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Zufällig noch ein Wrackteil entdeckt

Stimmt die These von einem Raketentreffer, muss es Trümmer der Waffe geben. Doch wer hat sie?

Von René Heilig *

Schlamperei im Kriegsgebiet. Ermittler haben mehr als eine Woche nach dem Absturz des Malaysia-Airlines-Flugzeugs in der Ostukraine ein neues großes Wrackteil sowie weitere Leichen gefunden.

US-Außenminister John Kerry hat für die Echtheit eines vom ukrainischen Geheimdienst abgefangenen Gesprächs gebürgt. Der Mitschnitt kursierte bereits, da rauchten die Trümmer der am Donnerstag vergangener Woche abgeschossenen Boeing noch. Also alles klar: Für den Tod der 298 Passagiere des malaysischen Passagierflugzeuges soll Nikolai Kosizyn verantwortlich sein. Weil er der Anführer der russischen Kosaken ist, die an der Ostgrenze der Ukraine auf Seiten der sogenannten Separatisten kämpfen. Die beiden Telefonierer wiesen auf diese Truppe als Urheber der Unglücks hin.

Auch wenn es schwer fällt, sich vorzustellen, wie berittene Schwadronen, die einst Lenins Revolutionsgarden attackierten, ein modernes Flugabwehrsystem bedienen – die US-Dienste können, nachdem ihre These von den schießwütigen Putin-Truppen zerplatzte, derzeit keinen geeigneteren Schuldigen präsentieren.

Für gewöhnlich untersucht man erst und urteilt oder verurteilt dann – auf der Basis von Beweisen und Indizien. Im Fall der Ostukraine, in der die Kämpfe trotz des Hinmetzelns von fast 300 völlig unbeteiligten Passagieren und Besatzungsmitgliedern härter denn je weitergehen, ist das anders.

Wer schon einmal Flugunfall-Experten bei der Spurensuche begleitet hat und dieses akribische Suchen und Bewerten mit dem vergleicht, was bei Donezk passiert, weiß: Hier wird nichts aufgeklärt, hier wird vertuscht. Normalerweise dokumentiert man die Lage und Auffindeposition von Trümmern, Fracht und menschlichen Überresten sorgfältig. Früher setzten die Experten oft das zerstörte Flugzeug aus den gefundenen Teilen so gut es ging wieder zusammen, um Ursachenforschung betreiben zu können. Heute lässt man das Computer erledigen. Nichts dergleichen findet in der Ukraine statt.

Die leitenden Ermittler der Ukraine und der Niederlande bemängelten noch am Donnerstag, dass Separatisten die Arbeiten an der Unglücksstelle behindern. Das bestätigt der Leiter der unbewaffneten niederländischen Polizeimission, Jan Tuinder: Es gebe immer noch »Verrückte, so dass es sehr schwer ist, zu den Leichen vorzudringen«. Aus seiner Sicht seien das keine Rebellen sondern »Kriminelle«.

Dass bisher nur schlampig recherchiert wurde, zeigt der neue Fund eines Wrackteils samt Leichen. Es handelt sich um ein Rumpfstück, in dem Sitze und Fenster intakt waren. Es sei plötzlich in einem dichten Waldstück unweit der anderen Wrackteile aufgetaucht, sagte Michael Bociurkiw von der OSZE-Beobachtermission.

Die vom russischen Generalstab in Umlauf gebrachte Theorie, die Boeing könnte durch einen ukrainischen Suchoj-Jagdbomber vom Himmel geholt worden sein, ist anscheinend aus dem Rennen. Aber es gibt eine andere Variante bei »RIA-Novosti« zu lesen. Dem 156. Fla-Raketenregiments der ukrainischen Armee sei befohlen worden, am 17. Juli die Deckung von Bodentruppen zu trainieren. Die »Buk«-Batterien hätten unweit von Donezk Stellung bezogen. Zwei Jagdbomber Su-25 dienten als Übungspartner. Einer der Jets kreuzte unterhalb der Boeing deren Kurs – für die Raketensoldaten ergab das ein Ziel.

Diese Theorie des »tragischen Zufalls« erklärt jedoch nicht, wie es überhaupt geschehen sein soll, dass bei einer Übung eine scharfe Rakete startete. Mit dieser Frage befassten sich Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes der Ukraine, »die den Chef und die Mannschaft der Batterie gegen halb zehn Uhr abends abgeholt haben«, sagt die russische Agentur.

Ente oder nicht – die meisten Experten gehen davon aus, dass die Zivilmaschine von einer Boden-Luft-Rakete abgeschossen wurde. Doch wer bediente die Technik, wer gab den Befehl: »Pusk!« (Start!)?

Einige Fachleute meinen sogar beweisen zu können, dass die Boeing an der linken Seite zwischen Business- und Economie-Class zerrissen wurde. In dem Fall müssten sich zumindest Anhaftungen der Schrapnellstücke finden lassen, die bei der Annäherung von der Rakete ausgestoßen wurden.

Es stimmt zwar, dass der Raketensprengkopf in Tausend Stücke zerplatzt. Doch wesentliche Teile der 5,5 Meter langen Rakete bleiben erhalten. Sie fallen abseits der Flugzeugteile zu Boden. Erfahrungswerte vom Gefechtsschießen besagen, dass man sie in der Regel drei bis vier Kilometer von der Abschussstelle entfernt findet. Es kann sich um elektronische wie Triebwerksteile handeln. Sie tragen Typenschilder. So lässt sich auf den Hersteller und den ursprünglichen Empfänger der Waffe schließen. Doch innerhalb einer reichlichen Woche lässt sich vieles fortschaffen.

Vieles könnten sich US- und andere Dienste an Vergleichsobjekten anschauen. Sie müssten nur nach Finnland oder zum NATO-Partner Griechenland fahren. Auch deren Armeen verfügen über »Buk«-Raketenkomplexe aus russischem Export.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 26. Juli 2014


Internationale Truppe am Absturzort?

Australien und Niederlande wollen Kräfte entsenden **

Australien und die Niederlande wollen eigene Sicherheitskräfte zum Absturzort der malaysischen Boeing 777 im Osten der Ukraine schicken. Gut eine Woche nach der Katastrophe mit 298 Toten sprach der australische Premierminister Tony Abbott am Freitag von 190 Soldaten und Polizisten, die »zum Teil bewaffnet sein könnten«. Die Bedingungen für diese »humanitäre Mission«, wie Abbott sie bezeichnete, würden in einem Abkommen mit der Regierung in Kiew festgelegt, das kurz vor der Unterzeichnung stehe. Das Ziel bestehe darin, die 28 australischen Insassen der Maschine in die Heimat zu bringen. 90 australische Polizisten wurden bereits nach Europa verlegt, 100 Soldaten sollen laut Abbott folgen.

Die Niederlande bereiteten nach Angaben von Ministerpräsident Mark Rutte die Entsendung von 40 Polizisten und 23 Ermittlern vor. Rund um die Absturzstelle von Flug MH17 gilt nach Informationen der Regierung in Den Haag eine Waffenruhe. »Die ist aber sehr zerbrechlich«, sagte Rutte am Freitag im niederländischen Parlament. Die 23 niederländischen Experten sollen in den kommenden Tagen weitere Opfer bergen und die Absturzursache untersuchen. Sie sollen von 40 unbewaffneten Militärpolizisten unterstützt werden.

Die Separatisten in der Ostukraine, die das Gebiet um den Absturzort bisher kontrollieren, schließen die Stationierung einer internationalen Polizeitruppe nicht aus. »Wenn sich Malaysia, Australien oder die Niederlande an uns wenden, werden wir den Vorschlag natürlich prüfen«, sagte Sergej Kawtaradse von der »Volkswehr« am Freitag in Donezk. Die Aufständischen könnten die Sicherheit ausländischer Polizisten in der Kampfzone allerdings nicht garantieren. Kawtaradse wies Vorwürfe zurück, die Separatisten würden Ermittlungen und Sucharbeiten behindern. »Wir wollen Plünderungen verhindern und neutrale Untersuchungen ermöglichen«, erklärte der Sprecher.

Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko hat derweil die Übergabe von Satellitenbildern zugesagt, auf denen der Absturz der malaysischen Passagiermaschine exakt dokumentiert sein soll. »Für eine transparente Untersuchung des Terroraktes vom 17. Juli werden die Aufnahmen internationalen Ermittlern überlassen«, teilte das Präsidialamt in Kiew am Freitag mit. Auf den Bildern sei auch zu sehen, wohin die Wrackteile der zerbrochenen Boeing 777-200 gefallen seien. »Es kann also bewiesen werden, dass die Terroristen nach dem Absturz Trümmer entfernt haben«, hieß es. Es wird unterstellt, sie wollten Beweise vernichten. Unklar war, woher die Satellitenbilder stammen. Die Ukraine verfügt offiziell nicht über eigene Flugkörper zur Aufklärung.

** Aus: neues deutschland, Samstag, 26. Juli 2014


Vorwürfe gegen Kiewer Militär

»Human Rights Watch« verurteilt Einsatz von Raketenwerfern. USA kontern mit Kritik an Rußland

Von Reinhard Lauterbach ***


Die US-amerikanische Menschenrechtsorganisation »Human Rights Watch« hat der ukrainischen Armee Kriegsverbrechen im Donbass vorgeworfen. In einer am Donnerstag veröffentlichten Stellungnahme kritisiert die Gruppe den viermaligen Einsatz von Mehrfachraketenwerfern des Typs »Grad« gegen Wohnviertel in Donezk zwischen dem 12. und dem 21. Juli. Die Lage der Einschläge auf der der Frontlinie zugewandten Seite von Häuserzeilen lege nahe, daß die Kiewer Truppen die Raketen abgefeuert hätten, so »Human Rights Watch« weiter. Ihr Einsatz gegen zivile Ziele könne als Kriegsverbrechen gelten. Die Organisation forderte beide Seiten auf, in Wohngebieten auf den Einsatz solcher Systeme zu verzichten.

Am Freitag erhob auch Rußland neue Vorwürfe gegen die ukrainischen Streitkräfte. Generalmajor Wiktor Poznichir vom Generalstab erklärte in Moskau, die ukrainischen Truppen hätten mindestens sechsmal Phosphorgranaten gegen Städte im Donbass verschossen. Dies ergebe sich aus Aussagen von Flüchtlingen aus der Region. Sie hätten über Explosionen von Brandgranaten berichtet, wie sie bei Verwendung von Phosphor charakteristisch seien. Solche Geschosse sind seit 1979 geächtet.

Die amerikanische Regierung erhöhte derweil den Einsatz im Propagandakrieg gegen Rußland. US-Geheimdienste lieferten keine schlüssigen Beweise für dessen Verantwortung für den Abschuß des malaysischen Passagierflugzeugs am 17. Juli. Eine Sprecherin des US-Außenministeriums behauptete aber nun, Rußland beschieße von seinem Staatsgebiet aus Stellungen ukrainischer Truppen im Donbass mit Artillerie.

Die Rebellen berichteten über heftige Kämpfe in Debalzewo bei Donezk, mehrere Panzer der Gegenseite seien vernichtet worden. Außerdem gerieten offenbar in letzter Zeit zahlreiche Kiewer Soldaten in Gefangenschaft. Die Rebellen ließen sie offenbar versprechen, nicht zur Truppe zurückzukehren, und schicken sie nach Hause.

*** Aus: junge Welt, Samstag, 26. Juli 2014


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