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"Ein Zusammenleben ist nicht mehr möglich"

Die Linke-Abgeordneten Wolfgang Gehrcke und Andrej Hunko waren unterwegs in der Ukraine und in Russland. In einem Bericht an den Bundestagspräsidenten schildern sie jetzt ihre Eindrücke

Die Bundestagsabgeordneten Wolfgang Gehrcke und Andrej Hunko führten im November in der Ukraine und in Russland Gespräche mit Politikern, Diplomaten, Rebellen, OSZE-Vertretern, Flüchtlingen und mit Angehörigen der am 2. Mai 2014 beim Massaker im Gewerkschaftshaus von Odessa Ermordeten. In einem Bericht an Bundestagspräsident Norbert Lammert, den junge Welt hier auszugsweise dokumentiert, schildern die beiden Linke-Abgeordneten ihre Eindrücke.
Den ganzen Bericht hat die jW hier dokumentiert: www.jungewelt.de.


17. November - Briefing durch Botschafter Dr. Christof Weil in Kiew: Unterkühlt war die Stimmung während des Besuches beim deutschen Botschafter in Kiew. Während Andrej Hunko und Wolfgang Gehrcke versuchten, auch Grautöne im ukrainisch-russischen Konflikt zu finden und Ideen für politische Lösungen vorschlugen, bediente Christof Weil die Klaviatur des Kalten Krieges. Wladimir Putin habe zwei Völker (Russen und Ukrainer) auf Generationen entzweit, mit Realitätsverweigerung (bei Putin) lasse sich schwer verhandeln, die ukrainische Armee sei durch russische Agenten bis ins Mark zersetzt, die Ukraine befinde sich im Krieg.

Gespräch mit Alexander Alexandrowitsch (ukrainisches Außenministerium): Ins gleiche Horn blies auch Alexander Alexandrowitsch. Kennzeichen russischer Politik sei der Export von Korruption, Banditismus und Krieg. Auch werde Russland künftig auch über die deutsche Regierung solche Lügen wie jetzt über die ukrainische verbreiten. Russland sei nicht nur für die Ukraine, sondern für ganz Europa eine Bedrohung. Positiv sieht der Abteilungsleiter die wirtschaftliche Entwicklung der Ukraine, wenn sie sich Europa zuwende und die Kooperation mit der EU und dem IWF in Gang kommt: »Zwei bis drei Jahre wird die Ukraine etwas leiden, dann haben wir mehr Vorteile.«

Gespräch mit Igor Alekjejew (Vizevorsitzender der KP Ukraine): Abbau aller staatlichen Subventionen, Ende der kostenlosen Schulbildung, Erhöhung des Renteneintrittsalters bei Frauen um drei, bei Männern um zwei Jahre, Erhöhung des Gaspreises um 100 Prozent, des Strompreises um 40 Prozent, Wegfall des Kindergeldes, Abschaffung aller staatlichen Subventionen - die Liste der sozialen Grausamkeiten, die der stellvertretende Vorsitzende der ukrainischen KP, Igor Alekjejew, vorliest, ist lang. Diese Kürzungen seien die Bedingungen des IWF an die Ukraine für weitere Kredite. Und der ukrainische Ministerpräsident Arseni Jazenjuk habe vor Wirtschaftsführern die Erfüllung dieser Bedingungen zugesagt. »Es droht der soziale Kollaps«, so der KP-Funktionär. Auch seine Partei geht schweren Zeiten entgegen. Das Verbotsverfahren läuft, und Präsident Poroschenko, der am gleichen Tag von einem »totalen« Krieg mit Blick auf Russland gesprochen hat, brüstete sich nach dem Scheitern der Kommunisten an der Fünf-Prozent-Hürde bei den Parlamentswahlen, es sei für Ihn ein Erfolg, diese Partei erstmals nach 96 Jahren aus der Rada ferngehalten zu haben.

Gespräch mit Alexander Hug: Der Schweizer Alexander Hug ist stellvertretender Leiter der OSZE-Mission in der Ostukraine. In dieser Eigenschaft hat er das Krisengebiet mehrfach bereist. Für ihn sind die Donbass-Funktionäre auch keine »Figuren«, sondern Gesprächspartner. Aufgrund seiner Gespräche und Reisen in den Donbass hat er ein genaues Bild von der Lage. So könne man auch nicht davon ausgehen, dass es eine homogene Separatistenarmee gebe. Nein, es gebe viele verschiedene Gruppierungen, auch ganz kleine Trupps, die sich auch schon einmal gegenseitig bekämpften. Ähnlich, nicht ganz so krass, sei die Situation bei der ukrainischen Armee. Hier gebe es ein Nebeneinander zwischen Freiwilligenbataillonen und ukrainischer Armee. Und speziell einige der radikaleren Freikorps hätten nach seinen Beobachtungen öfter Probleme, sich den ukrainischen Heerführern unterzuordnen.

19. November - Flüchtlingslager in Taganrog: Es ist eigentlich ein Ort, an dem man Urlaub macht. Das Ferienlager in Taganrog, direkt am Asowschen Meer gelegen, erfüllt in diesen Tagen einen anderen, wesentlich traurigeren Zweck. Im Sommer nämlich, als Hunderttausende Menschen aus dem Donbass vor dem Bürgerkrieg geflohen sind, wurde die Anlage von der Bezirksregierung kurzerhand zum Flüchtlingslager umfunktioniert. Über 600.000 Ostukrainer, überwiegend Frauen und Kinder, suchten Schutz im Nachbarland. Und Russland gab und gibt sich alle Mühe, den Nachbarn den unfreiwilligen Aufenthalt so erträglich wie möglich zu gestalten. Die Versorgung der Menschen ist in Ordnung, die Kinder aus Donezk und Lugansk lernen zusammen mit dem einheimischen Nachwuchs in der nahegelegenen Schule. Bei Bedarf werden sie psychologisch betreut. Und dieser Bedarf ist leider viel zu häufig da. Etliche dieser Kinder, aber auch ihre Mütter haben Schreckliches gesehen und erlebt, viele sind traumatisiert und brauchen daher diese professionelle Hilfe. »Unser Hof wurde in der Nacht von der ukrainischen Armee mit Granaten beschossen, wir konnten gerade noch flüchten«, erzählt Natalia, die mit ihrer kleinen Tochter ein Zimmer im Flüchtlingsheim bewohnt. Sie weint bei ihren Ausführungen, ihr fehlt ihr Mann, der als Kommandeur in den Volksmilizen kämpfte. »Vor ein paar Wochen ist er getötet worden, heute wäre er 47 geworden«, sagt die junge Frau. Im Nachbarzimmer wohnt eine Frau mit ihrem Enkel, ebenfalls verzweifelt. »Sehen Sie mich an! Sehe ich aus wie eine Terroristin«, fragt die Frau aus Donezk in Anspielung auf die offizielle Lesart der Kiewer Regierung, die im Kampf gegen die Rebellen im Donezk-Becken einen Antiterroreinsatz sieht.

Dramatisch gestaltet sich die Lage in vielen Krankenhäusern der Ostukraine. Es fehlt am Nötigsten. »Ich kenne ein Kinderkrankenhaus in Donezk, in dem sich eine Katastrophe anbahnt. Es gibt kaum noch Medikamente, Kinder sterben, weil sie nicht richtig versorgt werden können«, erzählt Ira vom Flüchtlingskomitee des Lagers. Für dieses Krankenhaus wird eine Spendenaktion von den Abgeordneten gestartet. Was hier völlig fehlt, ist Hilfe aus Westeuropa, wir sind hier völlig auf uns allein gestellt, sagt ein Mitarbeiter der Rostower Bezirksregierung. Ein Hilfskonvoi aus Deutschland wäre eine große Sache.

20. November - Kujbischewo: Eigentlich wollten wir während unserer Ukraine-Russland-Reise die Hauptstadt der sogenannten Volksrepublik Donezk besuchen, um uns vor Ort ein Bild von der Lage zu machen und mit Verantwortlichen des vom Westen nicht anerkannten Gebildes ins Gespräch zu kommen. Aber Bedenken und die Probleme der Sicherheit ließen diesen Programmteil nicht zu. Nach Gesprächen mit Flüchtlingen, russischen Selbstverwaltungsorganen in Grenznähe, Vertretern der KPRF in Rostow hat sich die Anwesenheit deutscher Abgeordneter so weit herumgesprochen, dass bei einem Treffen mit dem Bürgermeister in Kujbischewo, wenige hundert Meter entfernt von der Grenze zum Nachbarland, auch zwei Vertreter der KP Donezk mit am Tisch sitzen. Das Treffen im Rathaus verlief am Anfang kühl. Neben Bürgermeister Alexander Kriborotow, der die Gäste aus Westeuropa argwöhnisch fragte, warum sie überhaupt hier seien, was sie denn wollten, führte Nikolaj Nikolajewitsch sen. von der KP Donezk das Wort. »Wir wollen hier in Frieden leben und arbeiten, aber sie lassen uns nicht. Die zerbomben unsere Fabriken«, so ein erzürnter Donbass-Aktivist. Sein Sohn, Nikolaj Nikolajewitsch jun. kennt den Bürgerkrieg aus eigener Erfahrung. Bis zu einer schweren Verletzung kämpfte er als Kommandeur bei der Verteidigung seines Heimatortes, einer kleinen Stadt in der Nähe von Donezk. Im Sommer erwischten ihn etliche Granatsplitter, die noch nicht alle entfernt werden konnten. Seine Einheit habe zu hundert Prozent aus Ukrainern bestanden. Allesamt Kämpfer aus seiner Stadt, die ihn zum Dank für seinen Einsatz zum stellvertretenden Bürgermeister gemacht hat. Wir wollen wissen, wie es nun weitergeht. Die Antwort von Nikolaj jun.: »Es ist zu viel Blut geflossen. Ich glaube nicht, dass es eine Chance auf ein friedliches Zusammenleben aller Ukrainer gibt.«

21. November - Treffen mit Andrej Jussow (Udar-Partei ) in Odessa: Mit seltsamen und nicht gerade rechtsstaatlich klingenden Sprüchen wartete Andrej Jussow auf. Das hochrangige Mitglied der Udar-Partei von Witali Klitschko steht im Verdacht, an den Unruhen vom 2. Mai organisatorisch nicht ganz unbeteiligt gewesen zu sein. Außerdem findet der Funktionär, dessen Partei letztendlich, so sagen Insider, ein Produkt der deutschen CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung ist, dass man dem Massaker auch etwas Positives abgewinnen könne. Schließlich sei dadurch verhindert worden, dass eine ähnliche separatistische Bewegung entstehen konnte wie in Donezk oder Lugansk. Angesprochen auf das Modell einer Kalaschnikow im Regal des Politikers antwortete Herr Jussow: »Was wollen Sie? Die Originale geben wir unseren Menschen auf ihrem Weg in die Freiwilligenbataillone mit.« Der rechte Sektor in der Ukraine umfasst weit mehr als die Parteien, über die in Deutschland dabei geredet wird.

Treffen mit Müttern der Opfer des Massakers im Gewerkschaftshaus: Die Mütter und weiteren Angehörigen von Opfern des Massakers am 2. Mai fordern eine lückenlose Aufklärung des Verbrechens. Ihr Zusammenschluss wird von Anwälten unterstützt und soll auch das Staatsversagen oder gar eine staatliche Beteiligung ermitteln. Schließlich hat es zum Beispiel nach Ausbruch des Brandes über 40 Minuten gedauert, bis die Feuerwehr - trotz sofortiger Alarmierung - vor Ort war. Und das, obwohl ihr Revier nur wenige hundert Meter vom Gewerkschaftshaus entfernt ist. Auch die Zuschauerrolle einiger Milizionäre, die bei dem Massaker vor Ort waren, muss noch genau untersucht werden. Offensichtlich waren auf den Dächern in der Nähe des Gewerkschaftshauses auch Scharfschützen positioniert, die noch bevor die Demonstranten sich in das Gewerkschaftshaus flüchten konnten, acht Menschen erschossen haben. Mit welchen Widerständen die Hinterbliebenen zu kämpfen haben, wurde beim Besuch des Platzes vor dem Gewerkschaftshaus deutlich. Unbekannte hatten in der Nacht zuvor zum wiederholten Mal die Gedenktafel mit den Fotos der über 60 Ermordeten umgerissen. Im Vorfeld des Besuches und der Kranzniederlegung durch die beiden Bundestagsabgeordneten gab es Befürchtungen, dass der Rechte Sektor die Veranstaltung massiv stören wollte. Zum Glück blieb es ruhig. Die Atmosphäre vor dem Gewerkschaftshaus in Odessa, die Blumen und Kerzen der Trauer und die niedergerissenen Gedenktafeln mit den Bildern der Opfer, ist symptomatisch für die Atmosphäre in der Ukraine. Krieg herrscht dort nicht nur in den Gebieten, wo der offene Bürgerkrieg Tausenden Menschen Leben und Gesundheit raubt.

* Aus: junge Welt, Freitag, 5. Dezember 2014


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