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Panzer gegen Demo

Ukrainische Behörden verbieten Antikriegskundgebung in Charkiw. In anderen Städten protestieren Tausende

Von Reinhard Lauterbach *

In mehreren großen Städten der Ukraine haben am Samstag Demonstrationen gegen den Krieg im Donbass stattgefunden, die größte davon in Kiew, wo etwa 3000 Menschen die Hauptstraße Kreschtschatik entlangzogen und auf dem Unabhängigkeitsplatz ihre Abschlußkundgebung veranstalteten. An der Demonstration beteiligten sich nach Agenturberichten auch aus dem Donbass zurückgekehrte Soldaten der ukrainischen Streitkräfte und Vertreter von Invalidenorganisationen. Mehr oder minder ungestört verliefen auch Antikriegskundgebungen in Dnipropetrowsk mit 1200 Teilnehmern, Cherson mit 600 Demonstranten und Nikolajew, wo etwa 1000 Menschen auf die Straße gingen. In Odessa versammelten sich einige hundert Menschen zu einem Gedenkmarsch für die Opfer des Pogroms vom 2. Mai. Vor das Gewerkschaftshaus, in dem damals Schätzungen zufolge mindestens 100 Menschen ermordet worden waren, konnten die Demonstranten jedoch nicht ziehen, weil der Weg von Neofaschisten des »Rechten Sektors« blockiert wurde. Die dem Regime nahestehende Ukrainskaja Prawda behauptete am Sonntag dagegen, die Demonstrationen habe es nie gegeben.

In Charkiw im Osten des Landes, wo die Stadtorganisation der Kommunistischen Partei der Ukraine (KPU) gehofft hatte, etwa 1500 Anhänger zu einer Antikriegsdemonstration mobilisieren zu können, mußte die Kundgebung ganz ausfallen. Kurz vor Veranstaltungsbeginn hatten die Behörden die Demonstration verboten und ließen zur Einschüchterung Panzer über den Kundgebungsplatz fahren. 23 Personen wurden nach Angaben des ukrainischen Innenministers Arsen Awakow vorübergehend festgenommen, kamen bis zum Abend allerdings wieder frei.

Charkiw, die mit 1,4 Millionen Einwohnern zweitgrößte Stadt der Ukraine, war im Frühjahr Schauplatz mehrfacher Besetzungen öffentlicher Gebäude durch Gegner der Kiewer Machthaber gewesen. Dem Regime gelang es jedoch, die Lage in seinem Sinne zu stabilisieren und zu verhindern, daß die Stadt vom Aufstand im Donbass ergriffen wurde. Gleichwohl ist nach wie vor eine gewisse Nervosität der kiewtreuen Kräfte zu spüren.

Die relativ bescheidenen Teilnehmerzahlen der Antikriegsdemonstrationen heißen nicht, daß die ukrainische Bevölkerung den Krieg mehrheitlich unterstützen würde. Wie die englischsprachige Zeitung Kyiv Post vor einigen Tagen unter Auswertung von Umfragedaten berichtete, sind nur noch 24 Prozent der Befragten dafür, den Donbass militärisch zurückzuerobern. Die Werte sind dabei umgekehrt proportional zur Entfernung von der Front verteilt: Kiew mit 38 und der Westukraine mit 35 Prozent Kriegsbefürwortern stehen nur knapp sechs Prozent gegenüber, die im betroffenen Osten für die Rückeroberung votiert haben. Umgekehrt sprachen sich unter den dortigen Bewohnern 56 Prozent für einen regionalen Sonderstatus aus, wenn dieser zum Frieden führe. Die Stimmung der Menschen in den direkt vom Aufstand erfaßten Gebieten wurde dabei nicht erfragt.

Die Waffenruhe im Donbass wird weiterhin nur teilweise eingehalten, örtlich gehen die Scharmützel weiter. Vertreter der Aufständischen berichteten, bei einem Granattreffer auf einen Linienbus bei Makejewka östlich von Donezk seien 13 Menschen getötet worden. Am Sonntag teilte das Militär der Aufständischen mit, seine Soldaten hätten einer der beiden Terminals des nach wie vor von Kiewer Truppen gehaltenen Flughafens von Donezk erobert.

* Aus: junge Welt, Montag 29. September 2014

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