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Dreiseitige Gasgespräche

Zahlt EU Kiew die Rechnung? Ab dem Herbst möglicherweise Lieferungen aus der Slowakei

Von Reinhard Lauterbach *

In Warschau treffen sich am heutigen Freitag Vertreter der EU-Kommission, der Ukraine und Rußlands zu Gesprächen über die Gasrechnung Kiews. Die EU-Delegation wird geleitet von Energiekommissar Günter Oettinger. Auf der Tagesordnung stehen die aufgelaufene Schulden der Ukraine. Der russische Versorger Gasprom hatte sie zuletzt auf 3,5 Milliarden US-Dollar beziffert – mit rasch steigender Tendenz. Rußland hat nach dem Machtwechsel in Kiew mehrere Rabatte, die es vorherigen ukrainischen Regierungen eingeräumt hatte, zurückgenommen. Es verlangt jetzt von Kiew 486 Dollar pro 1000 Kubikmeter Gas, das ist etwa 30 Prozent mehr, als z.B. deutsche Abnehmer für den Rohstoff bezahlen. Insofern ist dieser Preis mit Sicherheit ein politischer, genau wie die ermäßigten Preise, die die Ukraine zuvor erhalten hatte. Die Kiewer Machthaber haben indessen weder Geld noch Absicht, diese Preise zu bezahlen. Allenfalls Zahlungen nach dem Janukowitsch-Rabatt seien denkbar, so Übergangsministerpräsident Arsenij Jazenjuk vor einigen Tagen. Sollte Rußland nicht bei dem ermäßigten Preis bleiben, werde die Ukraine das Nachbarland vor einem internationalen Schiedsgericht in Stockholm verklagen. Rußland seinerseits hatte zuletzt damit gedroht, Gas nur noch gegen Vorkasse zu liefern. Das würde in der Praxis mit großer Wahrscheinlichkeit bedeuten, daß sich die Ukraine an für Westeuropa bestimmten russischen Lieferungen bedient. Das wiederum hätte Rückwirkungen auf die Versorgungssicherheit in Zentral- und Westeuropa.

Auf diese Gefahr hatte zuletzt der russische Präsident Wladimir Putin in einem Brief an die Regierungschefs der 18 EU-Staaten, die Gas aus Rußland beziehen, aufmerksam gemacht. Die Warnung wurde in Brüssel offenbar ernst genommen. Die EU hat in den letzten Wochen Kiew unter Druck gesetzt, den Gaskonflikt nicht zuzuspitzen. Jetzt hat Jazenjuk angekündigt, die Ukraine werde kurzfristig etwa 2,2 Milliarden Dollar aufgelaufene Gasschulden bezahlen. Faktisch handelt es sich dabei um eine Umschuldung: das Geld kommt aus den frischen Krediten, die die Kiewer Machthaber aus Brüssel und Washington bekommen sollen. An den Schulden ändert sich nichts, nur an den Gläubigern. Für diesen Wechsel, mit dem auch das in den Forderungen liegende Druckpotential von Moskau auf Brüssel und Washington übergeht, nehmen die westlichen Geldgeber offenbar in Kauf, daß ihr Geld aller Sanktionsrhetorik zum Trotz mittelbar an Rußland fließt.

Allerdings ist die EU durchaus nicht willens, diesen Zustand auf Dauer hinzunehmen. In den vergangenen Wochen hatte Brüssel Druck auf die Slowakei ausgeübt, eine derzeit ungenutzte Pipeline für den Transport von Gas in die Ukraine freizugeben. Über diese Leitung können ab dem Herbst etwa acht Milliarden Kubikmeter Gas jährlich nach Osten gepumpt werden – rund ein Sechstel des ukrainischen Jahresverbrauchs. Ungeklärt ist noch, was für Gas das sein soll; offiziell wird zwar über Gas aus Norwegen oder eigenen Förderquellen in der EU spekuliert, aber in der Praxis wird es sich höchstwahrscheinlich wohl doch um russisches Gas handeln, das westeuropäische Abnehmer zu günstigeren Preisen beziehen als Kiew. Genau wegen der Gefahr, Moskau hierdurch vor den Kopf zu stoßen, hatte sich die slowakische Regierung lange geweigert, dem sogenannten Rückfluß (reverse flow) zuzustimmen. Die Slowakei bezieht nämlich sämtliches Gas, das sie verbraucht, aus Rußland. Erträgliche Preise erlauben ihr, die Schwerindustrie im ansonsten strukturschwachen Osten des Landes zu subventionieren. Alle slowakischen Regierungen seit der Unabhängigkeit 1993 stehen unabhängig von ihrer politischen Couleur in Brüssel unter dem Verdacht der »Russophilie«; die energiepolitischen Abhängigkeiten erklären diese Haltung.

In der Ukraine selbst sind unterdessen zum 1. Mai neue, erhöhte Gastarife für Privathaushalte in Kraft getreten. Sie sehen selbst für Kleinverbraucher mit bis zu 2500 Kubikmetern Jahresverbrauch Preiserhöhungen um etwa 50 Prozent vor; wer mehr verbraucht, zahlt noch höhere Preise. Die Preis­erhöhung im Frühjahr verhindert allerdings, daß sie sofort – und vor den Wahlen am 25. Mai – in vollem Umfang spürbar wird, da ja in den ersten Monaten keine Heizkosten anfallen. Die Preiserhöhung für die Bevölkerung war eine der Bedingungen, die die westlichen Geldgeber der Ukraine für ihre Kredite gestellt hatten.

* Aus: junge Welt, Freitag, 2. Mai 2014


17 Milliarden des IWF für die Ukraine

Föderalisten rückten im Osten vor / Armee in »voller Kampfbereitschaft« **

Die vom Staatsbankrott bedrohte Ukraine kann mit 17 Milliarden US-Dollar an Krediten rechnen, die der Verwaltungsrat des Internationalen Währungsfonds (IWF) am Mittwoch für einen Zeitraum von zwei Jahren zusagte. Eine erste Tranche von 3,2 Milliarden Dollar soll umgehend ausgezahlt werden. »Dringendes Handeln war notwendig«, sagte IWF-Chefin Christine Lagarde.

Die Hilflosigkeit der Staatsmacht gegenüber den im Osten des Landes vorrückenden föderalistischen Kräften räumte Übergangspräsident Alexander Turtschinow ein. So stürmten in der Millionenstadt Donezk Hunderte Aktivisten ein Justizgebäude und zwangen die Sicherheitskräfte zum Abzug. Turtschinow warnte zudem vor einer russischen Invasion. Die ukrainische Armee sei in »volle Kampfbereitschaft« versetzt worden. Russlands Militärattaché wurde unter dem Vorwurf der Spionage ausgewiesen.

Trotz einiger Hoffnungszeichen gab es bis Donnerstagabend keine Freilassung der Militärbeobachter aus OSZE-Staaten. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bat Russlands Präsidenten Wladimir Putin um Unterstützung. Dieser meinte laut dem Kreml im Telefonat mit Merkel, dass die Militäreinheiten aus dem Südosten der Ukraine abgezogen und ein breiter nationaler Dialog aufgenommen werden sollte, an dem »alle Regionen und politischen Kräfte« beteiligt seien.

** Aus: neues deutschland, Freitag, 2. Mai 2014


Ukrainische Verspätung

Klaus Joachim Herrmann über die Unterstützung Kiews ***

Eine der früheren Erkenntnisse in der ukrainischen Krise besagte, dass das Land dringend der Hilfe bedürfe. In seine missliche Lage war es schon länger und gerade auch deshalb geraten, weil es von den wechselnden Machthabern gründlich geplündert wurde. Die Milliarden des IWF, für die sich der Westen jetzt loben lässt, kommen dabei ziemlich genau ein halbes Jahr nach der von Russland in etwa dieser Höhe zugesagten Summe.

Eine verbreitete Erklärung für die Verspätung lautet, dass das Moskauer Angebot als billige Erpressung entlarvt werden konnte. Doch statt der Auflagen des Kreml gelten nunmehr jene der internationalen Banker. Eine der schmerzlichsten wird – was für eine düstere Ironie dieser Geschichte – ausgerechnet die kräftige Anhebung des Gaspreises sein.

Der Ost-West-Orientierungsstreit führte gerade deshalb zu seinen verheerenden Ergebnissen, weil beide Seiten auf ihre Weise der zugrunde gerichteten Ukraine Besserung verhießen und sich selbst meinten. Geworben wurde mit westlicher Freiheit einerseits und andererseits einer Art Meistbegünstigung vor allem bei der Rohstoffversorgung. Beides zugleich war von den erbittert miteinander um Einfluss ringenden Seiten nicht zu haben. Es wurde aber auch von den rücksichtslos auf das eigene Wohlergehen fixierten Mächtigen in Kiew nicht erkennbar gewollt.

*** Aus: neues deutschland, Freitag, 2. Mai 2014 (Kommentar)


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