«-Flugabwehrbatterie sowie die Stationierung solcher Systeme bei Saroschinkskoe – das ist 50 Kilometer von Donezk und acht Kilometer von Schachtjorsk entfernt. Dort ist Rebellengebiet. Dennoch handle es sich um ukrainische Raketen. Klingt seltsam.

Moskaus Nachrichtenagentur hatte am 29. Juni berichtet, dass die Selbstverteidigungskräfte der »Donezker Volksrepublik« die Kontrolle über ein Raketenabwehrsystem vom Typ »Buk« übernommen haben. »Bisher gibt es keine Angaben über die Anzahl und den Zustand der Raketensysteme«, hieß es damals. Weiß man nun durch den Abschuss von MH17, wie kampfstark die Einheit ist? Wollte Putin das – via Generalleutnant Kartopolow – der Welt mitteilen?

War überhaupt eine Fla-Rakete, eine Flugabwehrrakete, die Mordwaffe, mit der die 298 Insassen der Boeing umgebracht wurden? Fotografen der »New York Times« taten, was normalerweise professionelle Flugunfallforscher als erstes tun. Sie fotografierten Trümmer. Auf ihren Bildern entdeckt man jede Menge Löcher in Rumpfteilen. Die Wucht kam von außen. Der Gefechtskopf von Flugabwehrraketen verfügt in der Regel über einen Abstandszünder. Die Raketen des »Buk«-Systems explodieren rund 17 Meter von dem anvisierten Objekt. Dabei werden Tausende vorgefertigte Splitter freigesetzt, die in Kegelform auf das Zielobjekt zurasen. Deren Geschwindigkeit und die der Boeing addieren sich. Die kinetische Energie des Zusammenpralls ist enorm. Die Maschine zerlegt sich in der Luft. Dass es so war, dafür spricht auch das riesige Areal, auf dem Trümmerteile niedergegangen sind.

Dieses Wissen allein hilft wenig bei der Mördersuche. Solche mobile Abwehrraketen haben die Streitkräfte Russlands ebenso wie die der Ukraine in ihrem Bestand. Und es gibt keinen Zweifel, dass sie im grenznahen Raum stationiert sind. Und dort sind auch die von den Rebellen angeblich eroberten Systeme.

Soldaten, die an sowjetischen Raketensystemen ausgebildet worden sind, bestätigen, dass die Bedienung eines solchen Systems umfangreiche Ausbildung voraussetzt. Mit einem Crashkurs sei das nicht zu machen. Doch die Militärs weisen auch darauf hin, dass alle drei möglichen Abschussverursacher durchaus über Spezialisten verfügen. Oder verfügen können. Wehrpflicht macht's möglich. Ein Unfall, herbeigeführt durch Unkundige, wird so immer unwahrscheinlicher. Schlamperei und Unfähigkeit aber nicht. Für jede Theorie finden sich Dutzende Protagonisten. Durchaus Experten. Doch man redet nicht miteinander und schon gar nicht in einer gemeinsamen Flugunfall-Untersuchungskommission der UN-Zivilluftfahrtbehörde ICAO. Politische Rücksichten und politischer Terraingewinn scheinen wichtiger als Aufklärung eines 298-fachen Mordes.

Seltsam mutet das Verhalten der Regierung in Kiew und ihrer Armeeführung an. Beide stellen in Abrede, etwas mit dem Abschuss zu tun zu haben. Möglich. Doch wo, wenn nicht in Kiew, kann man zur Aufhellung der Katastrophe beitragen? In der ukrainischen Hauptstadt gab es zu Sowjetzeiten eine Offiziershochschule für die Truppenluftabwehr sowie die einzige Militärakademie für diese Waffengattung zu der die in Verdacht stehenden »Buk«-Systeme gehören. Und auch das gehört zum Gesamtbild: In der Ukraine wurden jene Fla-Raketen produziert, mit denen »Buk«-Abschussrampen geladen werden.

Es fragt sich aber auch: Wer kann derzeit mit Gewissheit ausschließen, dass die Explosion im Innern der Boeing stattfand? br>
* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 24. Juli 2014


Moskau beklagt »beispiellose Hetze«

Putin will »versuchen«, Einfluss auf Milizen in der Ostukraine geltend zu machen / Nationaler Sicherheitsrat tagte

Von Irina Wolkowa, Moskau **


Moskau wird versuchen, seinen Einfluss auf die Milizen in der Ostukraine geltend zu machen, um eine »umfassende Aufklärung« des Absturzes der malaysischen Boeing zu gewährleisten.

Erstmals in der Geschichte Russlands hatte der Pressedienst des Kremls eine Tagung des Nationalen Sicherheitsrates vorab angekündigt. Bisher erfuhr die Öffentlichkeit – wenn überhaupt – nur im Nachhinein von den Beschlüssen, die der Rat in einem abhörsicheren Trakt des Kremls fasste. Diesmal war sogar die Tagesordnung vorher bekannt: »Maßnahmen zur Gewährleistung der Souveränität und territorialen Integrität« Russlands.

Man habe Russland gebeten, seinen Einfluss auf die Milizen in der Ostukraine gelten zu machen, sagte Präsident Putin zu Beginn der Tagung Dienstagnachmittag, »natürlich werden wir alles tun, was in unseren Kräften steht«. Handlungsbedarf wird von externen Bedrohungen diktiert. Und die bestehen derzeit aus Sicht Moskaus vor allem in einer »beispiellosen Hetzkampagne gegen Russland«, wie die Onlineausgabe der regierungsnahen Tagezeitung »Iswestija« unter Berufung auf einen Teilnehmer der Tagung schrieb. Mit Ruhm bedeckt hätten sich dabei vor allem Blogger und soziale Netzwerker. Der Rat habe daher vor allem Möglichkeiten einer systematischen Propaganda-Gegenoffensive erörtert – ein Verfahren, das »bisher nicht zu unseren Stärken zählt«. Eile sei geboten: Der Kongress der USA wolle die finanzielle Unterstützung russischer Regimegegner, darunter eventuell sogar Extremisten im Nordkaukasus, erheblich aufstocken, um »negative Prozesse in Russland in Gang zu setzen«.

Dass tatsächlich akuter Handlungsbedarf besteht, machte der Umgang mit dem Absturz der malaysischen Boeing über der Ostukraine erneut klar. Russland, stellte Alexander Konawalow vom Institut für strategische Bewertungen fest, sei derzeit einem beispiellosen Druck ausgesetzt. Die Welt sei voreingenommen und unterstütze die Ukraine. Daran habe sich auch nichts geändert, nachdem die »prorussischen« Separatisten die wichtigsten Forderungen der auch von Moskau mitgetragenen UN-Resolution erfüllt haben. Auch die Hinweise auf eine Schuld der Ukraine, die der russische Generalstab am Montag vorgelegt hatte, habe der Westen ignoriert.

Moskau will entsprechendes Material – darunter Screenshots eines grenznahen russischen Radars – der internationalen Untersuchungskommission zur Verfügung stellen und fordert auch Washington dazu auf. Im Unglückszeitraum überflog ein USA-Satellit die Kampfzone.

Konstantin Remtschukow, Chefredakteur der liberalen »Nesawissimaja Gaseta«, sagte in einer Talkshow, Washington müsse allein schon deshalb liefern, um wieder glaubwürdig zu werden. Die Öffentlichkeit habe noch nicht vergessen, mit welchen »Beweisen« George W. Bush 2003 den Irakkrieg zu legitimieren versuchte.

Außerdem, so der Gewährsmann der »Iswestija« weiter, hätte der Rat Migrationsprobleme – Russland fürchtet das Eindringen von Diversanten mit dem Flüchtlingsstrom aus der Ukraine – und die Sicherheit von Gebieten erörtert, die an die Ukraine grenzen und bereits mehrfach beschossen wurden. Es gab dabei auch Opfer unter der Zivilbevölkerung. Ausführlich habe man sich überdies mit Sicherheitsrisiken für die Krim befasst. Der neue ukrainische Verteidigungsminister hatte bei seiner Vereidigung eine »Siegesparade im ukrainischen Sewastopol« angekündigt.

** Aus: neues deutschland, Donnerstag, 24. Juli 2014


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