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Granaten auf Wohnhäuser

Kiew verschärft Angriffe gegen Ostukraine. Bis zu 100.000 Männer sollen neu rekrutiert werden. Straßenkämpfe in Donezker Vorstädten

Von Reinhard Lauterbach *

Bei den Kämpfen um den – ehemaligen – Flughafen von Donezk scheinen beide Seiten eine militärische Entscheidung erzwingen zu wollen. Der ukrainische Generalstabschef, General Wiktor Muzenko, verzichtete sogar auf einen geplanten Besuch bei der NATO in Brüssel, um die »Antiterroroperation« im Donbass persönlich zu leiten. Die ukrainische Seite behauptete, das neue Terminal des Flughafens von den Aufständischen zurückerobert zu haben. Sollte dies trotz des Dementis von Seiten der Volksrepublik Donezk zutreffen, konnte sich die ukrainische Seite ihres Besitzes nicht lange freuen. Am Montag stürzte der ganze erste Stock des Gebäudes nach zahllosen Granattreffern ein.

Inzwischen hat sich der Schwerpunkt der Kämpfe auf die westlich und nördlich des Flughafens gelegenen Ortschaften Peski und Awdejewka verlagert. Beide waren am Dienstag Schauplatz von Straßen- und Häuserkämpfen. Jede Seite berichtete über schwere Verluste des jeweiligen Gegners. Die Eroberung von Awdejewka ist für die Aufständischen auch wichtig, weil der Ort nahe der Straße in die 300.000-Einwohner-Stadt Gorlowka liegt, das zweitwichtigste Zentrum des Aufstandsgebietes. Gorlowka lag ebenso wie Donezk und etliche kleinere Ortschaften der Region weiter unter heftigem ukrainischem Artilleriebeschuss. Die Behörden der Volksrepublik Donezk berichteten von acht Toten und etwa 30 Verletzten unter der Zivilbevölkerung. Im Süden starteten Aufständische nach eigenen Angaben Angriffe im Umkreis der Hafenstadt Mariupol, um die dort eingesetzten Einheiten der Ukraine vor Ort zu binden.

In der Ukraine begann am Dienstag die inzwischen vierte Einberufungskampagne seit Beginn des Krieges. Die Militärführung will bis zu 100.000 Männer mobilisieren, angeblich im wesentlichen mit dem Ziel, eine Ablösung der an der Front kämpfenden Einheiten zu ermöglichen. Das Ausbleiben solcher Ablösungen sorgt unter den ukrainischen Truppen seit Monaten für Unmut. Die Motivation zwangsmobilisierter Männer ist jedoch auch unter ukrainischen Militärs umstritten. Im Internet tauchten zuletzt Berichte darüber auf, dass ukrainische Soldaten die Granaten ihrer Geschütze entschärften, weil sie nicht am Tod von Zivilisten mitschuldig sein wollten. Bestätigt sind solche Vorfälle aber nicht.

Kiew will das Problem einer nur teilweise kampfwilligen Armee mit einer Doppelstrategie lösen. Einerseits wurde vor einigen Tagen ein Gesetz verabschiedet, das Offizieren erlaubt, Soldaten auch mit vorgehaltener Waffe zum Kämpfen zu zwingen. Noch in der Beratung ist ein weiteres Gesetz, das es offiziell erlauben würde, sich vom Wehrdienst freizukaufen. Die Tarife sollen allerdings wesentlich höher liegen als die bisher gezahlten Schmiergelder von 800 bis 3.000 US-Dollar. Wenn das Gesetz verabschiedet werden sollte, würden nur noch Freiwillige in der Armee kämpfen. Als wollten sie diese Entwicklung vorwegnehmen, mehren sich in den letzten Tagen in den Medien der Aufständischen Meinungsbeiträge mit Hinweisen, man müsse unterscheiden zwischen den ukrainischen Arbeitern und Bauern, die zum Dienst gezwungen seien, und den Oligarchen und Faschisten, die hinter dem Krieg stünden.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 21. Januar 2015


Je suis Kiew?

Poroschenko appelliert an »Werte«

Von Reinhard Lauterbach **


»Wer Menschheit sagt, der will betrügen.« Der Satz kommt von einem, den man als Linker lieber nicht zitieren sollte. Aber wo der reaktionäre Staatsrechtler Carl Schmitt recht hatte, da hatte er recht. Was soll einem sonst dazu einfallen, wenn jemand ausgerechnet in einer vom Tauschwert und dessen Fortentwicklungen regierten Welt sagt, Europas Werte stünden nicht zum Verkauf? Also sprach Petro Poroschenko, Staatsoberhaupt der Ukraine, in einer »Zeitung für Deutschland«, die sich insbesondere dem Shareholder-Value verpflichtet weiß. Und niemand lacht ihn aus. Denn wenn im bürgerlichen Politikbetrieb Werte ins Spiel kommen, ist Argumentation nicht mehr erwünscht. Wer Werte beschwört, der will betrügen. Grüne Kriegstreiber beweisen es.

Um es kurz zu machen: Poroschenko verlangt von EU-Europa bedingungslose Solidarität und definiert sein Land deshalb in dieses hinein als »demokratische europäische Nation«. Europa müsse heute »Wir sind Ukrainer« sagen, so wie seinerzeit John F. Kennedy sich selbst zum Berliner erklärt habe. Und so wie kürzlich Millionen Franzosen unter der Parole »Je suis Charlie« demonstriert hätten. Wahrscheinlich hat ihm keiner seiner Beamten gesagt, dass die Verbform »je suis« nicht nur »ich bin« heißen kann, sondern auch »ich folge«. Und um letzteres geht es Poroschenko wirklich: das Schlamassel, in das seine »Revolution der Würde« (übrigens ein Slogan, den vor einem Jahr die faschistische Swoboda-Partei in Kiew plakatiert hat) die Ukraine gestürzt hat, nicht ausbaden zu müssen, sondern seinen Kurs der Konfrontation gegenüber dem Osten der Ukraine ohne Rücksicht auf die Folgen fortsetzen zu können. Von wegen »Politik des nationalen Dialogs, der Toleranz und des Schutzes für das Erbe verschiedener Kulturen« – das Gegenteil ist der Fall.

Nichts an Poroschenkos Slogan ist wahr: Die Behauptung, Werte stünden nicht zum Verkauf, lebt vom Wissen darum, dass das Gegenteil der Fall ist, dass Werte gerade in bürgerlicher Außenpolitik tagtäglich den Interessen weniger geopfert als angepasst werden. Dies ist die Form, in der sie wirklich existieren: als konjunkturanfälliger Überbau des Tagesgeschäfts. Über die Tragweite des Kennedyschen »Isch bin ein Börlinner« hat sich seinerzeit schon Konrad Adenauer getäuscht; Kennedy verteidigte die Rechte der USA in Westberlin und sonst nichts, weshalb er seine Panzer auf der Südseite des Checkpoint Charlie anhalten ließ. Für den seinerzeitigen Frontstadtbürgermeister Willy Brandt war diese Erfahrung der Anstoß, seine Entspannungspolitik zu konzipieren. Poroschenko fehlt diese Klugheit. Seine verzweifelte Berufung auf angeblich unverkäufliche Werte Europas verrät auch, dass er jedenfalls nicht in der Lage wäre, Europa ein Angebot zu machen, das die Koofmichs der politischen Klasse überzeugen könnte. So versucht er es mit Pathos und Lügen.

** Aus: junge Welt, Mittwoch, 21. Januar 2015 (Kommentar)


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