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Gunst der Stunde

Krim-Krise: Die Ukraine soll energiepolitisch stärker an den Westen gebunden werden. Deutsche Konzerne führen ihre Rußland-Geschäfte unterdessen demonstrativ weiter

Von Jörg Kronauer *

Günter Oettinger bleibt gelassen. Brüssel verschärft seine Sanktionen gegen Rußland, und da stellt sich natürlich die Frage, wie Moskau reagiert: Ist die EU, will der Interviewer von der Deutschen Welle wissen, nicht hochgradig abhängig von russischen Energierohstoffen? »Gehen hier die Lichter aus und die Heizungen bleiben kalt, wenn Europa kein Gas mehr aus Rußland bekommt?« »Es gibt keinen Grund zur Nervosität«, beruhigt der deutsche EU-Energiekommissar den Mann: »Wir haben sehr große gefüllte Speicher. Eine wochenlange Selbstversorgung wäre möglich.« Und vor allem, daran hat Oettinger schon einige Tage zuvor im Deutschlandfunk erinnert: »Die Russen haben Milliarden in Gasleitungen gesteckt.« Nord Stream etwa gehört mehrheitlich Gasprom, »und die Russen wollen ja Geld verdienen und nicht leere Gasleitungen unterhalten«, zumal sich der russische Staat zu rund 50 Prozent aus Rohstoffexporten finanziert. Es gibt also »eine gegenseitige Abhängigkeit«, stellt Oettinger kühl fest, und damit bestehen gute Chancen, daß selbst der Krim-Konflikt die Gaslieferungen nicht ernsthaft gefährdet. Tatsächlich hat Moskau die BRD ja sogar in der Zeit der Systemkonfrontation trotz heftiger Spannungen stets zuverlässig bedient.

Interessenpolitik

Beim am Freitag zu Ende gegangenen EU-Gipfel stand dennoch die Energieversorgung der Union, genauer: ihre Diversifizierung, auf dem Programm. Selbstverständlich lohnt es sich, in einer Zeit heftiger Spannungen auch heftig für die eigene Sache Lärm zu schlagen: Schließlich bleiben nicht alle so gelassen wie Günter Oettinger, und da rechnet sich so mancher Lobbyist bessere Chancen aus, in der allgemeinen Bedrohungspanik seine Interessen durchzusetzen. Müssen nicht – für den Fall, daß Moskau eben doch seine Gaslieferungen einschränkt – erneuerbare Energien nun noch stärker als bisher gefördert werden? Aber natürlich, erklärt der Bundesverband Erneuerbare Energie (BEE): »Gerade vor dem Hintergrund der Krim-Krise sollte sich Europa unabhängiger von Importen fossiler Brennstoffe aus politisch unzuverlässigen Staaten machen.« Andere Wünsche hat die europäische Eisen- und Stahlindustrie. Deren Dachverband Eurofer tönt, die Krim-Krise beweise, daß die EU ihre Erdgasversorgung endlich »diversifizieren« müsse. Fracking ist gefährlich und in einigen EU-Staaten verboten? No risk, no money: In den USA ist es gelungen, mit Hilfe der Schiefergasförderung die Erdgaspreise dramatisch zu senken – wie das Handelsblatt schreibt, allein von 2012 bis 2013 um rund 30 Prozent. Das setzt die erdgasintensiven Industrien Europas erheblich unter Nachahmungsdruck; sie nehmen die Chance, ihren Druck zu erhöhen, gerne wahr.

EU-Energiekommissar Oettinger läßt sich’s gefallen. »Wir müssen die Schiefergasoption wahren und Demonstrationsprojekte ermöglichen«, gestand er schon vor dem EU-Gipfel zu, als sich auch der deutsche Verband der Chemischen Industrie (VCI) dem Fracking-Vorstoß anschloß. Dazu wird beigetragen haben, daß die Schiefergas-Thematik gleich in mehrfacher Weise eng mit der Ukraine verknüpft ist. Zum einen besitzt das Land Schätzungen der U.S. Energy Information Administration (EIA) zufolge mit 1,2 Billionen Kubikmetern Schiefergas wohl die drittgrößten Vorräte in ganz Europa. Westliche Konzerne sind schon lange interessiert, und weil sie es sich nie mit dem Westen verderben wollte, hatte die Regierung Janukowitsch bereitwillig Förderrechte vergeben: an Shell im Januar 2013, an Chevron Anfang November 2013. Das hatte natürlich den – von Janukowitsch ebenfalls gewollten – strategischen Nebeneffekt, der weitestgehend von russischem Erdgas abhängigen Ukraine größere energiepolitische Spielräume zu verschaffen. Nebenbei: Handfesten Widerstand gegen die Vergiftung ukrainischen Heimatbodens durch einen »fremdländischen« Konzern (Chevron) leistete vor allem die faschistische »Swoboda« – im Oktober 2013 sogar per Blockade des Regionalparlaments in ihrer Hochburg Lwiw.

Das Beispiel Chevron bestätigt es: US-Energiekonzerne suchen inzwischen mit Fracking von den eigenen auf die europäischen Märkte zu expandieren. Das gilt nicht nur für die Schiefergasförderung, sondern auch für den Export. Neue Verflüssigungsterminals sollen es den Vereinigten Staaten ermöglichen, bis 2018 zum Nettoexporteur von Gas zu werden. Das hätte womöglich weitreichende weltpolitische Folgen; nicht die geringfügigste bestünde darin, daß der Erdgaspreis deutlich sinken könnte – zum Schaden von Staaten, die vom Erdgasverkauf abhängig sind, Rußland zum Beispiel. Freilich braucht’s dafür auch Käufer. »Wir brauchen neue Flüssiggasterminals«, kündigte EU-Energiekommissar Oettinger vor kurzem an: »Wir sollten überlegen, Gas auf dem Schiffswege auch aus den USA zu beziehen.« Aus Sicht Berlins wäre damit allen gedient: Das Gas würde billiger, der transatlantische Verbündete wäre zufrieden, und Rußland könnte, klar geschwächt, bei künftigen deutsch-russischen Kooperationsprojekten etwa in der Erdgasbranche keine großen Ansprüche mehr stellen.

Kontinuitäten

Diese Vorhaben sollen, geht es nach deutschen Vorstellungen, trotz allen Streits keinesfalls in Frage gestellt werden. Freilich sind in Berlin nicht alle begeistert, daß Wintershall gerade jetzt ein profitables Tauschgeschäft mit Gasprom vorantreibt: Die Kasseler BASF-Tochter sichert sich den Zugriff auf sibirische Erdgasfelder und gewährt dem russischen Konzern dafür die Kontrolle über deutsche Erdgasspeicher. Und mußte die RWE denn wirklich ausgerechnet Mitte März, auf dem Gipfel der Krim-Krise, bekanntgeben, daß sie ihre Erdölförder-Tochter Dea für 5,1 Milliarden Euro an eine Investorengruppe um den russischen Oligarchen Michail Fridman verscherbeln will? Während die Energiebranche gerade jetzt kooperative Schritte für symbolisch wichtig hält, empfinden Transatlantiker sie als überflüssige Provokation. Doch für die langfristige Perspektive zählt, was Günter Oettinger – transatlantischen Geschäften ganz gewiß nicht abgeneigt – der Deutschen Welle bestätigt hat: Energiepolitisch besteht zwischen Deutschland und Rußland eine »gegenseitige Abhängigkeit« – und das, wie der exklusive deutsche Zugriff auf russisches Erdgas zeigt, durchaus nicht zu deutschem Schaden.

* Aus: junge Welt, Samstag, 22. März 2014


Einfuhren aus dem Westen

Die Umpolung ukrainischer Gaspipelines hat begonnen

Von Jörg Kronauer **


Reverse flow« lautet das neue energiepolitische Modewort in den Beziehungen zwischen der EU und der Ukraine. Klar: Die ukrainischen Erdgaspipelines wurden gebaut, um den Rohstoff von Ost nach West zu transportieren – in die Ukraine und weiter bis nach Westeuropa. Aber: Rohrleitungen lassen sich umpolen. Dann strömt das Gas plötzlich andersrum, von West nach Ost, aus Westeuropa in die Ukraine. Das ist mit »umgekehrtem Fließen«, »reverse flow«, gemeint.

Die Umpolung ukrainischer Pipelines hat schon im November 2012 begonnen. Damals war längst klar, daß die geplante EU-Assoziierung die Ukraine in Konflikte mit Rußland treiben würde; man bemühte sich deshalb in Berlin und Brüssel um neue Optionen, Moskaus Einfluß in Kiew strategisch zu schwächen. Der Gedanke kam auf, die ukrainische Abhängigkeit von russischem Erdgas zu mindern und dem Land Gas aus der westlichen Welt zur Verfügung zu stellen. Dies war möglich, weil erstens die USA dank ihres Frackingbooms ihre Gaseinfuhren stark verringerten und zweitens Katar, der führende Flüssiggas-Exporteur der Welt, auf der Suche nach neuen Abnehmern war; es gab also ein wachsendes Angebot. Der deutsche RWE-Konzern, der schon zuvor an Vorhaben wie der Nabucco-Pipeline beteiligt war, die Rußlands Einfluß schwächen sollten, verband einmal mehr die Chance auf Profit mit antirussischer Strategie – und startete im November 2012 die erste Erdgaslieferung in die Ukraine. Polen stellte seine Röhren sofort zur Verfügung, Ungarn ebenfalls schon bald; nur die Slowakei weigerte sich noch eine Weile.

RWE hat kürzlich erklärt, an einer Ausweitung der Erdgaslieferungen in die Ukraine interessiert zu sein. Kiew, prowestlich gewendet, ist höchst erfreut. »Das ist der entscheidende Punkt: Wir können die Ukraine maßgeblich mit dem Gas aus Deutschland versorgen«, äußerte Pawlo Klimkin, der ukrainische Botschafter in Berlin, Anfang März optimistisch. Bis zu welchem Anteil das möglich sei, das könne er allerdings noch »nicht genau sagen«. Auf dem EU-Gipfel am Freitag hat Arseni Jazenjuk die Forderung wiederholt. Es sei wichtig für die Ukraine, daß das Gas »in umgekehrter Richtung« fließe, erklärte er. RWE wird’s freuen.

** Aus: junge Welt, Samstag, 22. März 2014


EU-Gipfel: »Gaskrieg« mit Rußland

»Der Europäische Rat ist besorgt über Europas große Energieabhängigkeit, insbesondere bei Gas, und fordert intensivere Bemühungen, diese zu reduzieren«, heißt es in einem Textentwurf, der in Auszügen seit etwa zehn Tagen verbreitet wurde und am Freitag dem EU-Gipfel zur Abstimmung vorgelegt wurde. »Europa muß seine Energielieferungen auf eine breitere Basis stellen, erneuerbare und andere einheimische Energiequellen ausbauen und die Entwicklung einer Infrastruktur dafür koordinieren«, heißt es weiter. Mit »anderen einheimischen Energiequellen« ist insbesondere Schiefergas gemeint, das mit der gefährlichen, giftigen Fracking-Methode aus tiefliegenden Gesteinsschichten gefördert wird. Hintergrund der Forderung, die Energieabhängigkeit vor allem von Rußland zu reduzieren, sind einerseits die Krim-Krise und das Bestreben, Rußland zu schwächen, andererseits aber auch das Bemühen vor allem US-amerikanischer Energiekonzerne, neue Fracking-Fördergebiete sowie Absatzmärkte für US-amerikanisches Schiefergas zu finden, dessen Ausfuhr die USA schon in wenigen Jahren zum Nettoexporteur von Gas machen soll. Die verabschiedete Fassung des Abschlußdokuments lag bei Redaktionsschluß noch nicht vor.

Mit gezielten Nadelstichen schützt die EU die Ukraine vor einem kurzfristigen Stopp russischer Erdgaslieferungen. Kaum bemerkt von der Öffentlichkeit hat Energiekommissar Günter Oettinger kürzlich die formelle Entscheidung verschoben, Gasprom die volle Nutzung der Pipeline »Opal« zu erlauben. Opal ist eine der Röhren, die die »Ostseepipeline« Nord Stream mit dem Erdgasnetz der EU verbinden. Solange die Röhre nicht genutzt werden kann, steckt Nord Stream bei einer Auslastung von nur 60 Prozent fest – und Gasprom hat kaum eine Chance, seine Lieferungen durch die Ukraine wirkungsvoll zu verringern. Parallel zur Verschiebung der Entscheidung über Opal hat Oettinger auch den Baubeginn der South-Stream-Röhre verzögert, die – wie Nord Stream – die Ukraine umgehen wird. »Die EU weiß, daß der Gasexport die empfindlichste Stelle des Kremls ist«, zitiert die Wiener Presse Michail Kortschemkin, den Direktor der Firma East European Gas Analysis. Zugespitzt, aber in der Sache nicht falsch urteilt Kortschemkin, »Rußland bei South Stream und Opal zu behindern«, das heiße, es zur Zurückhaltung gegenüber der Ukraine zu zwingen. (jk)




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