Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

US-"Anzahlung für Demokratie" in der Ukraine

Russland will Sanktionen als Vertragsbruch ahnden / OSZE setzt auf Genfer Vereinbarung

Von Klaus Joachim Herrmann *

Die Großmächte USA und Russland setzten in der Krise um die Ukraine am Dienstag vorzugsweise auf Signale.

US-Vizepräsident Joe Biden fand in Kiew starke Worte. Angesichts »erniedrigender Drohungen« stehe Washington an der Seite der Ukraine, versicherte er. Das Weiße Haus meldete 50 Millionen Dollar (36,2 Millionen Euro) als »Anzahlung« in die demokratische Entwicklung des Landes an. Zeitgleich lief ein Minenräumverband der NATO von Kiel in Richtung Baltikum aus.

Zuvor hatte das Außenministerium in Washington Fotos als angebliche Beweise dafür präsentiert, dass einige bewaffnete Kämpfer in der Ostukraine russische Militärs oder Offiziere des russischen Geheimdienstes seien. Moskau dementierte einen solchen Einsatz energisch. In einem Telefonat am Montagabend hatte US-Außenminister John Kerry von seinem russischen Amtskollegen Sergej Lawrow »konkrete Schritte« für eine Entspannung in der Ostukraine verlangt. Lawrow konterte, die USA sollten vielmehr die »Hitzköpfe« in Kiew davon abhalten, einen »blutigen Konflikt zu provozieren«.

Gelassenheit suchte angesichts von Sanktionen in Moskau Regierungschef Dmitri Medwedjew zu verbreiten. Nicht nur an die Zahlungssysteme Visa und MasterCard, die die Bedienung einzelner russischer Banken verweigerten, ging seine Drohung: »Das ist ohne jeden Zweifel ein Vertragsbruch, der nicht ungestraft bleiben darf.«

Politischer Wille zur Umsetzung der Genfer Vereinbarung sei der Schlüssel zur Überwindung der Krise, betonte der Vorsitzende der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE), Didier Burkhalter. Er erinnerte an die Forderungen, auf Gewalt zu verzichten, Waffen niederzulegen und besetzte Gebäude und Orte freizugeben.

Der ukrainische Übergangspräsident Alexander Turtschinow beklagte, dass »die Russische Föderation und ihre terroristischen Sondereinheiten« eine Erfüllung der Genfer Vereinbarung »demonstrativ« verweigerten. Sie hätten in Kramatorsk ein weiteres Gebäude besetzt und den Milizchef als Geisel genommen, zitierte ihn die Agentur UNIAN. Auch Lugansk will nun gemeinsam mit weiteren ostukrainischen Gebieten am 11. Mai in einer Volksbefragung seinen Status bestimmen. Das kündigte der Koordinator der örtlichen Volksvertretungen an. Gefragt wird aber nicht nach einem Anschluss an Russland. Es gehe um erweiterte Vollmachten im Staatsverband der Ukraine, hieß es.

Der Russlandbeauftragte der Bundesregierung, Gernot Erler (SPD), kritisierte Russland und die Ukraine im rbb-Inforadio, nicht genug für die Umsetzung der Genfer Vereinbarung zu tun. Die Entwaffnung und der Verzicht auf Gewalt gälten für alle Beteiligten.

Die Spitzenkandidatin der LINKEN bei den Europawahlen, Gabriele Zimmer, sagte der »Lausitzer Rundschau«: »Wir haben noch nie vorbehaltlos zur russischen Regierung gestanden. Wir sind keine Putin-Freunde«. Sie fügte hinzu: »Wir sind aber auch keine Freunde der jetzigen ukrainischen Regierung.«

* Aus: neues deutschland, Mittwoch 23. April 2014


Biden erzählt Geschichten

US-Vizepräsident sagt Kiew Finanz- und Militärhilfe zu und legt »Fotobeweise« für russische Einmischung vor. Aufständische im Donbass bauen Positionen aus

Von Reinhard Lauterbach **


Der Vizepräsident der USA, Joe Biden, hat bei seinem Besuch in Kiew die territoriale Integrität der Ukraine beschworen. Das Land bleibe eines, von Lwiw bis Charkiw und vom Norden bis ans Schwarze Meer. Kein Land habe das Recht, das Territorium eines anderen »einfach so« zu besetzen, erklärte der Vertreter der Vereinigten Staaten, die nicht weniger als ihre Existenz der Besetzung fremden Territoriums verdanken. Biden forderte die ukrainischen Machthaber auf, das »Krebsgeschwür der Korruption« zu bekämpfen, und kündigte die Lieferung »nicht tödlicher« Militärgüter wie Funkgeräte und Fahrzeuge an die ukrainische Armee an.

Schon am Ostermontag hatte das US-Außenministerium Fotos veröffentlicht, die angeblich beweisen, daß Aufständische in der Ostukraine in Wahrheit russischen Spezialkräften angehörten und bereits 2008 in Georgien oder im März auf der Krim gekämpft hätten. Die meisten dieser Bilder zeigen aus unterschiedlichen Blickwinkeln fotografierte Männer mit Gesichtsmasken, so daß eine Zuordnung für Nichtkriminalisten eine Glaubensfrage ist. Ein Mann aus der Galerie, der nicht maskiert war, trug einen für Angehörige von Spezialeinheiten untypischen üppigen Rauschebart.

In der Ostukraine bauten die Aufständischen unterdessen ihre Positionen aus. In Kramatorsk übernahmen Bewaffnete das Gebäude der örtlichen Polizei, nachdem das Rathaus schon seit einigen Tagen besetzt ist. In Luhansk wurde am Montag abend eine Volksrepublik ausgerufen, und auch aus Odessa wurde über die Proklamation einer »Volksrepublik Neurußland« berichtet. Als deren Chef trat im russischen Fernsehsender Life News der Vorsitzende eines »Bundes Orthodoxer Bürger« auf. Die Stadt war in den vergangenen Monaten wiederholt Schauplatz von etwa gleichstarken Demonstrationen für und gegen den Kiewer Maidan.

Generell ist ein Beitritt zur Russischen Föderation, den die Kiewer Machthaber den »Separatisten« im Osten des Landes als Ziel unterstellen, nach Umfragen nur der Wunsch einer Minderheit, die zwischen etwa 15 Prozent in Odessa und bis zu 30 Prozent in Donezk stark ist. Weit größere Anteile der Bevölkerung treten allerdings für eine Föderalisierung des Landes ein. Die jedoch stellt aus Sicht des Regimes den ersten Schritt zum Zerfall der Ukraine dar.

In Slowjansk wurden am Dienstag die bei der Schießerei in der Osternacht Getöteten beigesetzt. Pressefotos zeigten mindestens drei offene Särge, die von Männern in teils ärmlicher Zivilkleidung, teils offenbar frisch geschneiderten blauen Uniformen getragen wurden. Die fanatisch antirussisch eingestellte Gazeta Wyborcza aus Warschau hatte den Angriff auf ihrer Titelseite am Dienstag noch als »vorgetäuscht« abgetan. Die Behörden der Krim verhängten unterdessen ein fünfjähriges Einreiseverbot für den krimtatarischen Politiker Mustafa Dschemiljew. Er ist bekannt für seine antirussische Haltung. Als der Parlamentsabgeordnete am Samstag aus Kiew zurückkehrte, wurde ihm die Einreise verweigert. Am Freitag hatte Präsident Wladimir Putin in Moskau einen Erlaß zur Rehabilitierung des krimtatarischen Volkes unterzeichnet. Rußland erkennt damit die Zwangsaussiedlung der Tataren 1944 als Unrecht an. Der Kampf um die Köpfe und Herzen der Minderheit hat begonnen.

** Aus: junge welt, Mittwoch 23. April 2014


Westintegration in Schokolade

Warum Petro Poroschenko der aussichtsreichste Präsidentschaftskandidat in der Ukraine ist

Von Reinhard Lauterbach ***


Als »Konterrevolution auf Filzlatschen« sollen DDR-Politiker einst die sozialliberale Entspannungspolitik der BRD gegenüber den sozialistischen Staaten Osteuropas bezeichnet haben. »Westintegration in Schokolade« könnte man in Anspielung darauf das Programm des einstweilen unaufhaltsam aufsteigenden ukrainischen Großunternehmers Petro Poroschenko nennen. Seit dem Beginn des Präsidentschaftswahlkampfes führt er die Umfragen an; zuletzt wurden ihm schon für die erste Runde über 40 Prozent vorausgesagt. Selbst wenn das Augenblicks- oder bestellte Werte sein sollten, ist sein Abstand gegenüber den nächstfolgenden Kandidaten Julia Timoschenko und Sergej Tigipko uneinholbar und wird in der Tendenz in allen Umfragen bestätigt.

Poroschenko hat schon in allen politischen Mannschaften der unabhängigen Ukraine gespielt. Er war einer der Hauptfinanziers der orangen Revolution 2004/2005 und anschließend wirtschaftspolitischer Berater von Präsident Wiktor Juschtschenko. Unter Julia Timoschenko war er von 2009 bis 2011 Außenminister, anschließend arbeitete er als Wirtschaftsminister unter Präsident Wiktor Janukowitsch. Als der sogenannte Euromaidan einsetzte, war er der erste Oligarch, der sich öffentlich zu der Bewegung bekannte. Was man ihm als Opportunismus ankreiden könnte: daß er sich nie für eine Seite entschieden, sondern versucht hat, mit allen herrschenden Cliquen gut auszukommen und unter jeder Regierung seine Geschäfte zu fördern, ist relativ nah an der Erfahrungswelt gewöhnlicher Ukrainer, denen es in ihrem Alltagsleben nicht anders geht: sich mit denen arrangieren zu müssen, die gerade »oben« sind.

Dabei spielt Poroschenko finan­ziell durchaus in der Oberliga seines Landes. Sein Vermögen wird auf 1,2 Milliarden Euro geschätzt; den größten Teil macht der Süßwarenkonzern »Roshen« aus. Dessen »Kiewer Torte«, eine Zucker- und Kalorienbombe aus Baiser und Buttercreme, erfreut sich im ganzen postsowjetischen Raum großer Beliebtheit. Sogar am Buffet der Moskauer Staatsduma kann man sie angeblich kaufen, allen Embargos zum Trotz. Poroschenkos Weg zu Reichtum begann ähnlich wie der anderer Oligarchen in der Perestroika-Zeit. Damals vermittelte der Student der Internationalen Beziehungen an der Kiewer Universität durch die guten Kontakte, die er als Komsomolfunktionär hatte, Import- und Exportlizenzen. Später handelte er mit Autos, kaufte eine Werft und baute den landesweiten Fernsehsender »Kanal 5« auf. An sein Süßwarenimperium kam er Schritt für Schritt durch die Ausnutzung der Couponprivatisierung in den 1990er Jahren. Damals hatten die Beschäftigten Anrechtsscheine auf Aktien der Staatsbetriebe zugeteilt bekommen, in denen sie arbeiteten. Das sollte der Privatisierung einen sozialen Anschein geben. Anders als die große Masse der »Werktätigen« hatte Poroschenko allerdings eine Ahnung davon, was Wertpapiere sind, und als die Arbeiter ihre Aktien massenweise zu Spottpreisen verkauften, weil die Löhne ausblieben, griff er zu. Weil sich unter den Produkten von »Roshen« jeder etwas vorstellen kann, gilt er überdies als »ehrlicher Kapitalist«. Auch wenn er in seiner Ministerzeit etwa die Zollsätze für Autos so manipuliert hat, daß seine Geschäfte davon profitierten, nehmen die Leute ihm ab, daß er gegen die Korruption sei.

Kennzeichnend für den Politiker Poroschenko ist sein behutsames Vorgehen. Als Ende März die Maidan-Führer den baldigen Beitritt der Ukraine zur NATO beschworen, wies er ganz sachlich darauf hin, daß dieses Ziel unrealistisch sei, solange nicht die Zustimmung dazu die 50 Prozent überstiegen habe. Angeblich ist sie seit der Loslösung der Krim in der Bevölkerung der Restukraine schon von 20 auf knapp 40 Prozent gestiegen – alles eine Zeitfrage. Einen EU-Beitritt der Ukraine faßt Poroschenko für das Jahr 2025 ins Auge. Das ist angesichts des derzeitigen Unwillens der EU, neue Mitglieder aufzunehmen, immer noch ehrgeizig; aber es hält die bei der Stange, die die Westintegration schneller wollen, und beschwichtigt gleichzeitig diejenigen, denen vor den Folgen für die ukrainische Wirtschaft bange ist. Mit diesem Programm kleiner Schritte nach Westen kommt der Kandidat Poroschenko dem situativen Konservatismus der meisten Ukrainer entgegen. Viele ziehen letztlich ein Übel, das sie kennen, unkalkulierbaren Veränderungen vor.

*** Aus: junge welt, Mittwoch 23. April 2014


Kriegsspiele

Deutsche Medien und Ukraine-Krise

Von Arnold Schölzel ****


Mit demselben Titel »Putins Optionen« kommentierten Frankfurter Allgemeine (FAZ) und Süddeutsche Zeitung (SZ) am Dienstag an hervorgehobener Stelle die Entwicklung im Konflikt zwischen Rußland und dem Westen. Die beiden Blätter gaben zwar zwei verschiedene Personen als Autoren an, zufällig ist die identische Überschrift aber nicht. Zum einen haben es deutsche Medienschaffende lange vor Beginn der akuten Krise um die Ukraine zum Prinzip gemacht, sich den Kopf des russischen Präsidenten zu zerbrechen.

Zum anderen geht es um eine weitere Zuspitzung: Man redet wieder über Krieg gegen Rußland. 69 Jahre nach dem Sieg der Roten Armee über die Militärmacht des deutschen Imperialismus, nach 27 Millionen Toten in der Sowjetunion und »verbrannter Erde« vor allem in der Ukraine ist es wieder soweit. Die Sprache des »Fall Barbarossa« hat seit längerem Eingang in Äußerungen deutscher Politiker und Journalisten gefunden. Am Dienstag vergangener Woche schwadronierte z.B. der FDP-Europaabgeordnete Alexander Graf Lambsdorff im Deutschlandfunk von Rußland als »Koloß auf tönernen Füßen«. Andere tun es ihm nach.

Am gestrigen Dienstag zogen die FAZ- und SZ-Kommentatoren aus diesem geistigen Status quo die Konsequenz. Bei Jasper von Altenbockum hieß es in der FAZ, es sei »eine Schwäche der westlichen Europäer, daß sie nichts eilfertiger ausschlossen als ›militärische Optionen‹«. Putin müsse »im unklaren« gelassen werden, »was er zu erwarten hat«. Stefan Ulrich verfiel in der SZ auf die klassische »Präventiv«lüge: »Wladimir Putin marschiert, der Westen reagiert.« Hitler kam Stalin schließlich auch nur zuvor. Diesmal haben NATO und EU viele Jahre länger als damals gebraucht, um mit ihren Armeen nach Osten vorzurücken. Aber mit dem EU-Assoziierungsabkommen, dessen Nichtunterzeichnung angeblich Auslöser für die Proteste in Kiew war, kam endlich das Kommando »Vorwärts«. Es sieht in Artikel sieben die »schrittweise Konvergenz« auf dem Gebiet von Außen- und Sicherheitspolitik vor. Im Klartext: Die Ukraine soll Teil des Militärapparates Westeuropas und damit des Atlantikpaktes werden.

Wo auf diese Weise nur »reagiert« wird, können die wildesten Kriegshetzer der gegenwärtigen deutschen Politik nicht zurückstehen. Die beiden Zeitungen waren gerade erschienen, da ließ die Spitzenkandidatin der Grünen zu den Europawahlen, Rebecca Harms, im Deutschlandfunk verlauten: Der Aufbau der NATO an der EU-Ostgrenze sei »falsch«. Gerade wenn die »militärische Option« ausgeschlossen sei, »dann kann man auch nicht die ganze Zeit mit der NATO innerhalb der EU-Staaten operieren.« Im Klartext: Die muß rein in die Ukraine.

Wer so redet, weiß, was zu tun ist: Am Dienstag brach ein Kriegsschiffverband aus Kiel auf, um »den baltischen Staaten den Beistand der NATO zu versichern«. Nur eine Reaktion.

**** Aus: junge welt, Mittwoch 23. April 2014 (Kommentar)


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