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Fälschung oder Provokation?

Merkwürdigkeiten um das angebliche Satellitenfoto vom Abschuss der malaysischen Boeing über der Ostukraine

Von Reinhard Lauterbach *

Am Freitag Abend glaubte der staatliche russische Fernsehsender Perwj Kanal (frei übersetzt: das Erste) seinen Zuschauern eine Sensation vorstellen zu können. Moderator Michail Leontjew präsentierte ein Foto, das angeblich den Abschuss der malaysischen Boeing 777 über der Ostukraine zeigte. Und zwar den Abschuss durch ein von hinten angreifendes ukrainisches Kampfflugzeug. Unter dessen linker Tragfläche ist ein Kondensstreifen zu sehen, der von einer soeben abgefeuerten Luft-Luft-Rakete stammen könnte.

Das Bild hat einen Kontext. Im August hatte ein »Verband Russischer Ingenieure« eine »Untersuchung der Umstände des Absturzes der malaysischen Boeing« ins Netz gestellt. Der Report erschloss keine neuen Quellen, sondern fußte auf den Angaben, die der Stabschef der russischen Weltraumtruppen am 21. Juli auf einer Pressekonferenz zum Hergang des Unglücks gemacht hatte, sowie auf den Mitte August im Internet verfügbaren Bildern des abgestürzten Flugzeugs. Brisant war dagegen das Ergebnis, das über die bis dahin offiziell von der russischen Seite vertretene Interpretation hinausging. Bis dahin lautete die Moskauer Lesart, der Abschuss sei nicht von einer russischen oder von den Rebellen bedienten bodengestützten Rakete des hochreichenden Typs BUK verursacht worden, sondern von einem ukrainischen System gleicher Bauart.

Statt dessen entwickelten die Autoren ein Szenario, das auf den Abschuss der Maschine durch einen Kampfjet hindeutete. Der sei tief unter der malaysischen Maschine angeflogen, dann im schnellen Steigflug durch die zum damaligen Zeitpunkt dichte Wolkendecke gestoßen und habe zunächst eine Salve aus der Bordkanone auf das Cockpit abgefeuert. Anschließend habe der Angreifer die Boeing umkreist und sie von hinten durch eine Luft-Luft-Rakete zum Absturz gebracht. Die Brisanz dieser These liegt naturgemäß darin, dass sie Vorsatz unterstellt; ihre Schwäche, dass sie auf Indizien beruht. Das am Freitag vom russischen Staatsfernsehen veröffentlichte Bild schien nun das fehlende Glied in der Argumentation zu sein.

Allerdings wurde das Foto in der ukrainischen und russischen Internetgemeinde schnell als vermutliche Fälschung in der Luft zerrissen. Hingewiesen wurde auf eine Vielzahl »falscher« Details:
  • Die beiden Flugzeuge seien im Maßstab viel zu groß dargestellt.
  • Die Luftaufnahme der Ostukraine im Bildhintergrund stamme aus Google Earth oder analogen russischen Kartendiensten, wie der Vergleich bestimmter Wolkenformationen beweise.
  • Die Aufschrift auf dem Flugzeugrumpf befinde sich an anderer Stelle als bei den erhaltenen Archivaufnahmen der malaysischen Boeing.
  • Das angreifende Flugzeug habe nicht die für die Mig-29 charakteristischen zwei Leitwerke am Heck, sondern nur eines.
Was bisher niemandem aufgefallen zu sein scheint: Das angreifende und das angegriffene Flugzeug scheinen durch die Sonne von verschiedener Seite angestrahlt zu werden. Da der Abschuss am Nachmittag geschah, wäre eine Ausleuchtung von Südwesten nachvollziehbar; das in nordöstlicher Richtung fliegende Kampfflugzeug wird aber von rechts ausgeleuchtet, was eine Lichtquelle im Südosten unterstellt. So muss bei nüchterner Analyse der Aufnahme der Zweifel an ihrer Echtheit überwiegen.

Der russische Ingenieursverband machte sich die Fotografie in einem in den Fernsehbeitrag eingeschnittenen Interview zu eigen und behauptete, sie sei ihm von einem Luftfahrtexperten namens George Bilt aus den USA per E-Mail zugeschickt worden. In der Begeisterung über diesen Zuspruch von unerwarteter Seite muss den Leuten vom Ingenieursverband entgangen sein, dass das Bild ihre Darstellung in entscheidenden Punkten gerade nicht unterstützt. Wichtigster Punkt: Anstelle der Wolkendecke, aus der das Flugzeug aufgetaucht sein soll, herrscht auf dem Bild klare Sicht.

Bleibt die Frage nach der Quelle des Bildes. Das amerikanische Onlineportal Buzzfeed hat den Mann ausfindig gemacht, der es dem Ingenieursverband zukommen ließ. Wilt behauptete, er habe das Foto mit dem ausdrücklichen Hinweis, er habe es aus dem Internet gezogen und könne sich für die Echtheit nicht verbürgen, an die Russen geschickt. Zumindest letzteres stimmt nicht. In dem Begleitschreiben, das in dem Fernsehbeitrag gezeigt wurde, ist von solcher Distanzierung nichts zu lesen. Richtig ist dagegen, dass das Foto am 15. Oktober in ein russischsprachiges Forum gepostet wurde - unter Verweis auf »Freunde des rusischen (sic!) Wikileak«, also aus erkennbar trüber Quelle.

Die Bemerkung des Amerikaners, die Russen, die aus seiner E-Mail eine Weltsensation zu machen versucht hätten, seien »entweder verzweifelt oder unprofessionell«, stimmt vermutlich. Nicht gesagt ist damit freilich, wer hinter der Fälschung steht: »Putin« oder vielleicht genau die Gegenseite? Aus deren Sicht ist der zutage getretene Dilettantismus der Quellenkritik auf russischer Seite ein Volltreffer. Eine zwar nur auf Indizien beruhende, aber in sich konsistente Version des Hergangs ist durch eine im handwerklichen Sinne plumpe Fälschung ohne Widerlegung in der Sache diskreditiert worden.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 20. November 2014


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