Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Morde an Regimegegnern

Mindestens drei ukrainische Journalisten getötet. Vorwurf: "prorussisch". Regierung ruft zu Denunziationen auf

Von Reinhard Lauterbach *

Die Serie der Morde an Gegnern der ukrainischen Machthaber geht weiter. Allein in dieser Woche wurden in Kiew ein ehemaliger Abgeordneter und zwei Journalisten erschossen. Zu den beiden Attentaten bekannte sich die Faschistengruppe »Ukrainische Aufständische Armee« (UPA), wie dpa am Freitag meldete. Die Organisation habe damit gedroht, weitere »antiukrainische« Personen zu töten, sollten diese bis Montag abend nicht das Land verlassen haben. Eine weitere Journalistin wurde in einer Provinzstadt tot aufgefunden.

Der prominente Autor und Blogger Oles Busina war am Donnerstag nachmittag in Kiew im Hof seines Wohnhauses mit vier Schüssen niedergestreckt worden. Als Täter werden zwei Männer gesucht, die aus einem Auto mit italienischen Kennzeichen auf den 45jährigen geschossen hatten. Ihr Fahrzeug wurde von der Polizei kurz nach der Tat in der Nähe abgestellt gefunden; die Spurensicherung lieferte bisher keine verlässlichen Hinweise. Die Staatsanwaltschaft machte wenig Hoffnung auf rasche Aufklärung: das Opfer sei mit einer Tokarew-Pistole erschossen worden; solche Waffen seien im Zusammenhang mit dem Bürgerkrieg zu Tausenden aus Armeedepots in Umlauf gebracht worden. Viele davon seien nie registriert worden. Anwohner berichteten gegenüber Medien, dass das Auto ihnen schon Tage vor dem Mord aufgefallen sei, weil es niemandem aus der Nachbarschaft gehört und Parkplätze blockiert habe. Es sei mit einer kleinen Videokamera an der Frontscheibe ausgerüstet gewesen.

Der zweite ukrainische Journalist, der in dieser Woche eines gewaltsamen Todes starb, war Sergej Suchobok. Er stammte aus Donezk und hatte dort ein Nachrichtenportal aufgebaut. Ebenso wie Busina war er den Anhängern des Maidan für seine »prorussischen« Ansichten verhasst. In der Stadt Neteschin im Gebiet Chmelnizkij westlich von Kiew wurde eine Lokalreporterin tot in ihrer Wohnung gefunden. Sie wurde nach Angaben der Polizei schon im März umgebracht, möglicherweise im Zusammenhang mit Recherchen zu illegalen Abholzungen. Ob ihr Tod mit der Kiewer Mordserie in Zusammenhang steht, ist unbekannt.

Zu Busina und dem am Mittwoch direkt vor seiner Wohnungstür erschossenen Exparlamentsabgeordneten Oleg Kalaschnikow waren jeweils zwei Tage vor dem Mord »Steckbriefe« auf der mit Unterstützung der ukrainischen Regierung betriebenen Denunziationsseite »Myrotvorets« (Friedensstifter) gepostet worden. Die Homepage kann als offiziös gelten; als »Partner« nennt sie unter anderem den Sicherheitsdienst, den Generalstab und das Innenministerium. In der Rubrik »Fegefeuer« bringt sie Fotos und volle Anschriften von angeblichen »Separatisten« und »Terroristen« sowie deren Unterstützern. Ein »Agent 404« wurde vom Administrator für die »prompte Ausführung der Aufgabe« in beiden Fällen belobigt.

Während der Mord an Busina selbst vom US-Außenministerium »verurteilt« wurde, konnten sich weder das ukrainische Innenministerium noch Präsident Petro Poroschenko bisher ein Wort des Beileids für die Familien der Ermordeten abringen. Anton Geraschtschenko, als »Berater« des Innenministeriums für Pressearbeit und – anscheinend – Desinformation zuständig, verkündete auf Facebook, offenbar würden die Mitwisser staatsfeindlicher Aktionen gegen die Ukraine jetzt liquidiert. Wer noch etwas zu verbergen habe, solle sich den Behörden stellen, um dem Schicksal Kalaschnikows und Businas zu entgehen. Poroschenko ließ auf seiner Webseite erklären, die Morde seien von Russland inspiriert, um von der Tötung des russischen liberalen Politikers Boris Nemzow abzulenken und die Ukraine zu diskreditieren.

* Aus: junge Welt, Samstag, 18. April 2015


Eskalation des Terrors

Morde in der Ukraine

Von Reinhard Lauterbach **


Mit den bis Redaktionsschluss bekannten drei Morden an Gegnern der Kiewer Machthaber allein in dieser Woche hat die Repression in der nach »Europa« strebenden Ukraine einen neuen Höhepunkt erreicht. Die Taten werfen ein Licht auf die Methoden, mit denen die »Einheit der ukrainischen Nation« hergestellt werden soll: Morde und als Vorstufe dazu Denunziationsportale mit offiziellem Segen im Internet. Der Kommentar, den der Kiewer »Politikberater« Anton Geraschtschenko zum Mord an Oles Busina abgab, spricht mit seinem Zynismus Bände: Wer von den Maidan-Gegnern des letzten Jahres noch lebe und um sein Leben fürchte, solle sich schleunigst den Behörden offenbaren, um dem Schicksal der Ermordeten zu entgehen. Knast oder Tod, das ist die Alternative, die Kiew seinen Oppositionellen bietet. Nach Informationen Kiewer Medien soll der Geheimdienst Faschisten, die er wegen krimineller Delikte »am Haken« hat, als Gegenleistung für Straffreiheit zu »nassen Arbeiten« einsetzen.

Man stellt sich die Frage, was Kiew mit dieser Eskalation des Terrors bezweckt. Die »mildere« Erklärung ist, dass man den innenpolitischen Gegnern in verschärfter Form die alte Parole aus den 80er Jahren auftischen will: »Koffer-Bahnhof-Russland«, also: Haut ab, solange ihr noch könnt. Die andere Hypothese – sie steht nicht im Widerspruch zur ersten – wäre, dass man eine »humanitäre Intervention« Russlands in der Ukraine provozieren will. Dann hätte man endlich den internationalen Konflikt, in dem der Westen Kiew bedingungslos unterstützen müsste. Ein bodenloses politisches Hasardspiel.

Was Kiew an Erklärungen für die Morde bereithält, ist wenig stichhaltig. Mal heißt es, Expräsident Janukowitsch beseitige die Mitwisser seiner eigenen Untaten. Nach mehr als einem Jahr, in dem sie hätten auspacken können und es nicht getan haben? Ebenfalls beliebt: Der russische Geheimdienst FSB habe die Morde in Auftrag gegeben, um »die Ukraine zu diskreditieren«. Diese These räumt immerhin ein, dass eine Mordserie dieses Ausmaßes kein gutes Licht auf die Ukraine wirft. Aber welches Interesse sollte Russland haben, ausgerechnet seine Anhänger im von Kiew kontrollierten Teil des Landes durch Morde aus dem Weg zu räumen? Selbst wenn man die hypothetische Parallele zu den Todesfällen des ehemaligen russischen Agenten Alexander Litwinenko 2006 in London und des Tschetschenenführers Selimchan Jandarbijew 2004 in Katar, die die Anhänger der »russischen Spur« mit Sicherheit als »Präzedenzfälle« ausgraben werden, für einen Augenblick zulässt: diese dem FSB angelasteten, aber nicht nachgewiesenen Morde waren von der Situation her anders gelagert. Litwinenko war ein Überläufer, Jandarbijew ein Terrorist, und keiner von ihnen war ein Sympathisant Russlands. Es ist keine Rechtfertigung politischer Morde, auf diese Differenz hinzuweisen.

** Aus: junge Welt, Samstag, 18. April 2015 (Kommentar)


Zurück zur Ukraine-Seite

Zur Ukraine-Seite (Beiträge vor 2014)

Zurück zur Homepage