Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Ukraine versucht Rückkehr zum Frieden

Kompromiss zwischen Präsident und Regierungsgegnern / Verfassung von 2004 wieder in Kraft

Von Klaus Joachim Herrmann *

Mit vorgezogenen Präsidentenwahlen, einer Rückkehr zur parlamentarischen Demokratie und der Bildung eines Übergangskabinetts soll die Ukraine zurück zum Frieden finden.

Nach zermürbenden Verhandlungen über einen Kompromiss zwischen Präsident und Opposition ging es am Freitagabend in Kiew plötzlich sehr schnell. Das Parlament trat zu Beratungen zusammen. Kurz danach hieß es, mit der nötigen Mehrheit habe die Oberste Rada ein Gesetz über die Rückkehr zur ukrainischen Verfassung von 2004 verabschiedet.

Die Vermutung ukrainischer Medien, Präsident Viktor Janukowitsch könnte innerhalb von 48 Stunden wichtige Vollmachten einbüßen, wurde damit bestätigt. Ein »Kabinett des nationalen Vertrauens« soll innerhalb von zehn Tagen formiert, vor der Präsidentenwahl im Dezember eine Verfassungsreform durchgesetzt werden.

Den Weg zu diesen einschneidenden Veränderungen eröffneten Verhandlungen zwischen dem Präsidenten und den Oppositionsführern Arseni Jazenjuk (Vaterlandspartei), Vitali Klitschko (UDAR) und Oleg Tjagnibok (Swoboda). Zuletzt stimmte nach einigem Widerstand der Maidan-Rat, dem neben gemäßigten auch radikale und gewaltbereite Regierungsgegner angehören, dem Kompromiss zu.

Dieser wurde in der Nacht und dann auch tagsüber von einer EU-Delegation mit den Außenministern Deutschlands, Frankreichs und Polens, Frank-Walter Steinmeier, Laurent Fabius und Radoslaw Sikorski, sowie dem russischen Vermittler Wladimir Lukin ausgehandelt.

Wie Steinmeier einräumte, seien nicht alle Probleme nun gelöst, aber: »Das war vielleicht die letzte Chance, um einen Ausweg aus der Spirale der Gewalt zu finden.« Sikorski meinte: »Damit hat die Ukraine nun die Chance, wieder Frieden zu finden.« Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) habe parallel mit US-Präsident Barack Obama, Russlands Staatschef Wladimir Putin und EU-Partnern beraten, wie dem Blutvergießen in Kiew Einhalt geboten werden könne, ließ sie einen Sprecher in Berlin mitteilen.

Bei Zusammenstößen zwischen Regierungsgegnern und Polizei waren seit Dienstag nach offiziellen Angaben 77 Menschen getötet worden. Das Parlament setzte abends Innenminister Vitali Sachartschenko ab. EU und NATO hatten am selben Tage das ukrainische Militär noch vor einem Eingreifen in den Konflikt gewarnt, wie der griechische Verteidigungsminister Dimitris Avramopoulos nach einem Treffen der EU-Verteidigungsminister sagte.

Der Maidan bleibe besetzt, bis alle Forderungen der Opposition erfüllt seien, erklärte trotz der Vereinbarung Jazenjuk. Damit dürfte er Hoffnungen auf eine rasche Normalisierung der Situation im Kiewer Zentrum erst einmal zunichte gemacht haben. Der radikale Rechte Sektor sprach von Betrug und erklärte, er wolle die »nationale Revolution« fortsetzen. Vom Unabhängigkeitsplatz wurde hingegen von gelöster Stimmung berichtet, nachdem die Einigung bekannt geworden war.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 22. Februar 2014


Zeichen drohender Spaltung

Vor dem Hintergrund der Schlacht um die Macht zeigen sich die tiefen Risse innerhalb der Ukraine

Von Ulrich Heyden, Moskau **


Der ukrainische Präsident Janukowitsch ist bereit zu vorgezogenen Wahlen. Doch ob dieses Zugeständnis den radikalen Demonstranten reicht, ist fraglich.

Die ganze Nacht zum Freitag hatten Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier und sein polnischer Amtskollege Radosław Sikorski mit dem ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch über eine Lösung der Krise in der Ukraine verhandelt. Mit am Verhandlungstisch saß auch Wladimir Lukin, der Menschenrechtsbeauftragte des russischen Präsidenten.

»Wir haben eine wilde Nacht verbracht. Darüber könnte man einen Kinofilm drehen.« Das war alles, was Lukin am Freitagmorgen Journalisten über die Verhandlungen verriet. Lukin hat Erfahrungen auf dem internationalen Parkett. Von 1992 bis 1994 war er Botschafter Russlands in den USA. Die Kreml-kritische Moskauer Zeitung »Kommersant« kommentierte am Freitag, der Westen habe »auf dem Höhepunkt der ukrainischen Krise seine Autorität in die Waagschale geworfen, indem er versucht, den Ausgang der Auseinandersetzung zugunsten der Opposition zu wenden.« Die USA und die EU hätten die Ukraine vor die Wahl gestellt, »vorgezogene Präsidentschaftswahlen oder internationale Isolation wie bei Belarus«.

Am Freitagmittag war dann klar, dass die Verhandlungen erfolgreich waren. Der ukrainische Präsident teilte auf seiner Website mit, dass er zu vorgezogenen Präsidentschaftswahlen bereit sei. Als Frist für die Wahlen wurde dann der dezember genannt. Außerdem ist Janukowitsch bereit, innerhalb von zehn Tagen eine Regierung des »nationalen Vertrauens« zu bilden. Nach einem Treffen von Steinmeier und Sikorski mit dem Rat des Maidan, einem Gremium von 30 Personen, kam dann die Meldung, der Maidan-Rat habe dem Vertrag mit Janukowitsch zugestimmt. Auf dem Maidan gab es jedoch Sprechchöre, die den sofortigen Rücktritt des Präsidenten forderten.

Ende Januar war ein Versuch von Janukowitsch, die Opposition in Regierungsverantwortung zu locken, durch Proteste des Maidan gescheitert. Als der Fraktionsführer der oppositionellen Vaterlandspartei, Arseni Jazenjuk, am 25. Januar andeutete, er sei bereit, wie von Janukowitsch vorgeschlagen, das Amt des Ministerpräsidenten zu übernehmen, wurde er ausgepfiffen.

Alle drei Oppositionsführer – Arseni Jazenjuk, Vitali Klitschko und der Rechtsradikale Oleg Tjagnibok – sind für den Vertrag mit Janukowitsch. Doch vom »Rechten Sektor« – einem Bündnis von rechtsradikalen und nationalistischen Organisationen und Fußball-Fans – wird der Vertrag wohl kaum akzeptiert werden.

Der Rechte Sektor hatte bereits am Dienstagmittag, als es vor dem ukrainischen Parlament zu Straßenschlachten kam und sieben Polizisten durch Schüsse getötet wurden, über das Netzwerk vkontakte.ru dazu aufgerufen, dass »alle Personen, die Waffen haben«, in die Innenstadt kommen sollen, »um die Menschen« vor dem Regime »zu schützen«.

Seit Dienstag werden nicht nur Demonstranten durch Schusswaffen getötet, sondern auch Polizisten. So berichtete der »Kommersant«, dass am Donnerstag um 11.10 Uhr 20 Polizisten auf dem Maidan von Scharfschützen verletzt wurden.

In Kiew hatte das Innenministerium am Donnerstagnachmittag erstmals offiziell Waffen an die Polizisten ausgegeben. Doch während der Straßenschlacht vor dem Parlament am Dienstag veröffentlichte das Innenministerium Fotos, auf denen Demonstranten mit Pistolen und Gewehren auf ihre Gegner zielen.

Dass sich die Spaltung der Ukraine in einen Ost- und Südteil auf der einen und einen Westteil auf der anderen Seite vertieft, ist angesichts der bürgerkriegsartigen Auseinandersetzungen nicht verwunderlich. Der russische Fernsehkanal Rossija 1 zeigte Videos von Exzessen in der Westukraine. Die Gewalt des Mobs richtet sich auch gegen Büros der Kommunistischen Partei und der Partei der Regionen. Mehrere Lenin-Denkmäler in der Westukraine wurden umgestürzt. In der Ostukraine erklärten dagegen mehrere Gebietsverwalter und Bürgermeister, sie würden den »Banderowzi« (Anhänger des westukrainischen Nationalisten Stepan Bandera, 1909-1959) den Zutritt zu ihrer Region »mit allen Mitteln« verweigern. Auf der Krim, die Chruschtschow 1954 der Ukraine »geschenkt« hatte, werden die Stimmen von Politikern lauter, die bei einer Zuspitzung einen Wiederanschluss der Halbinsel an Russland fordern.

** Aus: neues deutschland, Samstag, 22. Februar 2014


Wackliger Kompromiß

Ukraine: Präsident Janukowitsch macht Zugeständnisse. Deutschland und Polen vermitteln Übereinkunft mit Opposition. »Rechter Block« will Kampf fortführen

Von Reinhard Lauterbach ***


Der ukrainische Staatspräsident Wiktor Janukowitsch hat angekündigt, einige Forderungen der Opposition zu erfüllen. Er sagte am Freitag mittag in Kiew, er werde vorgezogene Präsidentschaftswahlen einleiten und den Weg für eine Rückkehr zur Verfassung von 2004 freimachen. Außerdem kündigte Janukowitsch die Bildung einer Regierung der Nationalen Einheit an. Die vorgezogenen Neuwahlen sollen im Dezember 2014 stattfinden. Sie bedeuten, was Janukowitsch angeht, eine Verkürzung seiner regulären Amtszeit um drei Monate. Eine entsprechende Vereinbarung mit den Führern der parlamentarischen Opposition wurde am frühen Nachmittag in der Präsidialverwaltung unterzeichnet.

Die Zugeständnisse Janukowitschs kamen nach mehrstündigen Verhandlungen mit den Außenministern Polens und Deutschlands, Radoslaw Sikorski und Frank-Walter Steinmeier, am Donnerstag und in der Nacht zum Freitag zustande. Der ursprünglich ebenfalls nach Kiew gereiste französische Außenminister Laurent Fabius trat in der Schlußphase der Gespräche nicht mehr in Erscheinung. Der russische Menschenrechsbeauftragte Wladimir Lukin, den Präsident Putin auf Janukowitschs Bitte als Vermittler entsandt hatte, wurde von den EU-Ministern offenbar nicht einbezogen. Er weigerte sich anschließend, das Abschlußprotokoll der Gespräche mit Janukowitsch zu unterzeichnen.

Die Unterzeichnung der Vereinbarung durch die Führer der drei Oppositionsparteien, Arseni Jazenjuk, Witali Klitschko und Oleg Tjagnibok, stand mehrere Stunden lang auf der Kippe, weil die Zugeständnisse Janukowitschs insbesondere dem radikalen Flügel der Regierungsgegner nicht weit genug gingen. Die Minister Sikorski und Steinmeier mußten sich auf den Maidan bemühen, um für die Vereinbarung zu werben. Faschistenführer Tjagnibok von der »Freiheitspartei« verlangte, dem neuen Kabinett dürften weder der bisherige Innenminister noch der amtierende Generalstaatsanwalt angehören. Sprecher des »Rechten Blocks« forderten statt der Wahlen im Dezember Janukowitschs sofortigen Rücktritt. Nach der Unterzeichnung der Vereinbarung erklärte der »Rechte Block«, er fühle sich an die Vereinbarung zwischen den Oppositionsparteien und Janukowitsch nicht gebunden und werde den Kampf »bis zur Beseitigung des herrschenden Regimes« fortsetzen.

Auf dem Maidan war die Lage nach den blutigen Kämpfen vom Donnerstag am Freitag ruhig. Am Morgen gab es einen kurzen Schußwechsel in der Umgebung des Parlaments. Unbekannte hatten das Feuer auf eine Einheit des Innenministeriums eröffnet, die den Beschuß erwiderte. Verletzt wurde niemand. Es scheinen auch Provokateure am Werk zu sein: Im Internet kursiert ein Video, das einen Schützen zeigt, der nacheinander Polizisten und Demonstranten beschießt. Bis zuletzt hielt der Zustrom von Regierungsgegnern zum Unabhängigkeitsplatz an; allein aus Lwiw in der Westukraine hatten sich weitere 600 potentielle Kämpfer auf den Weg gemacht. Als großer Erfolg wurde gefeiert, daß eine Gruppe von 50 Polizisten aus dieser Stadt mit ihrem Kommandeur und ihren Waffen auf die Seite der Regierungsgegner wechselte. Die Verbitterung unter den Demonstranten war nach den Ereignissen vom Donnerstag noch gewachsen. Presseberichte zitierten Bürger mit den Worten, sie lehnten Gewalt ab; aber durch den Polizeieinsatz vom Donnerstag habe Janukowitsch eine Grenze überschritten, ab der Widerstand zur Pflicht werde.

*** Aus: junge Welt, Samstag, 22. Februar 2014


Zurück zur Ukraine-Seite

Zur Ukraine-Seite (Beiträge vor 2014)

Zurück zur Homepage