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Kiew setzt in der Ostukraine auf Gewalt

Ukrainischer Vizepremier Jarema bestätigt »Konsultationen« mit Spezialisten aus den USA

Von Detlef D. Pries *

Der ukrainische Übergangspräsident Alexander Turtschinow hat die Wiederaufnahme der »Anti-Terror-Operation« im Osten des Landes befohlen. Keine Rede mehr von Gewaltverzicht.

Selbst die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton scheint Gefahr zu wittern: Die EU erkenne das Recht der Ukraine zur Verteidigung ihrer Souveränität und territorialen Unverehrtheit zwar an, ließ sie ihren Sprecher in Brüssel erklären. »Wir rufen die Behörden aber auch dazu auf, auf einen Gewalteinsatz zu verzichten, der die Lage weiter verschlimmern könnte.«

Der Militäreinsatz gegen »Bürgerwehren«, die in mehreren ostukrainischen Städten Verwaltungs- und Polizeigebäude besetzt halten und eine Föderalisierung der Ukraine fordern, war nach den Genfer Vereinbarungen über eine Deeskalation der Lage am vergangenen Donnerstag für die Zeit des Osterfestes ausgesetzt worden. Der Wiedereintritt in die »aktive Phase« wird sowohl von den Aufständischen in der Ostukraine als auch vom russischen Außenminister Sergej Lawrow als klare Verletzung der Genfer Erklärung gewertet. »Die Führung in Kiew hat nichts davon getan, was in Genf vereinbart wurde«, beklagte Lawrow am Mittwoch in einem Interview für den Fernsehsender RT. Der Kiewer Premier Arseni Jazenjuk täte besser daran, mit den Protestteilnehmern in der Südostukraine zu sprechen, statt in den nächsten Tagen zum Vatikan zu reisen. Als Zeichen dafür, dass die USA »die Show dirigieren«, wie Lawrow sagte, gilt in Moskau die Tatsache, dass der Beschluss über die Fortsetzung des Militäreinsatzes während des Kiew-Besuchs von US-Vizepräsident Joe Biden verkündet wurde. Der ukrainische Vizepremier Vitali Jarema ließ zudem laut »Ukrainskaja Prawda« wissen, dass am Montag »Konsultationen« mit US-amerikanischen Anti-Terror-Spezialisten stattfanden, die das Vorgehen des ukrainischen Geheimdienstes SBU gutgeheißen hätten.

In einem weiteren Telefonat mit Lawrow hatte US-Außenminister John Kerry seinerseits Russland den »Mangel an positiven Schritten zur Deeskalation« in der Ostukraine vorgeworfen. Moskau solle seine »eskalierende Rhetorik« mäßigen und die Gebäudebesetzer öffentlich zur Aufgabe aufrufen. Gleiches verlangte die ukrainische Übergangsregierung, die Russland offiziell der Unterstützung von Terroristen und Separatisten beschuldigte. Nach SBU-Angaben sollen russische Offiziere auch Mitschuld am Tode Wladimir Rybaks tragen. Die Leiche des Abgeordneten des Stadtrats von Gorlowka, Mitglied der Partei »Vaterland« von Julia Timoschenko, war in einem Fluss nahe der Aufstandshochburg Slawjansk gefunden worden.

Moskau bestreitet indes jede Beteiligung an Gewaltaktionen in der Ostukraine. Außenminister Lawrow warnte aber für den Fall der Gefährdung russischer Staatsbürger oder ihrer Interessen: »Wenn wir attackiert werden, werden wir natürlich antworten.« Russland betreibe auch »keine gefährliche militärische Tätigkeit« an der Grenze. Inspektoren aus den USA, der EU und der Ukraine hätten sich davon überzeugen können.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag 24. April 2014


Kopfgelder auf Separatisten der Ostukraine

Machthaber in Kiew können sich des Erfolgs ihrer »Anti-Terror-Operation« nicht sicher sein

Von Ulrich Heyden, Moskau **


Weil die Anti-Terror-Operation der ukrainischen Armee in der Ostukraine nicht recht vorankommt, setzt Oligarch Igor Kolomoiski jetzt Kopfgeld für die Auslieferung von Separatisten aus.

Seit gut einer Woche versucht die ukrainische Armee, im Osten des Landes strategische Punkte wie Flughäfen und Stadtzentren zu besetzen. Doch der Erfolg ist bescheiden. In der nördlich von Donezk gelegenen Stadt Kramatorsk wurde ein Militärflughafen besetzt. Aber als eine Kolonne von 15 Schützenpanzerwagen zur Verstärkung kam, wurde sie von Anwohnern in der Altstadt aufgehalten. Die hungrigen Soldaten wurden mit Piroggen und Eingelegtem versorgt. Schließlich stiegen 50 Militärs von ihren ihren Gefährten. Sechs Schützenpanzer übernahmen die Angehörigen der »Bürgerwehr«, ohne dass ein einziger Schuss fiel. Die erbeuteten Fahrzeuge wurden in das Hauptquartier der Aufständischen in der Stadt Slawjansk (ukrainisch Slowjansk) überführt.

Was in Kramatorsk passierte, ist kein Einzelfall. Im Süden und Osten der Ukraine ist die Kriegsgefahr mit Händen zu greifen und die Anwohner bleiben nicht untätig. Hunderte unbewaffneter Bürger in Städten des Gebietes Donezk wie Wolnowacha oder Artjomowsk haben schon Militärkolonnen gestoppt oder zur Umkehr gezwungen. Im Umland von Städten und Dörfern wie Rodinskoje und Krasnogorka wurden Panzer von Zivilisten mit Ladas, Motorrädern und sogar zu Fuß über Felder und Dorfstraßen verfolgt.

Eben weil die militärische Offensive gegen die Separatisten nicht vorankommt, setzt die Gebietsverwaltung von Dnjepropetrowsk ein Kopfgeld auf Separatisten aus. Ein Werbeclip machte bereits im Internet Furore. »Mein Papa hat zwei Separatisten abgeliefert und ich habe ich jetzt einen neuen Tablet-PC«, heißt es in dem Clip.

Die Summen sind üppig für die Einwohner des Donbass, die meist nicht mehr als umgerechnet 300 Euro im Monat verdienen. 10 000 Dollar Kopfgeld soll es für einen prorussischen Separatisten geben. 200 000 Dollar will die Gebietsverwaltung für die Befreiung eines besetzten Gebäudes zahlen. Ethisch gebe es keine Probleme, erklärte der stellvertretende Gouverneur Boris Filatow, ein ehemaliger Unternehmer und Journalist. »Das ist ein Krieg, und einen Krieg muss man mit allen möglichen Mitteln führen«, so der Vizegouverneur im russischen Dienst von BBC.

Dass die Kopfgelder vom Oligarchen Igor Kolomoiski bezahlt werden, ist ein offenes Geheimnis. Kolomoiski ist Besitzer der »Privatbank«. Anfang März wurde er von der neuen Macht in Kiew zum Gouverneur von Dnjepropetrowsk ernannt.

Wie der Leiter des Stabes für nationalen Schutz, Michail Lysenko, gegenüber Radio Swoboda mitteilte, wurden bereits je 10 000 Dollar für die Ergreifung von acht Separatisten ausgezahlt. Einige Bürger sollen aber auch versucht haben, auf leichte Weise Geld zu verdienen, indem sie einen russischen Bekannten ablieferten, der mit den Separatisten nichts zu tun hat, berichtet jedenfalls das Internetportal newsru.com.

Die Übergangsregierung in Kiew – von den prorussischen Kräften »Junta« genannt – steht vor enormen Schwierigkeiten. Sie kann keine militärischen Erfolge vorweisen. Nachdem die ukrainische Armee auf der Krim dem Selbsterhaltungstrieb gefolgt war und sich jeglichen Kämpfen entzogen hatte, zeigt sich in der Ostukraine, dass sie kampfunfähig ist. In ihrer Not versucht die Regierung nun wieder, Kontakte zur Polizei-Sondereinheit »Berkut« zu knüpfen, die Anfang März aufgelöst worden war und deren Angehörige pauschal als Mörder beschimpft wurden. Nun ruft das ukrainische Innenministerium die »Berkutowzy« auf, wieder in den Dienst zu treten, denn »Mutter Heimat« sei in Gefahr.

Doch die wenigsten Soldaten und Polizisten zeigen den Willen, gegen ihre Landsleute mit Waffen vorzugehen. Und die Aufständischen haben offenbar bedeutende Teile der Bevölkerung hinter sich, auch wenn der Wunsch nach einer Vereinigung mit Russland weniger verbreitet zu sein scheint als auf der Krim. Am 11. Mai – also zwei Wochen vor den geplanten ukrainischen Präsidentschaftswahlen – wollen sie Referenden abhalten und darüber abstimmen lassen, ob die östlichen Gebiete der Ukraine in ihrer jetzigen Form oder mit erweiterten Selbstbestimmungsrechten angehören sollen. Eine Vereinigung der ostukrainischen Regionen mit Russland steht beispielsweise in Lugansk bisher nicht zur Debatte.

Dass Übergangspräsident Alexander Turtschinow auf die Forderung nach einem Referendum kurz vor den Gesprächen in Genf einging, wurde von den Aufständischen als unglaubwürdig zurückgewiesen. Turtschinow hatte nicht erklärt, wer wann und worüber seiner Meinung nach abstimmen sollte.

Eine neue Herausforderung für Kiew ist ein Streik von Bergarbeitern in fünf Kohlegruben des Gebiets Lugansk. Die Gruben gehören zum Unternehmen »Krasnodonugol«, dessen Eigentümer der reichste Mann der Ukraine ist, der Oligarch Rinat Achmetow, der früher die Partei der Regionen sponserte. Vor dem Hauptsitz von »Krasnodonugol« versammelten sich am Mittwoch 2000 Bergarbeiter und forderten, dass ihr Lohn angesichts gestiegener Preise von 6000 auf 10 000 Griwna (660 Euro) erhöht wird.

** Aus: neues deutschland, Donnerstag 24. April 2014


Streik in der Ostukraine

Proteste im Donbass gewinnen soziale Dimension. Kiew setzt »Antiterroreinsatz« fort. Lawrow droht mit Intervention bei Angriff auf Russen

Von Reinhard Lauterbach ***


Die Proteste im ostukrainischen Donbass gewinnen eine so­ziale Dimension. Erstmals seit Beginn der Krise traten am Mittwoch rund 2000 Bergleute aus Krasnodon im Gebiet Luhansk in den Ausstand. Sie hißten auf dem Förderturm ihrer Zeche die Fahne der »Volksrepublik Donezk« und verlangten neben einer Lohnerhöhung um 25 Prozent auch ein Referendum über die Zukunft der Region. Das bestreikte Bergwerk gehört dem Oligarchen Rinat Achmetow.

Am Rande der seit Tagen von Aufständischen kontrollierten Stadt Slowjansk wurde in einem Fluß die Leiche eines Stadtratsabgeordneten der Timoschenko-Partei »Vaterland« gefunden. Kiew und die Aufständischen schieben sich gegenseitig die Verantwortung für den Tod des Politikers zu. Die Kiewer Machthaber behaupteten umgehend, daß für den Mord zwei russische Offiziere verantwortlich seien: der eine mit Namen Strelkow (Schütze), der andere mit Namen »Biesler« – ein jüdisch klingender Name. Beweise legten sie nicht vor.

Das taten auch die Aufständischen nicht, die die Ermordung des Lokalpolitikers als Provokation des »Rechten Sektors« bezeichneten. Am Mittwoch präsentierten sie in Slowjansk einen angeblichen Aktivisten der faschistischen Gruppierung, den sie gefangengenommen hätten. Er habe in Slowjansk Spionageaufgaben wahrgenommen. Neben Symbolen des »Rechten Sektors« seien bei dem Mann auch Notizen mit Adressen und Telefonnummern von Gesinnungsgenossen gefunden worden – was bei jemandem, der in geheimer Mission unterwegs gewesen sein soll, verwundern muß.

Weiter warfen sich die Kiewer Machthaber und die Aufständischen im Donbass gegenseitig vor, das Genfer Abkommen über die Räumung besetzter Gebäude und die Entwaffnung illegaler Milizen zu mißachten. Der Argumentation der Rebellen kam dabei zugute, daß die Besetzer des Kiewer Unabhängigkeitsplatzes (Maidan) Berichte dementierten, sie seien dabei, ihre Barrikaden abzubauen. Man beseitige nur den über Monate angehäuften Müll und werde die Barrikaden dann wieder aufbauen, so eine über Twitter verbreitete Erklärung.

Die Kiewer Machthaber teilten mit, ihre »Antiterroroperation« im Donbass sei am Mittwoch wieder aufgenommen worden. Vizeregierungschef Witalij Jarema dämpfte gleichzeitig Erwartungen seiner Anhängerschaft auf rasche Erfolge. Es gehe zunächst einmal darum, den Gegner ausfindig zu machen. Indirekt geht aus dieser Aussage hervor, daß die Aktion wohl auf gezielte Tötungen abzielt. Jarema räumte ein, am Rande des Besuchs von US-Vizepräsident Joseph Biden mit amerikanischen »Antiterror-Spezialisten« über den Einsatz beraten zu haben. Washington habe die Aktion gelobt, jedoch zu vorsichtigem Vorgehen geraten, um »Kollateralschäden« unter der Zivilbevölkerung zu vermeiden. Man fürchtet in Kiew offenbar sowohl Solidarisierungseffekte unter der Bevölkerung des Donbass als auch ein mögliches Eingreifen Rußlands, falls es Tote unter den Zivilisten geben sollte.

Moskau behält sich diese Option vor. Das wurde aus einem Interview von Außenminister Sergej Lawrow im englischsprachigen Fernsehsenders Russia Today deutlich. In dem bei gepflegter Kaminzimmeratmosphäre aufgenommenen Gespräch erklärte Lawrow, bei einem Angriff auf russische Staatsbürger würden die russischen Streitkräfte so reagieren wie 2008 in Südossetien – im Klartext: militärisch intervenieren und die Krisenregion besetzen.

*** Aus: junge Welt, Donnerstag 24. April 2014


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