Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Donezk fürchtet vor allem den "Raub am Volk"

Protest gegen Kiewer Regierung hält in der Ostukraine an

Von Ulrich Heyden, Donezk *

Die meisten Bewohner der ostukrainischen Industriemetropole Donezk scheinen eher auf den geflohenen Präsidenten Viktor Janukowitsch und Wladimir Putin als auf die Regierung in Kiew zu setzen.

»Wir sind es gewohnt, dass sich unsere Präsidenten persönlich bereichern«, meint die Lehrerin Nina, eine von 7000 Demonstranten, die sich am vergangenen Sonntag auf dem Leninplatz im ostukrainischen Donezk versammelt hatten. Einige hielten Plakate in den Händen, die den nach Russland geflohenen und am Wochenende aus der Partei der Regionen ausgeschlossenen Präsidenten Viktor Janukowitsch aufforderten, zurückzukehren und »Ordnung zu schaffen«. Auch Janukowitsch habe sich bereichert, gibt Nina zu. Aber »auch dem Volk« habe er etwas gegeben. Das Leben habe sich langsam verbessert, die Gehälter seien pünktlich gezahlt worden.

Was die neue Regierung in Kiew jedoch vorhabe, sei der reinste »Raub am Volk«, meint die 50-jährige Lehrerin. Das könne man nicht hinnehmen. Die Gaspreise für die Bevölkerung sollen ab 1. Mai in einem ersten Schritt um 50 Prozent erhöht werden. Sie als Lehrerin sei außerdem betroffen von der Streichung aller Gehaltszuschläge und der Erhöhung der Unterrichtsstundenzahl von 18 auf 24 – ohne Gehaltsausgleich. In Zukunft werde sie statt 2500 nur noch 2000 Griwna (umgerechnet 133 Euro) im Monat verdienen.

Der Protest gegen die Regierung in Kiew hält in den Städten der Süd- und Ostukraine an. Am Wochenende demonstrierten in Donezk und anderen Städten Tausende gegen eine Assoziierung der Ukraine mit der EU, für die Zollunion mit Russland und ein Referendum über die Föderalisierung des Landes. Auch die Forderung nach Autonomie der russischsprachigen Gebiete wurde laut. Demonstranten des »Russischen Blocks« trugen in Donezk historische schwarz-blau-rote Fahnen der »Donezk-Republik«, die 1918 Teil Sowjetrusslands war.

Vom Leninplatz zogen die Demonstranten zum Denkmal für die Befreier des Donbass im Zweiten Weltkrieg und legten dort rote Nelken für die vor 40 Tagen in Kiew getöteten Polizisten der Spezialeinheit Berkut nieder. »Referendum«, riefen sie und »Russland, Russland!« Es sei gut zu wissen, dass es Russland gibt, meinte einer im Zug. Auch wenn es nicht zur Vereinigung der Ostukraine mit Russland komme, sorge der große Nachbar doch dafür, dass Kultur und Sprache der Russen geschützt werden.

Nach einer Gedenkminute für die »Berkutowzy« zogen die Demonstranten zum Donezker Bahnhof, offenbar in der Absicht, ihn zu blockieren. Nur mit Aktionen des zivilen Ungehorsams könne man sich Aufmerksamkeit verschaffen, erklärte ein Organisator per Megafon.

Die Zahl der Teilnehmer an prorussischen Demonstranten sei jedoch in jüngster Zeit zurückgegangen, schätzte die Chefredakteurin des Donezker Blattes »Krjasch«, Marina Charkowa, im Gespräch mit »nd« ein. Wenn aber Gehälter gekürzt werden und Preise steigen, müsse man mit einem Wiederanschwellen der Protestwelle rechnen.

Für den Großteil der Menschen im Südosten ist Russland auch wirtschaftlich ein Partner, mit dem man sich enge Verbindungen wünscht. Renten und Gehälter sind in Russland doppelt so hoch wie in Donezk. Nicht von ungefähr verdingen sich jedes Jahr mehrere Millionen Ukrainer als Gastarbeiter in Russland.

Dass es an der ukrainisch-russischen Grenze in den letzten Wochen zu Schwierigkeiten bei Verwandtenbesuchen kam, beunruhigt viele Menschen. So berichtet Julia, eine Angestellte, ihre Schwester aus Südrussland habe sie zum 8. März besuchen wollen, sei aber von ukrainischen Grenzbeamten abgewiesen worden. Auch das Gerücht, ukrainische Grenzer würden die Pässe von Bürgern zerreißen, die Verwandte in Russland besuchen wollen, macht die Runde.

Wer heute in der Ukraine den Fernseher einschaltet, sieht rechts oben eine ukrainische Flagge und darunter die Worte »Einiges Land«. Doch wie die Regierung in Kiew die Einheit mit dem Südosten des Landes herstellen will, ist unklar. Dort fühlt man sich durch die Abschaltung russischer Fernsehkanäle und die drohende Abschaffung des Russischen als zweite Amtssprache diskriminiert. Die Regierung in Kiew sei durch einen Staatsstreich an die Macht gekommen, ist die weitverbreitete Meinung. Außerdem wolle man sich von den »Faschisten«, die in der Kiewer Regierung sitzen, keine Vorschriften machen lassen. Schon Väter und Großväter hätten im Zweiten Weltkrieg gegen die Nazikollaborateure in der Westukraine gekämpft. Deshalb sei auch heute die Devise: »Der Faschismus kommt nicht durch.«

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 1. April 2014


Nein zum Faschismus

Demonstration gegen rechtsextremistische Umtriebe in Kiew in der Ostukraine

Von Peter Wolter, Donezk **


Rund 8000 russischsprachige Ukrainer haben am Sonntag in der im Südosten des Landes gelegenen Stadt Donezk gegen die faschistischen Umtriebe in der Hauptstadt Kiew demonstriert. Ausgangspunkt war eine Kundgebung vor dem Lenin-Denkmal im Stadtzentrum, zu der diverse Parteien aufgerufen hatten, darunter die Kommunistische Partei der Ukraine. Über der Menge wehten zahlreiche russische Flaggen und Fahnen von Parteien und Bewegungen, mehrere Demonstranten ließen Drachen in den russischen Nationalfarben steigen.

Viele Teilnehmer der Kundgebung trugen rote Nelken, Fähnchen oder Schleifen in den russischen Farben. Es waren auch viele rote Fahnen zu sehen, zum Teil mit Hammer und Sichel. Zahlreiche Demonstranten trugen selbstgemalte Plakate mit Losungen wie: »Nein zum Faschismus« oder »USA und EU – Hände weg von der Ukraine!«. An einem Kreuz am Rande des Lenin-Platzes legten Demonstranten Blumen nieder: An dieser Stelle war nach Aussagen von Donezker Bürgern wenige Tage zuvor ein junger Russe von Faschisten ermordet worden. Laut Berichten einheimischer Medien kamen die Täter aus der Westukraine und waren Angehörige des »Rechten Blocks«.

Fast alle Kundgebungsredner betonten, daß sie zwar russischer Abstammung, aber dennoch Ukrainer seien und das auch bleiben wollten. Das Grundproblem ihres Landes sei, daß dessen Wirtschaft durch »Oligarchen« ruiniert worden sei. Die dadurch entstandenen sozialen Spannungen würden von den USA und deren Geheimdiensten genutzt, um das Land zu destabilisieren und eine NATO-freundliche Regierung zu installieren. Polizei und Miliz hielten sich deutlich zurück – ganz offensichtlich gaben sich beide Seiten Mühe, die Lage nicht weiter zu eskalieren. Erst vor kurzem hatten Demonstranten in diversen Städten des russischsprachigen Südostens Rathäuser besetzt und statt der ukrainischen die russische Flagge aufgezogen. Die unnachgiebige Haltung des russischen Präsidenten Wladimir Putin gegenüber den Forderungen von NATO-Politikern fand Beifall: In Sprechchören hieß es immer wieder: »Putin – Prachtkerl!«

Vom Lenin-Platz aus zogen die Demonstranten durch die Innenstadt zum Denkmal für die Opfer des Großen Vaterländischen Krieges. Nach jW-Beobachtungen gab es unterwegs keine Provokationen oder Zusammenstöße mit nationalistischen Ukrainern – im Gegenteil: Zahlreiche Autofahrer, die wegen der Demonstration anhalten mußten, hatten ohnehin schon russische Fahnen im Wagen. Ein Fahrzeug wurde gesichtet, das komplett in weiß-blau-rot lackiert war.

Das Denkmal liegt direkt neben dem riesigen und hochmodernen Stadion von Schachtar Donezk, gegenüber steht das Luxushotel Victoria – beides gehört dem Oligarchen Rinat Leonidowitsch Achmetow, der Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) erst kürzlich zu einer Audienz empfangen hatte. Er kommt aus einfachen Verhältnissen, sein Vater war Bergarbeiter – heute gehören ihm die ehemals volkseigenen Bergwerke, zahlreiche Banken und Gebäude in der Stadt .

Im Gespräch mit jW kritisierten mehrere Demonstrationsteilnehmer, daß es aus Deutschland so gut wie keine Solidarität mit denen gebe, die – wie sie – gegen den Faschismus antreten. Die Rede zum Thema Ukraine, die der Linken-Fraktionschef Gregor Gysi im Bundestag gehalten hatte, fand durchaus Beifall. Allerdings, so warf eine ehemalige Stadtverordnete der Kommunistischen Partei ein, wäre es angebracht, daß sich die Linkspartei auch aktiv in den Kampf gegen den ukrainischen Faschismus einbringe. Es wäre eine große Unterstützung, sagte sie, wenn ein Redner oder eine Rednerin der Linkspartei auf einer Kundgebung ein Grußwort spräche.

Der anfangs lautstarke Zug wurde immer stiller, je näher er dem Denkmal kam. Schweigend legten die Demonstranten ihre roten Nelken vor den Gedenktafeln für die Partisanen und die Soldaten der Roten Armee ab, die im Krieg gegen den deutschen Faschismus ihr Leben lassen mußten.

** Aus: junge Welt, Dienstag, 1. April 2014


»Es ist doch verlockend, dort mitzumachen«

50 bis 100 Euro pro Tag: Rechte Aktivisten auf dem Kiewer Maidan werden aus dem Ausland bezahlt. Gespräch mit Alexej Smorgunow ***

Alexej Smorgunow ist Bankangestellter in der ostukrainischen Stadt Donezk.

Die gewalttätigen Proteste auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew werden im Westen begrüßt – was sagt die russischsprachige Bevölkerung im Südosten des Landes dazu?

Der allergrößte Teil der Menschen bei uns ist weiterhin für eine einheitliche Ukraine. Natürlich war es nötig, den bisherigen Präsidenten Wiktor Janukowitsch und seine Anhänger zu entmachten – aber bitte nicht mit diesen Methoden. Wir im Südosten – also in Charkow, Donezk, Lugansk usw. – waren immer für eine friedliche Lösung unserer Probleme. Aber die Leute, die sich im »Rechten Sektor« gesammelt haben, sehen das anders. Es wäre interessant zu erfahren, wer ihnen diesen Spielraum zugestanden hat und woher sie die Waffen haben.

Viele Menschen im Südosten fordern ein Referendum über den künftigen Status ihrer Region – analog zur Krim, die den Anschluß an Rußland beschlossen hat. Wäre das eine Lösung?

Keineswegs. Rund 80 Prozent der Bevölkerung bei uns sind der Meinung, daß unsere Steuern zunächst für die Lösung unserer Probleme eingesetzt werden sollten. Es gibt viele Zustände, die zum Himmel schreien: Das Bildungswesen siecht dahin, unsere Rentner haben kaum genug zum Überleben. Leider versickern die Steuern in Kiew, das Spiel machen wir nicht mehr mit.

Aber gibt es nicht auch in Ihrer Region Mitbürger, die Sympathien für die Besetzer des Maidan haben?

Für manche Arbeitslose ist es verlockend, dort mitzumachen. Da kann man richtig Geld verdienen, je nachdem, welche Aufgabe einem in einer der dortigen Hundertschaften zugeteilt wird – das bringt etwa 50 bis 100 Euro pro Tag. Entfernte Verwandte von mir waren auch dort, nach einer Woche kamen sie freudestrahlend mit 1000 Euro zurück. Ich vermute, das Geld kommt aus den USA.

Besuchern aus dem Ausland fällt auf, daß in den großen Städten riesige Marmorpaläste stehen, die im Besitz von Milliardären sind, den sogenannten Oligarchen. Wie steht es um die einfache Bevölkerung?

Beschissen. Viele Mitbürger leben von Krediten, die sie mit hohen Zinsen zurückzahlen müssen. Daran verdienen auch wieder die Oligarchen, weil ihnen die Banken gehören. Wer einen guten Job hat, kann umgerechnet zwischen 200 und 500 Euro im Monat verdienen. Ich selbst arbeite in einer Bank und bekomme etwa 400 Euro. Im Durchschnitt sind es nur 280 Euro.

Auf dem Maidan war immer wieder zu hören, daß die Ukrainer endlich »nach Europa« wollen.

Mit dem Begriff »Europa« verbinden viele, daß man dort besser lebt, daß es dort bessere Renten und eine ordentliche Ausbildung gibt. Sie haben aber nur Deutschland, Österreich, die Schweiz oder Norwegen im Blick und nehmen nicht zur Kenntnis, daß es vielen Menschen in Griechenland, Spanien und Italien genau so schlecht geht wie uns. Oder noch schlechter.

Der Westen will der Ukraine mit Milliardenkrediten auf die Beine helfen. Wie ist Ihr Land bisher mit derartigen Zahlungen verfahren? Es wäre wunderbar, wenn wir Kredite für die Entwicklung der Wirtschaft und andere Aufgaben bekämen. Alle wären begeistert, weil sich dadurch vieles verbessern könnte – die Löhne oder die Renten zum Beispiel. Den Rentnern geht es hier besonders schlecht, die bisherigen Regierungen haben nämlich den Rentenfonds ausgeplündert. Die Gefahr besteht, daß es mit diesen Krediten wie gewohnt weiter geht: ein großer Teil davon wandert in die Taschen derjenigen, die an der Macht sind. Erfahrungsgemäß verschwinden auf diese Weise 40 bis 50 Prozent der Summe. Kredite machen nur dann Sinn, wenn sie für konkrete Projekte erteilt und ihre Verwendung streng kontrolliert wird.

In westlichen Medien heißt es immer wieder, die Proteste der russischsprachigen Bevölkerung würden von Moskau organisiert mit Hilfe eingeschleuster Demonstranten. Was ist da dran?

Das ist Blödsinn. Sie waren doch am Sonntag selbst bei der großen Kundgebung auf dem Lenin-Platz von Donezk dabei. Haben Sie etwa Busse mit russischen Kennzeichen gesehen? Das waren alles unsere Leute. Solche Behauptungen gehören zu dem Propagandakrieg, der gegen uns geführt wird. Es gibt hier zwar die Partei »Russischer Block«, die gute Verbindung in die Russische Föderation hat – das ist es aber schon. Sie wollen vor allem organisiert gegen die Faschisten vorgehen.

Interview: Peter Wolter

*** Aus: junge Welt, Dienstag, 1. April 2014


Zurück zur Ukraine-Seite

Zur Ukraine-Seite (Beiträge vor 2014)

Zurück zur Homepage