Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Wer kuckt in die Röhre?

Russisches Erdgas soll unter Umgehung der Ukraine in die Länder der EU kommen. Neue Verhandlungen über Lieferkonditionen für Kiew

Von Jörg Kronauer *

Er ist wohl nur der Auftakt zu neuen Auseinandersetzungen gewesen, der Erdgasstreit zwischen Moskau und Kiew, der Ende Februar aufflackerte und schon nach wenigen Tagen vorläufig beiseitegelegt wurde. Auslöser war, dass Kiew am 18. Februar die Erdgasversorgung von Donezk und Lugansk eingestellt hatte und Russland mit direkten Lieferungen in die international nicht anerkannten Volksrepubliken eingesprungen war. Wer sollte die Kosten dafür tragen? Das russische Unternehmen Gasprom verwies darauf, dass die Ukraine auf ihrer territorialen Unversehrtheit bestehe, also für das Gas aufkommen müsse. Kiew erklärte, Donezk und Lugansk sollten das Geld selbst auftreiben. Gasprom, nicht bereit, erneut Außenstände in der Ukraine auflaufen zu lassen, setzte seine Lieferungen in die abtrünnigen Gebiete kurzerhand auf Kiews Rechnung, das seinerseits lautstark protestierte. Binnen weniger Tage konnte der Streit fürs erste gelöst werden – aber eben nur fürs erste: Auf Druck der EU kam man überein, Kiew zunächst unabhängig von der Frage, wer für das Donbass-Gas zu zahlen habe, weiterzubeliefern. Die Frage ist damit natürlich nicht aus der Welt. Ende März soll erneut verhandelt werden; dann steht ohnehin noch ein weiteres Problem auf dem Programm.

Dieses zweite Problem besteht darin, dass Moskau und Kiew die Lieferkonditionen für den Winter, auf die sie sich Ende Oktober einigten, bis Ende März 2015 befristeten. Wird bis dahin nichts Gegenteiliges beschlossen, dann treten die Bestimmungen wieder in Kraft, die Julia Timoschenko 2009 mit Gasprom ausgehandelt hatte. Kiew will sie durch günstigere Preise ersetzen; darüber soll – unter Mitwirkung Brüssels – gegen Ende des Monats verhandelt werden. Die Ukraine und die EU laufen sich bereits warm dafür.

Vor allem wird gerechnet. Klar ist: Der EU ist es gelungen, die Versorgung der Ukraine mit Erdgas aus dem Westen deutlich auszuweiten. Die Schubumkehr (»reverse flow«) der Pipelines, die bisher Erdgas von Ost nach West transportierten und es jetzt in die umgekehrte Richtung fließen lassen, macht Fortschritte. Im Jahr 2013 kamen von den 27,9 Milliarden Kubikmetern Erdgas, die die Ukraine importieren musste, 25,8 Milliarden Kubikmeter aus Russland und nur 2,1 Milliarden Kubikmeter aus der EU. Im Winter 2014/15 lieferten EU-Staaten schon fünf von den insgesamt 19,5 Milliarden Kubikmetern Erdgas, die die Ukraine verbrauchte. Im laufenden Jahr will Kiew nur sieben bis acht ihres – wie erhofft – dank Erdgassparens und Eigenförderung auf 20 Milliarden Kubikmeter Erdgas gesunkenen Importbedarfs aus Russland beziehen. Der Rest soll aus Richtung Westen kommen. Kann das klappen?

Die Einschätzungen sind widersprüchlich. Maroš Šefčovič, EU-Kommissar für die Energieunion, lässt sich mit der Aussage zitieren, nach der Steigerung der Erdgaslieferungen aus Polen, der Slowakei und Ungarn in die Ukraine seien die vorhandenen technischen Möglichkeiten für die Schubumkehr zunächst ausgeschöpft; es gebe keinen großen Spielraum mehr. Der slowakische Ministerpräsident Robert Fico hingegen gab sich kürzlich gewiss, er könne die »Reverse flow«-Transporte aus der Slowakei in die Ukraine von 11,5 Milliarden Kubikmetern pro Jahr weiter auf 14,5 Milliarden steigern. Man wird abwarten müssen. Unklar ist zudem, ob die Ukraine, wie geplant, ihre Eigenproduktion hinlänglich steigern kann. Der US-Konzern Chevron hat sich kürzlich aus einem Projekt zurückgezogen, das jährlich in der Westukraine bis zu zehn Milliarden Kubikmeter Schiefergas mit der umstrittenen Fracking-Methode aus dem Boden holen sollte. Für Kiews Planungen fällt diese Menge also aus.

Was aber geschieht, wenn Kiew und Moskau Ende März keine Einigung finden? Dann treten die alten Schwierigkeiten zum zigsten Male auf: Die Versorgung der EU mit russischem Erdgas, die bis heute ungefähr zur Hälfte über ukrainische Pipelines abgewickelt wird, gerät bei einem russischen Lieferstopp gegenüber der Ukraine in Gefahr. Und dann? Der Bau von »South Stream«, derjenigen Pipeline, die russisches Gas an der Ukraine vorbei direkt in die EU geleitet und die Versorgung zuverlässig gesichert hätte, ist von Moskau abgesagt worden. Mit hektischen Bemühungen reagieren inzwischen mehrere EU-Staaten Südosteuropas darauf. Bulgarien etwa mag es noch immer nicht einsehen, dass Russland sein Gas in Kooperation mit der Türkei an die türkisch-griechische und nicht an die türkisch-bulgarische Grenze transportieren will. »Wir schlagen vor, dass wir weiter über eine russische Leitung im Schwarzen Meer nachdenken«, wird Tomislaw Dontschew, der für Energie zuständige Vizeministerpräsident Bulgariens, zitiert. Daneben schlägt Sofia die Wiederaufnahme von Planungen für die gescheiterte »Nabucco«-Röhre vor: Diese solle Erdgas aus Aserbaidschan durch Georgien und die Türkei bis an die türkisch-bulgarische Grenze leiten – und damit die Abhängigkeit der EU von Gas aus Russland lindern. »Nabucco« war 2013 endgültig gescheitert – weil nicht genügend Erdgas-Lieferquellen gesichert werden konnten und weil »South Stream« die günstigere von beiden Alternativen zu sein schien.

Überzeugend klingt das alles nicht. Wieder einen anderen Weg will nun Ungarn einschlagen. Kann man nicht »South Stream« in modifizierter Form aufgreifen? Ministerpräsident Viktor Orbán hat jüngst mit seinen Amtskollegen aus Moskau und Ankara darüber gesprochen, ob man nicht, wenn Russland und die Türkei das sibirische Erdgas bis an die türkisch-griechische Grenze liefern, von dort aus eine Röhre via Griechenland, Mazedonien und Serbien bis nach Ungarn weiterbauen könne. Sie würde russisches Erdgas unter Umgehung der zwar prowestlich gewendeten, aber immer noch unzuverlässigen Ukraine in die EU bringen – ganz so, wie es die ursprünglichen South Stream-Pläne vorsahen. Allerdings bekämen mit einer South Stream-Rumpfpipeline diejenigen EU-Staaten neues Gewicht, die Berlin gegenwärtig Sorgen machen, weil sie sich deutscher Kontrolle in der Außenpolitik zumindest teilweise zu entziehen suchen, indem sie sich eigenständig Russland annähern oder zumindest damit drohen. Die Bundesrepublik wird sich das nicht umstandslos bieten lassen. Die Frage, wie die EU sich das russische Erdgas, das sie zweifellos noch braucht, mit oder ohne die Ukraine zuverlässig liefern lassen kann, ist noch lange nicht entschieden.

* Aus: junge Welt, Samstag, 7. März 2015

Reaktion: Wintershall drängt auf »Nord Stream«

Was tun, wenn Kiew und Moskau sich ums Erdgas streiten und es deshalb zu Lieferproblemen in der EU kommt? Dann muss man endlich »Nord Stream« in vollem Umfang nutzen, fordert die BASF-Tochterfirma Wintershall. Wintershall ist mit 15,5 Prozent an dem Projekt »Ostseepipeline« beteiligt und ganz und gar nicht zufrieden damit, dass die Röhre immer noch nicht ausgelastet ist – weil die EU den Betrieb der Pipeline »Opal« nur mit Einschränkung erlaubt. »Opal« soll einen Teil des »Nord Stream«-Gases in Richtung Süden weiterleiten, darf aber nur zur Hälfte befüllt werden, weil das sogenannte dritte Energiepaket der EU die strikte Trennung zwischen Pipelinebetreiber und Lieferant vorsieht. Kann man sich das noch leisten, wenn in der Ukraine Lieferunterbrechungen drohen? Natürlich nicht, heißt es bei Wintershall.

Der deutsche Konzern macht ohnehin Druck. Der Konflikt mit Russland hat ihn Ende 2014 schwer getroffen. Der Grund: Der russische Konzern Gasprom hat nach anhaltenden Schikanen aus Brüssel den Bau der »South Stream«-Pipeline eingestellt – und damit zugleich von seiner Strategie Abschied genommen, in Teilen der EU die gesamte Lieferkette bis hin zum Endkunden unter Kontrolle zu bekommen. Zu dieser Strategie gehörte der Bau von »South Stream«. Weil daraus nun nichts wird, hat Gasprom außerdem ein Tauschgeschäft mit Wintershall storniert; es hätte den russischen Konzern im Erdgashandel in Deutschland gestärkt – und dafür seinem deutschen Partner Zugriff auf bedeutende Erdgaslagerstätten in Sibirien eingeräumt. Bleibt es bei Gasproms Entscheidung, dann wird es schwer für Wintershall, in die Weltspitze der Erdgaskonzerne aufzusteigen. Man werde weiterhin in die bestehenden Projekte in Sibirien investieren, bestätigte die BASF-Tochterfirma im Februar; und nun setzt sie sich, ganz im Sinne von Gasprom, für die Vollauslastung von »Opal« und »Nord Stream« ein. Vielleicht lässt sich die russische Entscheidung gegen die Kooperation mit Deutschland und der EU ja doch noch einmal rückgängig machen? (jk)



Vilnius will eigene Wege gehen

Von Jörg Kronauer **

Litauen will als erstes Land Ost- und Südosteuropas aus dem Bezug von Erdgas aus Russland aussteigen. Das stellt die Regierung in Vilnius zumindest in den Raum. Im Oktober 2014 ist vor der litauischen Hafenstadt Klaipėda ein schwimmender Flüssiggasterminal namens »Unabhängigkeit« vor Anker gegangen. Mit ihm soll die Erdgasversorgung des Landes komplett umstrukturiert werden. Ende 2015 läuft Litauens bisheriger Liefervertrag mit dem russischen Konzern Gasprom aus, und dann will Vilnius neue Wege ohne Moskau gehen. Laufe alles glatt, dann könne man über den Terminal perspektivisch auch Estland und Lettland mitversorgen, heißt es in der litauischen Hauptstadt.

Ob aus litauischer Sicht alles glattläuft, ist allerdings noch längst nicht ausgemacht. Vilnius hat im vergangenen Jahr einen Vertrag mit der norwegischen Statoil über die Lieferung von 540 Millionen Kubikmetern verflüssigtem Erdgas geschlossen – etwa ein Fünftel seines Jahresverbrauchs. Mehr kann Statoil allerdings vorläufig nicht liefern, weil der Konzern durch andere Verträge gebunden ist. Hinzu kommt, dass die Gasverflüssigung aufwendig und deshalb nicht kostenlos zu haben ist; Flüssiggas ist gegenwärtig um rund ein Fünftel teurer als nichtverflüssigtes Gas. Vilnius wird sich die vollständige Neuausrichtung seiner Energiepolitik also ein ordentliches Sümmchen kosten lassen müssen. Die Suche nach weiteren Bezugsquellen von Flüssiggas wird dennoch fortgesetzt, bislang allerdings mit eher geringem Erfolg. Immerhin ist es dem litauischen Erdgasversorger Litgas Ende Februar gelungen, mit einer US-Firma einen Vorvertrag über die Lieferung von Schiefergas aus den Vereinigten Staaten zu schließen. Ende des Jahres könnte es losgehen.

Dabei sind die Hoffnungen auf US-Schiefergas inzwischen etwas eingetrübt. In Washington meinen manche, man solle lieber nicht so viel gefracktes Gas exportieren, um die Preise im eigenen Land niedrig zu halten und der US-Industrie einen wichtigen Standortvorteil zu sichern. Zwar werden die Flüssiggas-Exportkapazitäten ausgebaut und dürften in fünf Jahren das Volumen der russischen Gaslieferungen nach Europa erreicht haben. Doch lockt auch Asien die US-Exporteure: Dort liegt der Gaspreis wegen mangelnder Pipelineanbindung deutlich höher als in Europa, weshalb sich mit Flüssiggasexporten nach Asien mehr Geld als mit Ausfuhren in die EU verdienen lässt. Wie es mit Litauens Erdgasbezug weitergeht, ist also noch längst nicht ausgemacht.

** Aus: junge Welt, Samstag, 7. März 2015


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