Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Katastrophe mit Ansage

Zivilbevölkerung des Donbass unter Dauerfeuer. Kiew fordert zur Flucht auf. Drohende Umweltzerstörung wegen Beschusses von Chemiefabrik

Von Reinhard Lauterbach *

Die ukrainischen Regierungstruppen haben am Montag eine neue Offensive auf Donezk gestartet. Starke Panzerverbände versuchten, mehrere Vorstädte der regionalen Metropole zu erobern. Sie wurden jedoch nach Angaben der Aufständischen gestoppt. Diesen kommt offenbar zugute, daß sie vor einigen Tagen, als ukrainische Truppen aus einem Kessel im Süden des Donbass ausgebrochen waren, große Mengen an schweren Waffen zurückgelassen haben, die von den Aufständischen übernommen wurden. Auch an der Nahtstelle zwischen den Bezirken Donezk und Lugansk hat sich die Lage offenbar im Sinne der »Volksrepubliken« stabilisiert. Dort war es am Samstag den Kiewer Truppen vorübergehend gelungen, die strategisch wichtige Stadt Krasnyj Lutsch zu erobern.

Immer schlimmer wird die Lage der Zivilbevölkerung in den belagerten Städten des Donbass. Donezk und Gorlowka liegen praktisch unter pausenlosem Beschuß aus Artillerie und Raketenwerfern. In Gorlowka kommen die Bewohner nach Berichten von Reportern kaum noch aus den Kellern heraus. Die noch erhaltenen Luftschutzräume aus sowjetischen Zeiten sind inzwischen reaktiviert worden. Die Versorgungslage verschlechtert sich zusehends, die Preise für Lebensmittel und Benzin steigen. An den Busbahnhöfen versuchen offenbar Tausende von Menschen, Fahrtgelegenheiten aus dem Kampfgebiet zu ergattern; die Eisenbahn hat ihren Betrieb weitgehend eingestellt. Der Kiewer Nationale Sicherheitsrat forderte die Bewohner auf, die Städte schnellstmöglich zu verlassen. Ein Ziel dieser Aufrufe ist sicherlich, in den »Volksrepubliken« Panik zu verursachen und die Verteidigung zu desorganisieren; aber mit diesen Drohungen sind die Aussagen der ukrainischen Regierung, man greife keine zivilen Ziele an, zumindest stark relativiert.

Nach Angaben aus Kiew haben in den letzten Wochen etwa 70000 Bewohner des Donbass in den von Kiew kontrollierten Landesteilen Zuflucht gesucht. Die Unterbringungsmöglichkeiten gingen zu Ende, teilten die ukrainischen Behörden mit. Auf der russischen Seite ist das Problem ungleich größer. Der russische Flüchtlingsdienst meldete am Montag, allein über das Wochenende seien rund 51000 Bewohner des Donbass auf russisches Territorium geflohen. Sollte es tatsächlich zu einem Sturm auf die Städte Donezk, Gorlowka und Lugansk kommen, befürchtet Rußland einen Zustrom von bis zu einer Mil­lion Menschen innerhalb von Stunden oder Tagen. Desto mehr muß eine Entscheidung des Föderalen Migra­tionsdienstes in Moskau verwundern: Er hat angeordnet, alle Übergangslager für Flüchtlinge aus der Ukraine bis spätestens zum 1. September zu schließen.

Zudem droht im Donbass offenbar eine schwere Umweltkatastrophe. Die Leitung des größten Chemiebetriebs der Ukraine, die Firma »Styrol« in Gorlowka, appellierte an die ukrainische Militärführung, den Beschuß des Betriebsgeländes sofort einzustellen. In dem Werk lagerten große Mengen hochgiftiger Vorprodukte, darunter des zur Düngemittelproduktion verwendeten Mononitrochlorbenzols, von dem ein Milligramm einen Menschen töten könne. Sollten diese Vorräte durch Beschuß außer Kontrolle geraten, drohten ökologische Auswirkungen im Umkreis von 300 Kilometern, so die Werksleitung. Betroffen wären auch Rußland und die von Kiew kontrollierten Gebiete.

* Aus: junge Welt, Dienstag 12. August 2014


Mütter rütteln an Kasernentoren

Ukrainische Frauen machen nach dritter Mobilmachung selbst mobil gegen den Krieg

Von Ulrich Heyden, Moskau **


In der Ukraine reißen die Proteste von Frauen gegen den Krieg und die schlechte Versorgung der Soldaten nicht ab.

»Wo dienen denn ihre Männer?« Der junge Mann mit schwarzer Sonnenbrille stellt seine Frage immer wieder. Dabei macht er ein Gesicht, als ob er die Antwort schon wisse. Diesen Friedensaktivistinnen aus dem ostukrainischen Charkow, die vor dem ukrainischen Parlament in Kiew demonstrierten, traut er nicht. Das Land stehe im Überlebenskampf, so die von den ukrainischen Medien und Politikern verbreitete Meinung. Verhandlungen mit den »Terroristen« kämen nicht in Frage, sonst stünden die von Moskau gesteuerten Separatisten bald in Kiew.

Doch die Friedensaktivistinnen sind sich ihrer Sache sicher. Sie halten Plakate mit der Aufschrift »Kinder! Kommt zu Euren Müttern zurück!« und auf Englisch »Mütter! Schickt Eure Söhne nicht in den Krieg!« Im Hintergrund haben sich junge Männer mit Strumpfmasken aufgestellt. Sie grölen »Ruhm der Ukraine. Tod den Feinden!«. Den Frauen wird ein Plakat entrissen. Ein Fotoapparat wird zerstört. In Kiew für den Frieden zu demonstrieren fordert Mut.

Seit Juni hält die Protestbewegung von Frauen für ein Ende des Krieges und bessere soziale Absicherung der Soldaten an. Es werden Straßen und Brücken blockiert. Die Frauen rütteln an Kasernentoren und klettern auf Militärfahrzeuge. Besonders radikal sind die Friedensdemonstrantinnen im ostukrainischen Charkow. Mitte Juni zogen 50 Frauen vor die Charkower Malischew-Panzerfabrik und riefen: »Mörder, Mörder. Zerstört die Panzer! Verkauft Euch nicht für drei Kopeken an die Junta!«.

Die noch kleine Frauen-Friedensbewegung in der Ukraine hat durch die vom ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko am 23. Juli verfügte dritte Mobilmachung Auftrieb erhalten. Die dritte Mobilmachung betrifft 20 000 Personen, die in die ostukrainischen Kampfgebiete geschickt werden können. Eine vollständige Mobilisierung – davon wären 20 Millionen Ukrainer betroffen – ist bisher nicht vorgesehen.

Die Forderungen der Mütter und Ehefrauen von Soldaten sind weit gefächert. Die Männer an der Front sollen, wie eigentlich vorgesehen, alle 45 Tage ausgewechselt werden. Viele sind aber schon seit vier Monaten ununterbrochen im Einsatz. Gefordert wird auch bessere Ausrüstung und Versorgung mit Lebensmitteln. Nur gut ausgebildete Vertragssoldaten sollen in die Ostukraine geschickt werden, nicht aber Schulabgänger nach Schnellkursen.

Die Abgeordneten der Rada, die gerade erst eine Kriegssteuer von 1,5 Prozent für alle steuerpflichtigen Privateinkommen beschlossen haben, sollten doch bitteschön auch ihre Söhne an die Front schicken, wird gefordert. »Verräter« und korrupte Beamte sollen aus den Militärstrukturen entlassen werden. Diese Leute seien für Katastrophen wie den Abschuss einer ukrainischen Transportmaschine am 14. Juni bei Lugansk durch die Aufständischen verantwortlich.

Das Ende des Krieges und Friedensverhandlungen fordert kompromisslos Viktoria Schilowa von der Bewegung »Anti Wojna« (Gegen den Krieg). Ihre blonden Haare hat die junge Frau zu einem Kranz geflochten. Ganz wie Ex-Premier Julia Timoschenko, mit der sie sonst aber keine Gemeinsamkeiten hat. Auf einer Kundgebung vor dem Büro des Roten Kreuzes rief die wortgewaltige Schilowa, in der Ostukraine gebe es keinen Krieg der Ukrainer, sondern einen »Krieg der Oligarchen«.

Im südukrainischen Nikolajew blockierten Ende Juli Ehefrauen und Mütter von Soldaten acht Stunden lang eine Brücke. Die Frauen, deren Männer in der ukrainischen 79. Fallschirmjäger-Brigade dienen, forderten die Bildung eines »Korridors«, über den ihre von den Aufständischen im ostukrainischen Gebiet Lugansk eingekesselten Männer mit Munition und Nahrungsmitteln versorgt werden.

Besonders stark ist der Protest gegen den Krieg im Gebiet Transkarpatien, dem südwestlichen Zipfel der Ukraine. Das Gebiet grenzt an Rumänien, Ungarn und die Slowakei. In Transkarpatien wohnt ein buntes Völkergemisch, darunter zwölf Prozent Ungarn und 2,6 Prozent Rumänen. Ende Juli wurden alle Straßen aus dem Gebiet Tschernovtsi nach Rumänien blockiert, berichtete das ukrainische Internetportal ua-reporter. Einen herbei geeilten Vertreter des Verteidigungsministeriums fragten die Protestierenden, warum man einfache Bauern zum Kriegsdienst einziehe und nicht professionelle Militärs.

»Sollen doch die an die Front, die den Maidan gemacht haben. Wir wollten den Maidan nicht!«, rief eine Frau an einer Straßenblockade im transkarpatischen Dorf Priprutje. Der Beamte versuchte, die wütenden Frauen zu beruhigen. Ohne Erfolg. Sie warfen die hellblauen Einberufungsbescheide ihrer Söhne auf die Fernstraße und zündeten sie einfach an.

** Aus: neues deutschland, Dienstag 12. August 2014


Kein Sieg im Osten

Klaus Joachim Herrmann über den Vormarsch der ukrainischen Armee ***

Die Armee sei bereit zur »Befreiung« von Donezk, ließ das ukrainische Oberkommando wissen. Die Rebellenhochburg im Donbass stehe vor dem Fall. Was die Kiewer Propaganda in den kommenden Stunden oder Tagen aber auch an Erfolgsmeldungen senden mag – die Eroberung und Besetzung der Millionenstadt mit Truppen der Zentralmacht, rechten und privaten Milizen sowie schwerem militärischem Gerät ist noch lange kein Sieg im Osten.

Der rückt sogar in weitere Ferne. Denn welchen fremden und eigenen Interessen die bewaffneten Rebellenformationen auch dienen mögen – der Aufstand hat Ursachen, die bleiben. Keine davon wäre mit einem Triumph der Waffen abgeschafft. Im Gegenteil. Mehr denn je fühlt sich der russisch geprägte und Moskau historisch und nicht nur per Volksabstimmung zugeneigte Donbass der Herrschaft des westlichen Kiew unterworfen. Das aber ist nicht nur ungeliebt, sondern angesichts der Kriegsopfer und Zerstörungen inzwischen zunehmend verhasst.

Statt einer »Befreiung« bleibt der Sieg der einen die Niederlage der anderen Seite. Trotz jeder Russland zugewiesenen realen und absurden Schuld hat die vorgebliche »Anti-Terror-Operation« des kriegerischen Schoko-Oligarchen im Präsidentenamt zu einer noch tieferen Spaltung des Landes geführt. Die Ukraine bleibt zwischen Ost und West hin und her gerissenen.

*** Aus: neues deutschland, Dienstag 12. August 2014 (Kommentar)


Zurück zur Ukraine-Seite

Zur Ukraine-Seite (Beiträge vor 2014)

Zurück zur Homepage