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In Slawjansk läuteten morgens die Sturmglocken

Armee und Rechtsextremisten griffen an

Von Ulrich Heyden, Moskau *

Beim Angriff der ukrainischen Armee auf Slawjansk wurden Kontrollposten der Aufständischen eingenommen. Die Rebellen meldeten den Abschuss von drei Hubschraubern.

In der ostukrainischen Stadt Slawjansk heulten am Freitag um 3.40 Uhr die Alarmsirenen. Später läuteten auch die Kirchenglocken. Um 3.30 Uhr hatten Truppen des ukrainischen Innenministeriums und der Nationalgarde sowie die Luftwaffe mit einem Sturm auf die Hochburg der Regierungsgegner begonnen. Der Angriff wurde allerdings nach etwa drei Stunden wieder abgebrochen.

Am Stadtrand waren Schüsse aus automatischen Waffen zu hören. Um mehrere Kontrollposten der Aufständischen wurde gekämpft. Autoreifen brannten. Die Aufständischen meldeten, sie hätten vier Schützenpanzer des Innenministeriums in Brand gesetzt sowie drei Hubschrauber abgeschossen.

»Aktive Phase der Antiterroristischen Operation«

Ein notgelandeter ukrainischer Pilot, der eine Schussverletzung und einen Beckenbruch erlitten hatte, wurde von den Aufständischen gefangen genommen und in ein Krankenhaus gebracht, wo er operiert werden sollte.

Nach Berichten der Regierungsgegner setzte nach der Notlandung eines der Hubschrauber ein zweiter auf. Die ukrainischen Soldaten hätten ihrem schwer verletzten Kameraden jedoch nur die Pistole abgenommen und seien dann weitergeflogen, behaupteten die schwer bewaffneten Aufständischen.

Wie der ukrainische Innenminister Arsen Awakow Freitagmorgen über Facebook mitteilte, habe in den Gebieten Slawjansk und Kramatorsk »die aktive Phase der ATO« (Antiterroristischen Operation) begonnen. Neun Kontrollposten »der Terroristen« seien von den ukrainischen Einheiten eingenommen worden. Die Stadt Slawjansk mit ihren 117 000 Einwohnern sei jetzt komplett von Einheiten des ukrainischen Innenministeriums und der Nationalgarde umzingelt.

Die ATO laufe »nach Plan«, erklärte der Minister, der die Operation nach eigenen Angaben zusammen mit dem Verteidigungsminister und dem Leiter der Nationalgarde vor Ort leitet. Der Minister forderte die Bürger der Stadt auf, ihre Häuser nicht zu verlassen und sich »an den Fenstern vorsichtig zu verhalten«.

Nach Angaben des Innenministers hätten die Aufständischen Granatwerfer und tragbare Flugabwehrraketen eingesetzt. Ein Pilot sei getötet worden. Es gebe auch Verwundete. Von der gegnerischen Seite werde der Kampf von »professionellen Söldnern« geführt, die aus Mehrfamilienhäusern schießen, erklärte Awakow.

Einheiten der Nationalisten am Sturm beteiligt

Der ukrainische Übergangspräsident Alexander Turtschinow hatte die »Antiterroristische Operation« bereits Mitte April gestartet. Jedoch ohne Erfolg. Den Einheiten des ukrainischen Innenministeriums fehlte es an Kampfeswillen. In vielen Städten und Dörfern hatten sich Anwohner den ukrainischen Schützenpanzern in den Weg gestellt. So kehrte vor zwei Wochen eine Kolonne von Schützenpanzern im Ort Kramatorsk um, weil Tausende Anwohner die Straße blockierten. Sechs Panzer gelangten in den Besitz der Aufständischen, ohne dass ein Schuss fiel.

Nach Angaben eines Korrespondenten des russischen Fernsehkanals vesti.ru waren bei dem Sturm auf Slawjansk am Morgen die 25. Luftlandebrigade aus Dnjepropetrowsk, die 95. Mobile Brigade der Luftwaffe sowie Bataillone beteiligt, die aus Angehörigen nationalistischer Gruppen gebildet worden waren, unter anderem »Dnjepr-1«. Die Einheit steht unter dem Kommando von Dmitri Jarosch, dem Leiter des »Rechten Sektors«. Der rechte Dachverband hat seine Zentrale vor kurzem von der Hauptstadt Kiew in die ostukrainische Stadt Dnjepropetrowsk verlegt.

Wie der Oberkommandierende der aufständischen »Donezk-Armee«, Igor Strelkow, gegenüber dem russischen Fernsehkanal Vesti erklärte, waren bei dem Sturm auf ukrainischer Seite 20 Kampf- und Transporthubschrauber im Einsatz. Nach Angaben der Regierungsgegner wurden zwei Hubschrauber der ukrainischen Luftwaffe vom Typ Mi 24 sowie ein Hubschrauber vom Typ Mi 8 abgeschossen.

Putins Sonderbeauftragter Lukin vor Ort

Die Stadt Slawjansk sei komplett eingekesselt. Es gebe keine Verkehrsverbindungen mehr nach außen, hieß es. Auch der Eisenbahnverkehr wurde offenbar zeitweilig eingestellt. Der Sonderbeauftragte des russischen Präsidenten, Wladimir Lukin – er war bisher Beauftragter des russischen Präsidenten für Menschenrechte –, befand sich zu dieser Zeit in Slawjansk. Lukin war in die Stadt geschickt worden, um sich an den Verhandlungen um die Freilassung der gefangen genommenen westlichen Militärbeobachter zu beteiligen. Der Kontakt zu Lukin war Freitagmorgen abgebrochen, konnte aber gegen Mittag wieder hergestellt werden.

Auf dem zentralen Platz der Stadt Slawjansk war es am Mittag ruhig. Etwa 200 unbewaffnete Bürger – darunter viele Frauen mit Kindern – hatten sich auf dem Platz, von dem russische Fernsehkorrespondenten live berichteten, versammelt. Die Ruhe täuschte jedoch. Der russische Erste Fernsehkanal meldete – allerdings ohne Beweise vorweisen zu können –, dass Mitglieder des »Rechten Sektors« in Zivil in die Stadt eingedrungen seien.

* Aus: neues deutschland, Samstag 3. Mai 2014


Moskau setzt nicht auf Wiederholung des »Krim-Szenarios«

Russisches Außenamt klagt Kiew eines Verbrechens an, das in die Katastrophe führt / KP-Chef Sjuganow fordert Hilfe

Von Irina Wolkowa, Moskau **


Moskau warnte Kiew und den Westen vor »verbrecherischen Fehlern«, schließt aber einen Russland-Beitritt der Ostukraine derzeit aus.

KP-Chef Gennadi Sjuganow hat Kreml und Regierung aufgerufen, sich unverzüglich in die Entwicklungen im Osten der Ukraine einzumischen. Moskau müsse den Einwohnern von Slawjansk helfen, ihre Stadt zu verteidigen. Hier hat die Führung der »Donzeker Volksrepublik« ihr Hauptquartier und koordiniert von dort aus die Vorbereitungen für einen Volksentscheid, bei dem südukrainische Regionen am 11. Mai über ihre Zukunft entscheiden wollen: Verbleib in der Ukraine mit maximaler Autonomie oder Beitritt zu Russland.

Der Kreml reagierte bisher nicht auf diesen Appell von Sjuganow. Doch der Pressesprecher von Wladimir Putin versicherte, der Präsident erhalte laufend Informationen über die Entwicklungen in Slawjansk. Das Außenamt erklärte, der Einsatz gegen das eigene Volk sei ein »Verbrechen« und führe das Land in die »Katastrophe«. Der Westen solle seine »destruktive Politik« bezüglich der Ukraine beenden. Der Übergangsregierung in Kiew wurde ein »Vergeltungseinsatz unter Beteiligung der Terroristen« der Gruppierung »Rechtor Sektor« vorgeworfen.

Zwischen Kiew und den Separatisten soll der ehemalige Beauftragte für Menschenrechte des Präsidenten vermitteln: Wladimir Lukin, den der Kremlchef zum Sondergesandten für die Krisenregion ernannte. Er soll sich auch um die Freilassung der OSZE-Militärbeobachter bemühen, die seit einer Woche »Gäste« des Stadtchefs von Slawjansk, Wjatscheslaw, Ponomarjow, sind. Die Beobachter seien vor dem Sturm evakuiert worden und in Sicherheit, meldeten russische Medien.

Schon am Vortag hatte Moskau nachdrücklich vor eine Militäroperation in den Südostgebieten der Ukraine gewarnt. »Derartige verantwortungslose und aggressive Handlungen der heutigen ›ukrainischen Führung‹ könnten »zu katastrophalen Folgen führen«, hieß es in einer Erklärung. Strafmaßnahmen gegen das eigene Volk würden von der Unfähigkeit der Kiewer Führung zeugen, die von ihr in Genf übernommenen Verpflichtungen zu erfüllen. Kiew, die USA und die EU werden aufgerufen, »keine verbrecherischen Fehler zu begehen und die ganze Schwere der möglichen Folgen durch die Anwendung von Gewalt gegen das ukrainische Volk nüchtern einzuschätzen«, hieß es in dem Dokument.

Außenminister Sergej Lawrow hoffte, dass der Westen sich nicht in einen innerukrainischen Dialog einmischen werde. Dieser sei »prinzipiell notwendig« und sollte unter Schirmherrschaft der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) angebahnt werden. Sein Vize Sergej Rjabkow versicherte, Moskau sei »nicht geneigt«, es bis zu einer Wiederholung des so genannten Krim-Szenarios zu treiben«.

** Aus: neues deutschland, Samstag 3. Mai 2014


Krieg um Slowjansk

Ukrainische Nationalgarde greift von Widerstandsbewegung kontrollierte Stadt an. Aufständische schießen Hubschrauber ab

Von Reinhard Lauterbach ***


Am frühen Freitag morgen haben Einheiten der Kiewer Machthaber einen Großangriff auf die von Aufständischen kontrollierte Stadt Slowjansk im Osten der Ukraine gestartet. Bis zum Mittag hatten die Regierungstruppen nach eigenen Angaben etwa die Hälfte der Stadt und einige Objekte im Umland unter Kontrolle. Ein Vertreter der Aufständischen erklärte, man erwarte den entscheidenden Sturm für den Abend. Freiwillige aus anderen Teilen des Donbass seien unterwegs, um die Verteidiger von Slowjansk zu unterstützen. Diese Unterstützer müßten allerdings die Zugangswege in die Stadt freikämpfen, die von Kiewer Truppen blockiert sind, auch wenn eine Panzerkolonne von Dorfbewohnern mehrere Stunden lang mit dem vom Maidan bekannten Skandieren des Worts »Schande« aufgehalten werden konnte.

Über Slowjansk kreisten den ganzen Tag Hubschrauber der Kiewer Streitkräfte. Mindestens zwei von ihnen wurden am Morgen von den Aufständischen abgeschossen. Für die Kiewer Machthaber war das ein Beleg dafür, daß in Slowjansk keine aufständischen Bewohner am Werk seien, sondern »hochausgebildete Berufssoldaten mit Flugabwehrtechnik auf höchstem Niveau«. Ein Hubschrauberpilot, der in die Gefangenschaft der Aufständischen geriet, erklärte nach deren Angaben, er habe nie vorgehabt, auf die Bevölkerung zu schießen. Seine Aufgabe habe in der Aufklärung bestanden.

Aus einer Äußerung des Kiewer »Innenministers« Awakow geht hervor, daß die Angreifer am Boden nicht der regulären ukrainischen Armee angehören, sondern der aus Maidan-Aktivisten gebildeten Nationalgarde. Nach russischen Quellen wird die Operation vom Chef des ukrainischen Sicherheitsrates, Walentin Naliwajtschenko, persönlich geleitet. Der Mann ist mit den Faschisten gut vernetzt. Er gehört zwar formal der Klitschko-Partei UDAR an, hat jedoch nach Angaben auch Maidan-naher Medien als deren Abgeordneter den Chef des »Rechten Sektors«, Dmitri Jarosch, ein Jahr lang als Assistenten beschäftigt. Jarosch selbst rühmte sich kürzlich einer jahrelangen engen Freundschaft mit dem Geheimdienstchef. Naliwajtschenkos Vorgänger Aleksander Jakimenko hat im April erklärt, der neue Mann sei in seiner Dienstzeit als Diplomat in den USA vor zwölf Jahren von der CIA angeworben worden. Das habe seine Dienststelle 2013 gemeinsam mit der Staatsanwaltschaft ermittelt.

In anderen Teilen des Donbass übernahmen Aufständische weitere öffentliche Gebäude und Einrichtungen. Unter anderem besetzten sie die Zentrale der Donezker Eisenbahn und stellten den Zügen in der ganzen Ostukraine den Strom ab. Da auch Signale und Weichen dadurch nicht funktionieren, ist der Schienenverkehr zumindest stark erschwert.

Rußland rief die OSZE auf, den Angriffen der Kiewer Truppen auf die Zivilbevölkerung ein Ende zu setzen. Die Machthaber hätten die Genfer Vereinbarung so gut wie begraben, erklärte Kreml-Sprecher Peschkow. Die Verbündeten der Putschisten übten sich derweil weiter in Einseitigkeit. Die außenpolitische Sprecherin der EU-Kommission, Maja Kojancic, forderte angesichts des ukrainischen Sturms die Aufständischen auf, ihre illegale Tätigkeit zu beenden.

*** Aus: junge Welt, Samstag 3. Mai 2014


Die schwarze Seite des Maidan

Klaus Joachim Herrmann über die Eskalation der Krise in der Ukraine ****

Alles scheint möglich in der Ukraine und alles ist jetzt zu befürchten. So wenig die neue Führung in Kiew friedlich an die Macht kam, so wenig ist sie bis heute bereit zu Gesprächen mit den immer noch eigenen Bürgern im Osten über Lösungen für das ganze Land. Was als buntes zivilgesellschaftliches Aufbegehren für ein besseres Leben begann, ist längst unter die Stiefel der gewalttätigen schwarzen Seite des Maidan geraten. Die hatte vielfach selbst genau das geboten, was jetzt beklagt wird: Massenkundgebungen und Aufruhr, bewaffnete »Selbstverteidigungskräfte«, Barrikaden auf den Straßen, gestürmte Behörden, das Verjagen von Verantwortlichen und die Einsetzung der eigenen Gefolgsleute in deren Ämter.

Der Einsatz von Luftwaffe und Bodentruppen gegen eigene Städte liegt in dieser Logik: Stets wurde die größte anzunehmende Verschärfung gewählt. Schon das Vokabular reichte zuletzt bis Anti-Terror-Aktion und dritter Weltkrieg. Wenn man es aber mit Terroristen zu tun hätte, bedürfte es des Einsatzes von Spezialkräften. Alle Welt weiß, dass Truppen dafür nicht taugen. Gegen wen also geht es – prorussische Milizen, eine unbotmäßige russischsprachige Bevölkerung, Föderalisierung, den Verlust von Macht? Oder soll ein russisches und dann wer weiß noch wessen Eingreifen sonst erzwungen werden? Alles scheint möglich – nur kein Sieg.

**** Aus: neues deutschland, Samstag 3. Mai 2014 (Kommentar)


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