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Angst vor der nächsten Granate

Um das ostukrainische Slawjansk toben vor der Präsidentenwahl heftige Kämpfe

Von Ulrich Heyden, Donezk *

Slawjansk (ukrainisch Slowjansk) ist derzeit die am meisten umkämpfte Stadt in der Ostukraine. Stimmungen und Ängste der Bewohner erfragte unser Korrespondent in einem Chat per Internet.

Zu gefährlich sei es derzeit, nach Slawjansk zu fahren, sagt man mir in Donezk. Um die Stadt, etwa 90 Kilometer nördlich des Gebietszentrums gelegen, toben vor den Präsidentschaftswahlen heftige Kämpfe zwischen Truppen der ukrainischen Übergangsregierung und Verfechtern der »Donezker Volksrepublik«. Iwan Selenski lebt seit seiner Geburt 1982 in Slawjansk und bestätigt: »Hierher zu kommen ist wirklich gefährlich.« Er arbeitet als freischaffender Programmierer und erklärt sich bereit, in einem Chat Auskunft zu geben.

Was die Bewohner der Stadt zurzeit am meisten ängstige, frage ich Selenski. »Der Artilleriebeschuss in den Nächten steht an erster Stelle, Probleme mit dem Nahverkehr an zweiter. An dritter Stelle stehen die Probleme der Versorgung mit bestimmten Waren. Es gibt genug zu essen, aber die Apotheken sind leer.« Die Schulen seien zwar geöffnet, doch viele Schüler blieben aus Angst zu Hause. »Und jeden Abend fürchten die Leute, dass eine Artilleriegranate in ihr Haus fliegt.«

Zum Zeitpunkt unseres Chats am Donnerstag weiß Iwan von drei Häusern, die beschädigt wurden. »Zwei kleinere wurden von einem Geschoss zerstört.« In der Nacht zuvor sei die Stadt mit »Balvanki« (Artilleriegranaten ohne Sprengstoff) beschossen worden. »Getroffen wurde eine Wohnung in einem viergeschossigen Haus.«

Er selbst, berichtet Selenski, wohne im achten Stockwerk eines Hauses abseits des Kampfgeschehens. »Deshalb fliegen die Geschosse nicht in unsere Richtung. Bei uns spielen die Kinder noch im Hof.« Schießereien gebe es vor allem an den Kontrollposten der Aufständischen, zuletzt auch in der Stadt. »Gerade in diesem Moment donnert es.« Dennoch arbeitet Iwan an seinen Programmen. Das beruhige ihn, schreibt er, da müsse er sich nicht über ukrainische Medien erregen oder die ukrainischen »Patrioten« bei Facebook.

Selenski ist Mitglied der Linksorganisation »Borotba« (Kampf) und gesteht, dass er sich als Kommunist über beide Seiten des Konflikts ärgere. Die »Separatisten« seien ihm nur insofern näher, als sie bisher die kommunistische Idee noch nicht verboten haben.

Wie kommen die Bewohner der Stadt zu Geld, will ich wissen. »Die Geldautomaten arbeiten schlecht, aber viele Löhne werden bar ausgezahlt. Mit den Renten ist es merkwürdig. Auf der einen Seite wird erzählt, alles sei in Ordnung, auf der anderen Seite heißt es, die Regierung in Kiew habe verboten, in Slawjansk und Kramatorsk Renten auszuzahlen. Außerdem bekommt man das Rentengeld nur auf Kreditkarte. Aber in den Automaten reicht das Geld nicht. Und die Supermärkte nehmen nicht immer Kreditkarten an.«

Was er vom Slawjansker »Volksbürgermeister« Wjatscheslaw Ponomarjow hält? »Ich habe ihn nicht gewählt. Ponomarjow hat sich selbst ernannt. Er ist ein Usurpator. Als Bürgermeister will ich jemanden, der demokratisch gewählt wurde. Nelja Schtepa, die frühere Bürgermeisterin, war nicht die schlechteste«, antwortet Selenski. Er selbst hätte auch keine Kämpfer in die Stadt gerufen. »Man muss gegen die Junta mit politischen Methoden und Streiks kämpfen. Aber die Separatisten haben sich für das Abenteuer entschieden. Sie haben damit gerechnet, dass Russland sich einmischt und uns annektiert. Inzwischen sagen sie offen, dass Putin nicht kommen wird, aber die Leute wollen das nicht hören.«

Die Mehrheit in der Stadt sei für Russland, »viele warten noch darauf, dass Putin kommt«. Eine Minderheit sei für die Ukraine. Entsprechend sehe die Mehrheit die Schuld für den Konflikt bei den Kiewer Machthabern, die Minderheit bei den sogenannten Terroristen. »Ich meine, dass die ukrainische Macht schuld ist. Statt Ordnung zu schaffen, schafft die Junta in Kiew Spannungen und hat diesen Krieg angefangen.« Denn das ist für Iwan Selenski klar. »Das ist keine russische Aggression, wie westliche und ukrainische Medien behaupten. Das ist ein Bürgerkrieg.« Und Europas Linke müssten ihre Regierungen dazu bewegen, dass sie Kiew zu einer friedlichen Lösung zwingen, damit das Land nicht in eine faschistische Diktatur abrutscht.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 24. Mai 2014


Kiew droht mit »Terror«

Ukraine: Vor den Präsidentschaftswahlen eskalieren die Kämpfe im Donbass. Kommandeur der Regierungstruppen stellt »Vergeltung« in Aussicht

Von Reinhard Lauterbach **


Zwei Tage vor der geplanten Präsidentenwahl in der Ukraine haben sich die Kämpfe im Donbass nochmals gesteigert. Beide Seiten berichten über hohe Verluste der jeweiligen Gegenpartei und geringen auf eigener Seite. Summiert wären danach mehrere dutzend Kämpfer beider Seiten umgekommen oder verletzt worden. Besonders heftig waren Kämpfe in der Ortschaft Karlowka am westlichen Stadtrand von Donezk. Dort geriet am Freitag morgen das aus Maidan-Kämpfern rekrutierte Bataillon »Donbass« der Kiewer Truppen in einen Hinterhalt der Aufständischen und wurde zeitweise eingekesselt. Der Anführer der Truppe, Semjon Semjontschenko, berichtete über Twitter davon, daß 50 Prozent seiner Leute schwer verletzt seien. Man könne wegen Scharfschützenfeuers der Gegenseite keine Verwundeten bergen. Der Kommandeur drohte mit »Terror gegen die ganze Stadt«, wenn die Aufständischen einem der Gefangenen der Regierungstruppen ein Haar krümmten.

Die Angriffe der Regierungstruppen gegen das Donbass liegen offenbar hauptsächlich in den Händen von fanatischen Freiwilligenverbänden der sogenannten Maidan-Selbstverteidigung und des »Rechten Sektors«. So beschwerte sich Semjontschenko öffentlich darüber, daß die dem Kampfort benachbarte Armee-Einheit über Stunden keine Verstärkung geschickt habe. Die Gegenseite berichtet, daß eine wachsende Zahl von Wehrpflichtigen der ukrainischen Armee desertiere und zu den Aufständischen übergehe, weil die Soldaten sähen, daß sie gegen das Volk vorgingen und nicht gegen »Banditen und Terroristen«. Ein Sprecher der »Volkswehr« im Bezirk Lugansk sagte der staatlichen russischen Nachrichtenagentur RIA Nowosti, Kiewer Truppen hätten 30 solcher »Verräter«, derer sie habhaft wurden, erschossen. Eine Bestätigung dieser Meldung von anderer Seite fehlt bisher.

Den Aufständischen scheint unterdessen allmählich das Geld auszugehen. Der selbsternannte Regierungschef der »Volksrepublik Donezk«, Denis Puschilin, sagte gegenüber RIA Nowosti, es könne zu Verzögerungen bei der Auszahlung der Renten und sonstiger Sozialleistungen kommen. Er warf dem Großunternehmer Rinat Achmetow vor, dafür verantwortlich zu sein, weil er der Volksrepublik keine Steuern zahle. Vermutlich im Zusammenhang mit dieser Geldnot konfiszierten die Aufständischen am Donnerstag etwa ein Dutzend Geldtransportfahrzeuge der »Privatbank«, die dem Kiew unterstützenden Oligarchen Igor Kolomojskij gehört.

Aus Moskau kamen derweil deeskalierende Töne. Der Vorsitzende der Staatsduma, Sergej Naryschkin, schloß erstmals eine Anerkennung der Wahl in der Ukraine durch Rußland nicht mehr aus. Präsident Wladimir Putin erklärte, Rußland werde das Ergebnis respektieren. Auf der Wirtschaftskonferenz in Sankt Petersburg forderte Putin den Westen auf, von dem »primitiven Nullsummenspiel« des Denkens in Einflußsphären abzukommen. Rußlands eigene Politik beruht freilich auch auf diesem Denken. Auch Bundeskanzlerin Merkel schien verbal Kompromißlinien zu ziehen: sie rief in der Saarbrücker Zeitung Rußland auf, die Einschätzung der OSZE, der es selbst angehört, zu den ukrainischen Wahlen zu akzeptieren und ebenso das Recht der Ukraine, sich der EU anzunähern. Die NATO erwähnte Merkel nicht. Auch russische Vertreter hatten vor einigen Tagen einen NATO-Beitritt Kiews kategorisch abgelehnt; ihre Beurteilung einer EU-Mitgliedschaft war dagegen differenzierter ausgefallen.

** Aus: junge Welt, Samstag, 24. Mai 2014


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